Berlin,
10. Oktober 2001
Sind die Verfassungsänderungen
in der Türkei wirklich ein Fortschritt?
Interview
mit einem HADEP-Vertreter und Hintergrundinformation über
die Bedeutung der Gesetzesveränderungen anhand einiger
Beispiele
In diesem Monat hat das Türkische Parlament in 34 Artikeln
der türkischen Verfassung einige Veränderungen vorgenommen.
Sowohl die Türkei als auch die internationalen Institutionen
(z.B. Europarat) und die internationalen Medien begrüßten
diese Veränderungen lautstark als wichtige Schritte in
Richtung Demokratisierung. Doch von vielen demokratischen
Kräften und zivilgesellschaftlichen Organisationen in
der Türkei werden diese Veränderungen nicht mit
solchem Jubel begrüßt, sondern vielmehr als oberflächliche
Korrekturen bewertet.
Im
Folgenden geben wir ein kurzes Interview mit Kemal Okutan,
Mitglied des Parteirates der HADEP, über die jüngsten
Verfassungsänderungen in der Türkei wieder. Diesem
Interview folgt eine kurzer Einblick in die Bedeutung der
o.g. Verfassungsänderungen anhand einiger konkreten Beispiele.
Frage:
Wie bewerten Sie die Verfassungsänderungen in der Türkei?
Sind diese
Veränderungen tatsächlich wichtige Schritte für
die Demokratisierung und zur Lösung der Probleme der
Türkei, wie dies von verschiedenen Seiten behauptet wird?
K. O.:
Die Teilveränderungen in der türkischen Verfassung
entsprechen nicht den Sehnsüchten der Gesellschaft nach
einer modernen demokratischen, freiheitlichen und pluralistischen
Verfassung. Wenn auch die Veränderungen im Vergleich
zu vorher eine gewisse Entwicklung darstellen, beantworten
sie nicht die Bedürfnisse der Türkei und entsprechen
nicht den sozio-kulturellen Erfordernissen des Landes. Offenbar
dienen sie allein dem Ziel, in der Phase der Vorbereitung
auf die EU-Mitgliedschaft keinen Bruch sichtbar werden zu
lassen. Deshalb wurde auch nicht auf die innere Dynamik der
Gesellschaft reagiert. Das Bedürfnis der Türkei
sind nicht kleine Teilveränderungen, sondern der Ersatz
der Verfassung vom 1982 durch eine vollständig neue Verfassung.
Frage:
Worin bewerten Sie diese Gesetzesänderungen positiv bzw.
negativ? Was hat diese Veränderungen für das kurdische
Volk gebracht?
K. O.:
Wie wir bereits erwähnt haben, können diese Veränderungen
auf den ersten Blick als positiv gesehen werden, doch erwartet
die Gesellschaft in der Türkei eine neue, moderne und
demokratische Verfassung. Auch die Kurden erwarten nichts
anderes. Es wird zwar von einem Veröffentlichungsrecht
auch in anderen Sprachen außer dem Türkischen gesprochen,
doch wird die kurdische Sprache nicht explizit benannt. Dies
ist ein Mangel, der zu praktischen Problemen führen wird.
Auch die Tatsache, dass die Todesstrafe nicht vollständig
abgeschafft wurde, stellt ein großes Hindernis für
die Demokratisierung dar. Auch müssen die Anpassungsbestimmungen
für die Teilgesetzesänderungen noch verabschiedet
werden, um wenigstens die neuen Veränderungen umsetzen
zu können.
Frage:
Inzwischen ist die Rede von einem weiteren Entwurf der Verfassungsänderung.
Es sieht so aus, als würde die Verfassung restauriert
werden, statt eine neue Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden.
Sind Sie der Meinung, dass diese Verfassung restaurationsfähig
ist?
K. O.:
Die Forderung und die Erwartung der demokratischen Kräfte
in der Türkei, in erster Linie die unserer Partei, ist
eine neue Verfassung. Der große Beitrag Anatoliens und
Mesopotamiens für die Zivilisation ist bekannt. Die Demokratische
Türkische Republik, die nur durch die Etablierung pluralistischer
Strukturen in der Türkei, in erste Linie einer neuen
Verfassung, entstehen kann, wird in der modernen Welt eine
wichtige Funktion ausüben können. Erst eine solche,
auf dem inneren Frieden basierende Demokratie wird im Stande
sein, auch einen Beitrag für den Weltfrieden zu leisten.
Nur die von uns angestrebte Rechtsreform kann die eigentliche
Sicherheit und Einheit begründen.
* * *
Bedeutung der Gesetzesveränderungen anhand einiger
Beispiele
Der siebte
Absatz des Anfangskapitel der türkischen Verfassung "Kein
Gedanke und keine Meinung darf gegenüber den türkischen
Nationalinteressen, dem Existenzprinzip, das der türkische
Staat mit seinem Hoheitsgebiet und seinem Volk ein unteilbares
Ganzes bildet, der Geschichte des Türkentums und seiner
moralischen Werte sowie gegenüber dem Nationalismus,
den Prinzipien und der Zivilisation Atatürks keinen Schutz
genießen" wurde geändert, indem "Keine
Gedanken und Meinung" mit "keine Aktivität"
ersetz wurde. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Veränderung
nur ein formelles ist, denn das Schreiben eines Buch oder
einer Kolumne, d.h. seine Gedanken mit anderen Mitteln zur
Sprache zu bringen, sich zu Versammeln und zu organisieren
stellt eine Aktivität dar. Die Artikel 13 und 14 der
Verfassung wurden auf eine ähnliche Weise wie im vorhergehenden
Beispiel geändert. Bei diesen Artikeln wurden zudem mehrere
Einschränkungen hinzugefügt. Im Artikel 26 wurde
zwar der folgende Satz gestrichen "Eine Sprache, die
das Gesetz untersagt, darf bei der Äußerung und
Verbreitung von Gedanken nicht gebraucht werden.", aber
dies hat keine praktische Bedeutung. In der Türkei gibt
es gegenwärtig viele Gesetze, die ein ähnliches
Verbot aussprechen. In vielen Artikeln der Verfassung, im
Strafgesetz und vor allem im Artikel 8 des Anti-Terror-Gesetzt
(vom 12.04.1991), ist die Gedankenäußerung als
Vergehen festgelegt. Viele Menschen, darunter Wissenschaftler
und Schriftsteller befinden sich aufgrund ihrer Gedankenäußerungen
in türkischen Gefängnissen.
Das Verbot
der kurdischen Veröffentlichungen und der kurdischen
Bildung hält weiterhin an:
In Artikel 28 der türkischen Verfassung wurde der folgende
Satz gestrichen: "In Veröffentlichungen darf keine
Sprache gebraucht werden, die durch das Gesetz verboten ist".
Auch diese Veränderung hat keinen praktischen Wert. In
einigen Presseorganen wird diese Veränderung so interpretiert,
als wäre das Verbot der kurdischen Sprache aufgehoben.
Dem ist aber nicht so. Sowohl in der Verfassung als auch in
anderen Gesetzen sind noch immer Verbote die Kurden und die
kurdische Sprache betreffend in Kraft.
Der Absatz
9 in Artikel 28 der Verfassung, in dem es heißt: "In
den Erziehungs- und Unterrichtsanstalten darf türkischen
Staatsbürgern keine andere Sprache als Türkisch
als Muttersprache gelehrt oder im Unterricht verwendet werden."
wurde nicht verändert und hat demnach weiterhin Gültigkeit.
In Artikel
4 des Gesetz Nr. 3984 über Rundfunk und Fernsehen (von
13.04.1994), heißt es: "Es ist verboten, Sendungen
in anderen Sprachen außer der Türkischen Sprache
auszustrahlen, ausgenommen die Fremdsprachen die einen Beitrag
zur Entstehung von universellen Kultur- und Wissenschaftswerten
geleistet haben."
In Artikel
81 des Parteiengesetzes Nr. 2820 (vom 22.04.1983), heißt
es: "Politische Parteien dürfen nicht behaupten,
dass es in der Türkischen Republik Minderheiten gibt,
die sich auf Religions-, Kultur-, Sekten-, Rassen- oder Sprachenunterschiede
gründen. Politische Parteien dürfen keine Aktivitäten
entfalten, um andere Sprachen oder Kulturen als die türkische
zu verbreiten und somit durch Schaffung von Minderheiten die
Einheit der Nation zu gefährden. Politische Parteien
dürfen in Satzungen, Programmen, auf Kongressen und Versammlungen
keine andere Sprache als das Türkische verwenden. Sie
dürfen Plakate, Schallplatten, Ton- und Videobänder,
Broschüren und Erklärungen in keiner anderen als
der türkischen Sprache verteilen. Sie dürfen gegenüber
derartigen Aktionen dritter nicht gleichgültig bleiben
(...)"
Wenn auch
durch jüngst vorgenommene Veränderungen in der Verfassung
die Anwendung der Todesstrafe zum Teil begrenzt wurde, so
wurde diese jedoch nicht abgeschafft.
Verkürzung
der Incommunadohaftzeit (Polizeihaftzeit), die Gleichstellung
von Mann und Frau, Schutz der Intimsphäre, Arbeitsschutz
und die zum Teil erschwerte Parteischließung sind zweifelsohne
positive und notwendige Veränderungen, die jedoch den
Lösungsweg für die eigentlichen Probleme des Landes
nicht ebnen.