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Der Krieg tötet ihre Seele - Sie sich selbst
Das ”Vietnam-Syndrom” in der türkischen Armee
”Ich und meine Frau gingen an einem regnerischen Tag,
es war ein Samstag, im Stadtteil Ulus in Ankara einkaufen. Plötzlich
ertönte das Knattern automatischer Gewehre. Ich kann mich nicht mehr
erinnern, wie ich mich auf die Straße geworfen habe und in Deckung
gegangen bin. Menschen sammelten sich um mich herum. Ich weiß nicht
mehr warum, aber ich richtete mich auf. Meine Kleider waren vollkommen
schmutzig geworden. Sinnlos starrte ich den Menschen in ihre Gesichter.
Meine Ehefrau hakte mich unter den Arm, und ich fragte sie, wer uns beschossen
hat. Sie schaute mich traurig und mit merkwürdigen Gesichtszügen
an. Ich merkte erst später, daß es Geräusche von Straßenbauarbeiten
waren. Es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl, dem man ständig
ausgesetzt ist. Das Leben verliert seinen Sinn. Nachts springt man wegen
der Alpträume naßgeschwitzt aus dem Bett.” So schilderte der
Offizier Hüseyin Güclü aus Corum seine Erlebnisse in einem
Interview, daß wir 1987 im Militärstützpunkt von Kigri
in Bingöl mit ihm geführt haben.
Ali Riza Eker, der einen Monat nach Beendigung seines
Militärdienstes Selbstmord beging, ist ein Opfer der psychischen Erkrankung,
die von Medizinern als ”traumatisches Syndrom” definiert wird und im Militärjargon
die Bezeichnung ”Vietnam-Syndrom” erhielt. Damit wird eine psychische Verfassung
bezeichnet, die bei Soldaten durch Kriegserlebnisse auftritt. Es ist eine
Krankheit, die bei amerikanischen Soldaten im Vietnamkrieg als auch bei
sowjetischen Soldaten in Afghanistan auftrat und von der die türkische
Armee in Kurdistan betroffen ist. In den USA werden als Zahl einige tausend
Soldaten genannt, die die USA durch diese Krankheit verloren haben sollen,
andere wiederum reden von einigen Hundert. Wenn man sich die Praxis der
türkischen Armee in Kurdistan vor Augen führt, ist schon jetzt
zu erkennen, daß, wenn nicht heute, so doch in unmittelbarer Zukunft
die Zahl der hieran erkrankenden Soldaten mit Tausenden beziffert werden
kann. Niemand ist in der Lage den Soldaten, die Häupter, Nasen und
Ohren abschneiden, unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen Lebenschancen
einzuräumen. Nach Berichten von Ärzten, die in der von der GATA
(Militärische Medizinakademie in Gülhane) herausgegebenen Wochenzeitschrift
”Nokta” erschienen, gehen bei ihnen monatlich mindestens 20 Anträge
zur Behandlung von am ”Vietnam-Syndrom" erkrankten Soldaten ein. Sie leiden
unter großen Anpassungsschwierigkeiten. Obwohl sie keine physische
Verbindung mehr zu Kriegshandlungen haben, leben sie weiterhin als kämpfende
Soldaten. Sie bauen Schützengräben, sie halten Wache und befürchten
jeden Augenblick einen militärischen Angriff. Ein Arzt der GATA beschreibt
diese Situation und die außergewöhnlichen Erfahrungen mit dem
Bild einer unüberwindbaren Grube: ”In dieser Grube mühen sie
sich vergeblich ab, versuchen aus ihr herauszukommen, aber sie schaffen
es nicht. Geräusche, Stimmen, Bilder und alles andere was sie wahrnehmen,
wird diese Menschen ständig an ihre schrecklichen Erlebnisse erinnern.
Sogar wenn sie ihre Augen schließen oder schlafen, ist ihr Unterbewußtsein
davon geprägt. Es ist für sie unmöglich ein Leben wie vor
dem Militärdienst zu führen.
Wie war das vorherige Leben von Ali Riza Eker? Er war
der jüngste und beste Jäger seines Dorfes Mahmudiye in Balikesir.
Seine Gesundheit und physische Gestalt waren völlig normal. Er war
bis zu Beginn des Militärdienstes humorvoll, freudig und voller Lebensenergie.
Eines Tages händigten sie ihm seinen Einberufungsbescheid aus und
schickten ihn in das Kommando-Gendarmariebataillon nach Mardin. Dort machten
sie aus ihm einen Schützen des automatischen Gewehres bei den Spezialeinheiten
der 3. Abteilung. Also gaben sie ihm die Aufgabe einer Tötungsmaschine.
Er war nun ausschließlich mit dem Töten von Kurden beauftragt.
Während seines Urlaubs bei der Familie erzählte er stolz von
seinen ”Heldentaten", denn als Soldat war er genauso gut wie als Jäger.
Er hatte 30 Kurden getötet und war sehr stolz darauf. Es wird ungeklärt
bleiben, ob er tatsächlich auf sich stolz war, oder ob man ihm den
Stolz mit Zwang anerzog. In einem Brief an seinen Freund Bülent Köroglu,
der zur gleichen Zeit in Dersim seinen Wehrdienst absolvierte, schreibt
er, daß er an der berüchtigten ”Atmaca-Operation" teilgenommen
hat: ”Wir wurden aus der Brigade in Bingöl mit einem Sikorski-Helikopter
in das Gebiet eingeflogen. Das Talbecken war voller Terroristen. Ich verbarg
mich hinter einem großen Felsen. Bei dieser Operation habe ich insgesamt
1600 Schuß Munition verpulvert und mußte dreimal den Gewehrlauf
auswechseln. Ich bemerkte nicht, daß der Gewehrlauf glühte,
so daß ich mich daran verbrannte. Ich habe ununterbrochen gefeuert.
An der Stelle, die ich unter Beschuß genommen hatte, lagen später
sechs bis sieben Kadaver. Ich hätte mir gewünscht, daß
du dabei gewesen wärst. Wir sind so gut, daß Rambo gegen uns
eine Flasche ist.” Ali Riza spricht nun von Kadavern, und daß sie
Rambo übertroffen hätten. Er befindet sich in einer Sackgasse.
Während er all das tut, während er daran denkt, wie er seine
Beute vermehren kann, geht er davon aus, daß er seinem Volk und seinem
Land einen Dienst erweist. Er weiß aber nicht, daß er mit jedem
Tropfen Blut, das fließt, sein Land und Volk entwertet und entwürdigt.
Als Ali Riza dies erkennt, ist es schon zu spät. Für ihn bleibt
nur noch ein einziger Ausweg übrig: Das Gewehr gegen seine eigene
Schläfe zu richten.
”Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es passierte
in den letzten drei Monaten.” sagt sein Vater Hüsamettin Eker. Die
ersten Andeutungen machte er in einem Telefongespräch mit seiner Mutter
20 Tage vor Beendigung seines Wehrdienstes. Er sagte an diesem Tag zum
ersten Mal: ”Bereitet mein Leichentuch vor, ich werde sterben.” Dieses
Gespräch versetzte die Familie in große Besorgnis. Sie warteten
sehnsüchtig auf seine Rückkehr. Er wurde aus dem Militärdienst
entlassen und fuhr mit seinem Kamerad nach Istanbul und später nach
Balikesir, aber nicht nach Hause. Er meldete sich auch nicht bei seiner
Familie. Nach intensiver Suche fanden sie ihn schließlich verstört
in einer Kneipe. Ali Riza hatte sehr spät begriffen, daß seine
Taten nicht zum Nutzen für sein Volk und Land waren. Er redete nicht
mehr, antwortete auf Fragen nur mit einem einzigen Wort und konnte nachts
nicht mehr schlafen. Er hatte Halluzinationen, gab Pfeifsignale ab, legte
ein erfundenes Gewehr an und beschoß die Nacht. Als wäre seine
Wohnung eine Militärwache auf den Bergen Kurdistans, errichtete er
auf der Straße vor dem Haus Schützenstellungen aus Stroh. Bevor
er zum Militärdienst einberufen wurde, war er verlobt. Nach dem Militärdienst
jedoch wollte er nicht einmal mehr den Namen seiner Verlobten hören,
geschweige denn ihn aussprechen. Er interessierte sich nicht einmal für
sein Haus, das gerade im Dorf gebaut wurde. Sein Vater sagte einmal: ”Laß
uns endlich deine Hochzeit feiern!”, worauf er folgendermaßen antwortete:
”Was sagst du da Vater? Ich habe meine Verlobte getötet!” Sein Vater
sagte uns, Ali Riza habe ihm erzählt, daß am Tag vor seiner
Entlassung zwei ”Terroristinnen” gefaßt wurden. Ali Riza wurde beauftragt,
eine der beiden Frauen zu erschießen. ”Als ich den Gewehrlauf auf
sie richtete, sah ich in ihr meine Verlobte. Hätte ich nicht abgedrückt,
hätten sie mich nicht aus dem Militärdienst entlassen.” Wieviel
Menschenleben kostete die Entlassung von Ali Riza und die vieler anderer?
In einer stürmigen Nacht schlüpfte Ali Riza in das Bett seines
Bruders. Ihm erzählt er seine Beobachtungen, wie sein Freund durch
eine Mine in Stücke gerissen wurde. ”Es regnete und blitzte und er
starb”, erzählte er. Oft erzählte er auch, daß sie den
Ehreneid vor dem Unteroffizier namens Imam geben mußten. ”Bei einem
Angriff starb auch er mit weiteren acht Freunden. Ein anderer Freund beging
in Ankara Selbstmord. Nun rufen sie mich. Ich muß zu ihnen.” Er erzählte
seiner Familie, daß er während seines Wehrdienstes insgesamt
35 Menschen getötet habe und ergänzt: ”Man brachte uns dazu,
beim Töten Spaß zu empfinden. Ich weiß, daß das
nicht die Lösung ist. Die Menschen, die ich tötete, waren Menschen
wie ich auch. Aber ich war gezwungen all das zu tun.” Ali Riza weiß
nun, daß er zu den Kopfjägern gehört, daß sie ihn
dazu gemacht haben. Bei dem Prozeß, der sich in seinem Gewissen abspielt,
geht er als Verlierer hervor. Diejenigen aber, die diese Kopfjäger
schaffen, schlafen in ihren warmen Betten und vertreiben sich die Zeit
mit dem Zählen ihres durch Raub vermehrten Gewinnes. Und Ali Riza
fällt in einer Oktobernacht nach der Abrechnung mit seinem Gewissen
die Entscheidung. Er ist nicht mehr ein Kopfjäger, der 35 Abschüsse
vorzuweisen hat, sondern es sind inzwischen 36. Auf einer Hochzeit entfernt
er sich von der Feier mit der Begründung, er müsse auf die Toilette.
Erst Stunden später entdeckt seine Verlobte die Leiche. Jeder Tag
des schmutzigen Krieges bringt weitere Opfer wie Ali Riza eines war.
Oktay Yildiz |