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Berlin, 31. Oktober 2000

 

An die Redaktionen In- und Ausland / Türkei / Kurdistan / Mittlerer Osten

Pressemitteilung

In einer Erklärung vom 28.10.2000 nahm der Präsidialrat zu den aktuellen Entwicklungen im Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union Stellung. Im folgenden dokumentieren wir die deutsche Übersetzung ungekürzt:

"Die EU muss auch für die Belange der Kurden Sensibilität entwickeln!

Als einer der wichtigsten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts zeichnet sich die Überwindung von begrenzten regionalen und nationalen Strukturen hin zur Entstehung neuer Zusammenschlüsse ab. Jedoch darf dies nicht auf der Basis von Verleugnung regionaler und nationaler Realitäten geschehen. Vielmehr sollten sich diese auf einer höheren Stufe ausdrücken können. In praktischer Hinsicht stellt die Europäische Union eine der am weit entwickeltsten Einheiten dar. Zur Zeit umfasst sie vorwiegend die west-europäischen Länder und konnte nicht nur auf politischer und wirtschaftlicher, sondern auch auf kultureller Ebene eine tiefgreifende Einheit entwickeln. Mit der Aufnahme von 13 weiterer Länder wird sie einen weiteren Schritt zu ihrer Einheit unternehmen. Geographisch gesehen wird sich ihre Ausdehnung auf den gesamten europäischen Kontinent erstrecken, welche auch die Türkei und Zypern umfassen wird.

Eine eventuelle Aufnahme der Türkei ist nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Europäische Union von strategischer Bedeutung. Der Beitrittsprozess kann nicht allein auf geographischer und kultureller Basis fußen, sondern muss vorrangig auf einer gemeinsamen ideellen Grundlage beruhen. Mit der Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat auf dem EU-Gipfel von Helsinki im Dezember 1999, wurde eine neue Phase eingeleitet. Eine weiterer wichtiger Schritt wird in den nächsten Tagen erfolgen. Die EU Erweiterungskommission wird in 10 Tagen ein Dokument veröffentlichen, in dem die Aufnahmekriterien und die Anforderungen an die Türkei für eine Mitgliedschaft festgelegt sein werden. Im Gegenzug wird die Türkei ein Programm zu der Umsetzung dieser Kriterien vorlegen.

Bei der Entscheidungsfindung leisteten die Kurden einen positiven Beitrag. Mit der Erwartung, dass sich die Aufnahmekriterien der EU auf die Entwicklung der Demokratie in der Türkei positiv auswirken werden, unterstützen sie den Aufnahmeantrag. Diesem lag die Überzeugung zu Grunde, dass eine Lösung der kurdischen Frage im Rahmen der EU möglich ist. Seit dem ist ein Jahr vergangen, ohne das merkliche Fortschritte erzielt worden sind. Dies gibt Anlass zu großen Zweifeln. In diesem Zeitraum kam es zu einer Intensivierung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU. Doch sind bislang keine sichtbaren Bemühungen der Türkei zu erkennen. Insbesondere bezüglich einer Lösung der kurdischen Frage, als grundlegendster Frage der Türkei, kam es in keiner Weise zu einer realen Veränderung. Auch bei der Demokratisierung der Institutionen und der Menschenrechtslage waren keine nennenswerten Schritte zu verzeichnen. Neben der unzulänglichen Haltung der Türkei, sind auch ernsthafte Mängel in der Haltung der EU sichtbar geworden.

Die kurdische Frage ist die Frage eines unterdrückten Volkes, dem seine elementarsten Rechte nicht gewährt werden. Bei der Lösung dieser Frage spielt die Türkei eine entscheidende Rolle. So ist nicht nur die Haltung der Türkei als Aufnahmekandidat, sondern auch die der EU wichtig. Denn auch die EU ist gefordert, ihren unverzichtbaren Prinzipien von Demokratie, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung und Menschenrechten nachzukommen. Am 8. November wird sie eine gemeinsame Erklärung über den Beitritt der Türkei zur EU abgeben. Wir rufen die EU dazu auf, dass dies im Einklang mit ihren eigenen Prinzipien und Maßstäben geschieht. Demokratisierung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Minderheitenschutz, als ausgewiesene Beitrittskriterien, müssen im vollen Umfang gewährleistet sein. Hierbei wäre eine eindeutigere Haltung gegenüber der kurdischen Frage ein konkreter Schritt. Leider müssen wir feststellen, dass die EU bisher ihre Politik fast ausschließlich an ihren wirtschaftlichen Interessen und den Belangen der Türkei orientiert. Diese Haltung führte zu negativen Ergebnissen.

Wir möchten darauf hinweisen, dass die elementaren Belange der Kurden schwerer als denen anderer wiegen. Dies gründet sich auf einem schweren 15-jährigen Kampf und auf das Ausbleiben einer Antwort ihrer Lösungsbemühungen innerhalb internationaler Rechtsnormen. Es ist nicht hinnehmbar, dass in den Beitrittsverhandlungen nicht einmal das Wort Kurde zur Sprache kommt. Wenn überhaupt, wird dies nur auf der Ebene der individuellen Rechte behandelt. Eine weitere Aufrechterhaltung der türkischen Verleugnungspolitik in Verbindung der vorherrschenden Haltung der EU, die sich schwerpunktmäßig an reinen ökonomischen Interessen orientiert, führt zu keiner Lösung. Dabei besteht die Gefahr, dass auf diesem Weg weder der Beitritt der Türkei zur EU noch eine Lösung der kurdischen Frage realisiert wird.

Das kurdische Volk kann die oben genannte Haltung nicht akzeptieren. Dadurch wird die Existenz des kurdischen Volkes geleugnet und seine grundlegenden nationalen Rechte wie auch die Menschenrechte aberkannt. Die Türkei versucht ihre jahrelange Verleugnungspolitik der EU aufzuzwingen und die EU schweigt. Damit handelt die EU gegen ihre eigenen Prinzipien. Es ist bekannt, dass die Kopenhagener Kriterien, dessen Basis durch die Minderheitenrechte definiert ist, für die Erweiterung der EU als Grundlage dienen. Heute sind der Schutz von nationalen und kulturellen Minderheiten zu internationalen Maßstäben geworden. So ist es jedoch ziemlich unrealistisch, die kurdische Frage im Rahmen der Minderheitenrechte begrenzen zu wollen. Denn im Mittleren Osten bilden die Kurden nach den Arabern, Persern und Türken die viertgrößte Nation. Eine solche eine Haltung dient lediglich der Vertiefung des Problems. Wenn die kurdische Frage nicht gelöst wird sich dies auf die gesamte Region und die internationalen Kräfteverhältnisse negativ auswirken, wie es in den aktuellen Auseinandersetzungen zwischen den Palästinensern und Israelis der Fall ist.

Deshalb rufen wird die EU dazu auf, dies bei der Formulierung des Beitrittsplanes zu bedenken. Die namentliche Erwähnung der kurdischen Frage ist eine Grundvoraussetzung für eine demokratische Lösung. In aller Offenheit muss die Anerkennung der Existenz des kurdischen Volkes durch Türkei entsprechend gültiger Rechtsnormen gefordert werden. So müssen in der Türkei die Bedingungen für die freie politische, gesellschaftliche und kulturelle Äußerung der kurdischen Realität geschaffen werden.

Hierfür ist eine klare Benennung in dem Beitrittsplan eine Grundvoraussetzung. Nur auf diese weise lässt sich der eingeschlagene Kurs zum Erfolg führen. Dies liegt im gemeinsamen Interesse der EU, der Türkei und der Kurden. Andernfalls würde nicht nur die Türkei sondern auch die EU mit der kurdischen Frage weiterhin konfrontiert sein. Die Kurden haben mit ihrer Haltung schon seit dem Gipfel in Helsinki bewiesen, dass sie für einen solchen Prozess bereit sind. Bei einer positiven Haltung der EU und Türkei, wären die Kurden zu weiteren Schritten bereit. In dieser Phase ist es wichtig, dass die Öffentlichkeit und alle anderen politischen Kräfte, die Entwicklungen verfolgend entsprechend handelt. Denn jene werden über den weiteren Verlauf der Bemühungen für Frieden und Demokratie entscheidend sein. In diesem Sinne rufen wir alle Seiten auf, verantwortungsbewusst und lösungsorientiert zu handeln."