Köln, den 13. April 1998
Über die Ostertage haben Äußerungen des Vorsitzenden
der Arbeiterpartei Kurdistans, Abdullah Öcalan, im kurdischen Fernsehsender
MED-TV das Interesse einer breiten internationalen Öffentlichkeit
geweckt. Der Vorsitzende der PKK hatte in einer live gesendeten Gesprächsrunde
am Freitag, den 10. April 1998, unter anderem zu einem Brief an die
türkische Generalität Stellung genommen. Weitere Beteiligte an
der Sendung waren der ehemalige Präsident des türkischen Geheimdienstes
MIT, Mahir Kaynak, und der türkische Professor Yalcin Kücük.
Wir dokumentieren im folgenden Auszüge aus dem Beitrag des Vorsitzenden
der Arbeiterpartei Kurdistans. Diese beinhalten Ausführungen zu den
vier zentralen Punkten des Briefes des Vorsitzenden der PKK an die zuständigen
Stellen in der Türkei.
Auszüge aus der Fernsehsendung ‘Panel’ in MED-TV vom 10. April
1998
Der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistan ging in dieser Sendung
unter anderem auf die Möglichkeit der Zusammenarbeit des kurdischen
und türkischen Volkes ein.
„Wenn es eine Möglichkeit des politischen Dialogs gegeben hätte,“
sagte Herr Öcalan, „hätte ich gerne bewiesen, daß wir für
die Türkei eine Bereicherung darstellen. Wir möchten mit dem
türkischen Volk Beziehungen auf einer freundschaftlichen Ebene entwickeln.“
Der Vorsitzende der PKK wies darauf hin, daß jedoch eine Grundvoraussetzung
gegeben sein müßte: die freie politische Betätigung in
der Türkei. Unter dieser demokratischen Voraussetzung sei es natürlich,
daß er auch die Wahlentscheidungen der Menschen in der Türkei
respektiere. Sollten die Menschen seine Politik negativ bewerten, so werde
er dies respektieren. Zu dem Brief an den türkischen Generalstab
führte Abdullah Öcalan aus, daß dieser Brief dazu dienen
solle, „um die Probleme zu überwinden und den Knoten der türkischen
Politik aufzulösen.“ Einige einflußreiche Persönlichkeiten
hätten Herrn Öcalan gebeten, diesen Brief zu schreiben. „Ich
habe diesen Brief nicht an bestimmte, namentlich genannte Personen gesandt,
um niemanden in Schwierigkeiten zu bringen.“
Zu den Möglichkeiten, für kriegerische Auseinandersetzungen
zeitgemäße Lösungen zu finden, verwies Abdullah Öcalan
auf die aktuelle Entwicklung in Nordirland: „Wenn Großbritannien
solche Lösungen entwickelt, warum sollten wir das nicht auch für
die Türkei anstreben? Ich meine, Lösungen sind heute sehr wichtig.
Sollte es zu einem Dialog kommen, ob indirekt oder geheim, wird es unvorstellbare
Entwicklungen geben. Ich hoffe, daß dieser Brief ein bedeutender
Schritt sein wird.“ Sein Brief an die türkische Generalität beinhalte
vier zentrale Punkte.
Erstens: „Innerhalb der bestehenden Grenzen ist Freiheit möglich.
Es entspricht nicht unserem politischen Ziel, innerhalb der bestehenden
Grenzen der Türkei eine Abspaltung herbeizuführen. Dies
hat nichts mit unserer politisch-militärischen Stärke zu tun.
Auf jeden Fall ist es realistischer und bringt mehr Nutzen, innerhalb
der bestehenden Grenzen Politik zu machen und zu Ergebnissen zu kommen.
Um die Freiheit der Kurden zu erlangen, müssen nicht unbedingt
die Grenzen verändert werden. Die Freiheit der Völker ist keine
geographische Angelegenheit, sondern es ist die Ausübung einer Lebensphilosophie,
eines freien Willens und des Selbstbestimmungsrechts. Innerhalb der
gleichen Grenzen können Völker auch eher frei sein. Die Behauptungen
sind falsch, daß die PKK nicht mehr für Unabhängigkeit
und Freiheit eintreten würde. Meines Erachtens ist die heutige
Realität dergestalt, daß Grenzveränderungen die Völker
in eine schwierige Lage bringen, denn dies kann zu einem Streit unter Blinden
führen. Es ist das Schönste, ohne Streit unter Völkern
zu einer freien Willensbildung, zur Vereinigung, zu übereinstimmenden
Interessen zu kommen und festzustellen, daß für alle das Gleiche
von Nutzen ist. Unter diesen Aspekten muß der Staat neu organisiert
werden.
Uns wird immer gesagt: „Ihr wollt diesen Staat stürzen, euer Verhalten
führt zu einer Spaltung und Vernichtung des Staates.“ Darauf habe
ich geantwortet: „Wir wollen nicht den Staat stürzen, sondern neu
strukturieren!“ Das ist sehr wichtig. Das betrifft ein Grundproblem der
Türkei. Mit (der Diskussion um das, edü.) Präsidialsystem
hat das nichts zu tun. Die Politiker packen das falsch an. Dieses Problem
läßt sich nicht mit regionaler Gesetzgebung lösen. Auch
durch die Einführung des Präsidialsystems werden sich diese Probleme
nicht lösen lassen. Es handelt sich um ein grundlegendes Problem.
Es müßte eine Neustrukturierung innerhalb des Staatswesens vorgenommen
sowie grundlegende Reformen durchgeführt werden. Nur so könnte
ein moderner Staat entstehen. Wir sagen ja nicht, daß wir den Kemalismus
zerstören oder die türkische Republik negieren sollen.
Die Welt ist nicht mehr so wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Sowohl in Europa als auch in Rußland gibt es Neustrukturierungen.
Bereits ab den 70er Jahren gab es weltweit Neustrukturierungen;
Und heute gibt es diese in allen Ländern Osteuropas. Die türkische
Republik ist der einzige Staat, der sich einer Neustrukturierung widersetzt.
Der Staat besteht derart auf seinem Status quo und hat dabei einen Stahlpanzer
gegen das Volk gerichtet, daß es für die Gesellschaft keinen
Ausweg gibt. Deshalb gibt der Staat Anlaß zur Sorge und vertieft
die Probleme. Das ist nicht nur eine Feststellung von mir.
Es müssen endlich jene für die Gesellschaft ungeeignete, nicht
normale politischen Mechanismen geändert werden. Das hat mit Zerstörung
(des Staates, edü.) nichts zu tun, sondern dient der Neustrukturierung.
(…) Was hat das türkische Volk wachsen lassen? Die Kultur, die Demokratie
und die Ökonomie haben dazu beigetragen. Vor allen Dingen braucht
das türkische Volk unbedingt eine Neustrukturierung des Staates. Die
Kurden haben ja von Anfang an bei der Gründung dieses Staates eine
aktive Rolle gespielt. Es gibt die Erklärung von Amasya, in der Mustafa
Kemal sagt: „Ich gehe diesen Weg im Namen der Kurden und Türken.“
Dies führte zu Diskussionen bis hinein in die Große Nationalversammlung
der Türkei in Ankara. (…) Dennoch wurde ihre Existenz ab 1925 geleugnet.
(…) In diesen siebzig Jahren wurde diese Politik der Verleugnung mit schlimmen
Folgen durchgesetzt. Seit es die PKK gibt, wandelte sich diese Politik
hin zu einer extrem menschenverachtenden und übertriebenen Unterdrückung.
Dies brachte den Staat an einem schwierigen Punkt. Das ist keine Erfindung
der PKK. Die falsche Politik des türkischen Staates widerspricht sogar
seiner eigenen Gründungsdynamik. Ich glaube, dies hat Professor Mümtaz
Soysal einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Wir haben an unseren
eigenen Gründungsprinzipien Verrat geübt.“ (…) Es muß eingesehen
werden, daß nur eine wirkliche Neustrukturierung des türkischen
Staates eine Entwicklung der Gesellschaft ermöglicht. Auf welche Weise?
Indem eine Rechtsordnung neu geschaffen wird, die der Identität der
Völker, ihren Kulturen, ihren demokratischen Forderungen entspricht.“
Zweitens: „Unter Berücksichtigung der Realität in der Türkei
muß ein pluralistisches Demokratieverständnis geschaffen werden.“
Drittens: „Ab jetzt darf dieser Krieg nicht mehr verstärkt fortgeführt
werden. (…) Es ist unmöglich, die PKK zu spalten oder zu vernichten.
Ihr könnt jetzt sehen, daß wir über noch weit mehr Reserven
verfügen. Sie reichen nicht nur bis zum Jahr 2000, sondern darüber
hinaus. (…) Bürgerkriege enden mit einer Verständigung. Diesbezüglich
sollte man nicht nachtragend sein. Man sollte nicht sagen, die eine Seite
hat gewonnen, die andere hat verloren. Es gibt ein Problem, was heißt
da gewinnen? Bedeutet es einen Sieg, wenn man die Kurden vernichtet? Nein,
das ist unmöglich. (…) Meiner Meinung nach liegt der einzige
Nutzen dieses Krieges darin, diese 70jährigen Probleme offenzulegen.
Durch ihn wurde deutlich, daß diese Probleme nicht gewaltsam unterdrückt
werden können. Es ist klar: Wir müssen zu einer politischen Lösung
finden!
Wir wissen sehr gut, daß die Soldaten in große
Schwierigkeiten geraten. Besonders die Soldaten an der Front wollen
den Frieden, auch die Mütter und sogar die Generäle. Zum
ersten Mal in der Geschichte haben wir gesehen, wie sie Tränen vergossen
haben. (…) Ihr eigener Kriegscharakter hat sie zum Weinen gebracht. (…)
Diesbezüglich sage ich: Bringt Euch nicht in so große Schwierigkeiten,
denn die Lösung ist ein vernünftiger Waffenstillstand.
Wir sagen folgendes: Wir wollen den politischen Dialog ergreifen.
Falls die Türkei in uns wirklich eine Bedrohung sieht und sich herausstellt,
daß unsere Absichten doch anders sein sollten, befindet sich die
türkische Armee doch ohnehin in Kurdistan. Sie verfügt dort über
außerordentlichen Einfluß. Sie kann jederzeit den Krieg und
militärische Operationen fortführen. Damit will ich sagen, daß
eine politische Initiative doch zu einem Erfolg führen kann. Das ist
die zentrale Aussage des dritten Punktes.“ Zum vierten Punkt: „Moralische
Werte sollten respektiert werden. Hinsichtlich der Bedeutung emotionaler
und moralischer Werte sagte ich bereits, daß man keine Grausamkeit
ausüben sollte. Aus Sicht der Soldaten könnten wir eigentlich
auch sehr brutal und entmenschlicht vorgehen. Diese Möglichkeit besteht,
aber wir möchten es nicht. Ethische Prinzipien müssen berücksichtigt
werden. Der vierte Punkt besagt, daß einige moralische Werte respektiert
werden müssen. (...) Mit den Methoden des schmutzigen Krieges dürfen
Menschen nicht massakriert werden. (…) Auch wenn wir miteinander kämpfen,
gibt es zumindest Kriegsregeln (gemeint ist die Genfer Konvention, die
von der PKK 1995 unterzeichnet wurde, edü.). Daran sollten wir uns
halten.“
|