Köln, 13. September 1998
An die Redaktionen
Aktuelles/Ausland/Kurdistan/Türkei
Am 10.09.1998 nahm der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans
(PKK), Abdullah Öcalan, in einer Sendung des kurdischen Fernsehsenders
MED- TV telefonisch Stellung zu den letzten Entwicklungen des Waffenstillstandes.
Deutsche und türkische Medien haben anlehnend an diese Stellungnahme
falsche Nachrichten bezüglich des Waffenstillstands veröffentlicht.
Zur Richtigstellung dieser Fehlinformationen veröfffentlichen
wir Auszüge der Stellungnahme.
...
Wenn man sich dieser Entwicklung nicht richtig annähere, so Öcalan,
werde sich die Selbstverteidigung verstärken; umfangreiche Vorbereitungen
diesbezüglich würden getroffen. Weiterhin sagte er : „Von diesem
Punkt aus wird, denke ich, beim kurdischem Volk ein Existenzkampf beginnen.
Dies ist eine unausweisliche Entwicklung. Die Gegenseite muß sich
entscheiden, ob dieses kurdische Volk existiert oder nicht. Was wird mit
diesen Kurden ohne die PKK, werden sie menschlich behandelt oder nicht?
Die Rechte, die einem Stamm in Afrika eingeräumt werden, werden sie
einem Jahrtausende altem Volk zuerkannt oder nicht? Wenn die türkische
Politik Macht hat und etwas von Menschlichkeit versteht, wird sie in dieser
Sache eine richtige Entscheidung treffen. Sie tun so, als würde es
sich um eine Kleinigkeit handeln, dabei kennen sie alle die Situation.
Sie sollten sich entscheiden.“
„Dessen sollte man sich auch bewußt sein“, so Öcalan, „sowohl
das Militär als auch die zivilen Kräfte arbeiten in einem Ausnahmezustand.
Es ist unmöglich, daß sich diese Kräft nicht mit diesem
Waffenstillstand auseinandersetzen; wenn auch auf indirektem Wege waren
sie diejenigen, die den Willen für einen solchen Schritt bekundet
haben. Offen gesagt, spreche ich bei diesem Anlaß zu ihnen. Sie beobachten
diese Entwicklung, sie sind nicht in der Situation, um nicht begreifen
zu können, was Krieg und Frieden bedeuten. Dieses Volk, das Kurden
genannt wird, wird es aus der Situation der Vernichtung befreit werden
oder nicht? Eine Entscheidung muß getroffen werden. Wie ich gehört
habe, wird folgendes gesagt: „Wenn wir ihnen heute etwas geben, werden
ihre Kinder morgen mehr von uns verlangen.“ Das ist ihre Logik. Dies ist
nicht verwunderlich. Alle ihre Macht-Zentren sind gefestigt und konzentriert
und ihr Leben ist an diese Macht-Zentren gebunden, deshalb hat sich ein
erschreckendes System aufgebaut. Sie werden solange das Blut des kurdischen
Volkes aussaugen, bis es ausgetrocknet ist. Dies ist ihre einzige Sichtweise,
eine andere Alternative sehen sie nicht.“
Wir werden noch eine Zeitlang warten
Auf die Frage, ob der Waffenstillstand noch andauern wird oder nicht,
antwortete Öcalan in der folgenden Kurzfassung: „Wir erwarten, daß
die Gegenseite einige Antworten gibt und Reaktionen zeigt, aber jetzt haben
diejenigen, die eine Reaktion zeigen sollten, ihre Köpfe in den Sand
gesteckt. Dies ist sehr merkwürdig, eigentlich haben wir diesen Waffenstillstand
nicht einseitig genannt. Wir wurden darum gebeten. Aber wer sind diese
Leute, was für Perönlichkeiten sind das? Spielen sie ein Spiel,
oder stecken sie in einer Sackgasse, das würde ich gerne verstehen.
Es mag sein, daß dies ein Versuch ist. Nicht jeder Versuch kann
erfolgreich sein. Aber wenn dieser Versuch zu keinem erfolgreichen Ergebnis
führen sollte, so wird es nicht an uns liegen. Wir werden noch eine
Zeitlang warten. Aber wenn sich herausstellen sollte, daß dies ein
Spiel ist, oder wenn sie, wie ich schon vorher erwähnt habe, ihre
mörderische Politik aufrecht erhalten, dann wird unsere Antwort sein:
Krieg ist Krieg. Dieser Krieg ist der schmutzigste und erbarmungsloseste
Krieg der Welt.“
Das Beispiel Irland
Zu den Äußerungen von Hüsamettin Cindoruk, dem Vorsitzenden
der Partei der Demokratischen Türkei ( DTP ), daß bei der Lösung
der Kurden-Frage das Beispiel Irland als Vorbild gesehen werden sollte,
sagt Öcalan folgendes: „Herr Cindoruk nennt selber das Beispiel Irland.
Aber hat England nicht zehnmal mehr Macht als die Türkei? Sogar die
IRA hat mit einer Handvoll angeblicher Terroristen einen einseitigen Waffenstillstand
nicht verkündet. Hat dennoch nicht Herr Blair alle Parteien an einen
runden Tisch versammelt? Und haben sie nicht einen Einigungs - Entwurf
zustandegebracht? Auch England hätte sagen können, daß
sie alle vernichten werden, daß sie eine große Armee haben
und daß ihre Polizei und der Geheimdienst die mächtigsten auf
der Welt sind. „Wir werden eine Handvoll IRA - Mitglieder auf diese und
jene Art vernichten.“ Auch dies hätten sie sagen können. Diese
Möglichkeit hatten sie. Aber England ist ein zeitgenössisches
Land und sie machen wirkliche Politik. Dort wirft nicht das Militär
seinen Schatten über das ganze Land und offensichtlich geht man auf
eine gemeinsame Lösung zu. Wenn Cindoruk nun konsequent ist, und der
stellvertretende Ministerpräsident in seiner Partei ist, so soll er
seine Konsequenz auch zeigen. Er soll seinen Vorschlag machen, sein Lösungs-Modell
vorlegen und sagen, was er von mir und was er von uns will. Ein einseitiger
Waffenstillstand, wir können aber auch andere Schritte einleiten,
für die Einheit und Souverenität der Türkei...“
„Anstatt jeden Tag von neuem das Volk zu betrügen und anstatt
mit ständig neuen Wahlkampf-Spielen das Volk zu verwirren, sollten
sie ein konsequentes Lösungs-Paket und Programm auf den Tisch legen“,
so Öcalan. Desweiteren sprach er, daß sie alle ihre guten Absichten
offengelegt hätten, aber alle Antworten der Gegenseite ungerecht seien
und nicht der Wahrheit entsprächen und somit nicht zum Wohle der Türkei
dienten.
Die Ernsthaftigkeit Europas
In seinem Beitrag nahm Öcalan auch Stellung zu fortschrittlich
eingestellten Menschen, zu Friedens-Initiativen, zur internationalen Öffentlichkeit
und zur Stellung des Europäischen Parlaments.
„Ist Ihnen bewußt, welche Schuld, eine unter Ihrem Schutz aufwachsende
Macht, begeht? Andauernd sprechen Sie vom PKK-Terrorismus. Auch Ihnen sage
ich: Ich bin bereit, die PKK aufzulösen und von all meinen Positionen
zurückzutreten. Aber sichern Sie die Rechte der Kurden und beweisen
Sie Ihre viel gelobten Menschenrechte und Ihre Verbundenheit zur Demokratie.
Aber dies können Sie nicht machen. Denn Sie haben viele Eigeninteressen.
Wieso wird keine wirksame Friedenskampagne entwickelt? Wieso gibt es so
große Angriffe auf die elementarsten Menschenrechte?
Auch Europa verhält sich zu dieser Problematik nicht mutig. Auch
das viel gelobte Schweden ist darauf aus, Nutzen aus dem GAP-Projekt zu
ziehen und so viel wie mögliche Aufträge zu bekommen... Sie belügen
sich selber und unterstützen diesen Militarismus bis aufs letzte.
Wegen eines Pipeline-Projekts ist auch die Stimme Norwegens verstummt.
Man sollte die Wirklichkeit ohne Beimischung von Interessen sehen.“
Der Vorsitzende der PKK, sagte weiterhin, daß die Problematik
sehr schwerwiegend sei, und es aus diesem Grunde notwendig sei, die Ursachen
zu erkennen: „Diese Probleme sind nicht meine Erfindung. Es gibt sie schon
seit Jahrhunderten. Sie sind grundlegend und ihre Lösung ist lebenswichtig...Das
türkische Volk erlebt in seiner Geschichte die tiefste Krise...“
Indem Öcalan sagte, daß der Grund des Waffenstillstands
das Aufbrechen der Ausweglosigkeit des Türkischen Staates und die
Möglichkeit der Entwicklung des türkischen Volkes sei, machte
er darauf aufmerksam, daß in der Gesellschaft durch die Weiterführung
des Spezialkrieges sich ein bestimmter Kreis gebildet hat, der hieraus
seine Nutzen zieht und ein Vermögen macht.
Öcalan: „Das türkische Volk sieht dem tatenlos zu. Die Arbeiter
sind unwissend. Die zivilen Institutionen, politischen Parteien, Vereins-Vorstände
sind sich nicht bewußt, welche wahre Bedeutung es hat. Man schiebt
die Verantwortung den anderen zu. Aber auf der anderen Seite gibt es eine
Schicht, die ohne jegliche Arbeit über eine unendliche Macht verfügt.
Durch den Verfall der materiellen und moralischen Werte erreichen sie große
Vorteile. Das ist ein sehr neues System. Die Kontolleure dieser Kriegsmechanismen
werden auf diese profitablen Geschäfte niemals verzichten“, so Öcalan.
Der Vorsitzende der PKK erklärte, daß dies im System des
türkischen Staates sehr verbreitet sei und gab als Beispiel den Fall
Cakici. „Alle Kräfte im Geheimdienst haben ihn benutzt. Aber er verfügte
über eine große Macht. Ich glaube, daß er ein nutzloser
Mensch war. Aber da er angeblich etwas für den türkischen Staat
geleistet hat, hat er diese Macht erlangt und man sieht, was daraus geworden
ist.
Der Staat kann sie nun nicht mehr kontrollieren, da sie durch den schmutzigen
Krieg und Raub ihre Geschäfte machen. Das gilt auch für Yesil.
Das sind natürlich die Figuren im Spiel. Es gibt auch noch die Drahtzieher.
Diese Drahtzieher verfügen über eine solche Macht, daß
sogar die Vorsitzenden einiger Parteien sie mit Sultans oder Imperatoren
vergleichen. Wegen ihrer Rolle im Spezialkrieg sind sie alle wie Imperatoren.
Die Ursachen des anti-demokratischen türkischen Systems liegen im
Spezialkrieg. Nicht ich sage das. Es ist alles offen. In dem 15jährigen
Krieg haben sie diese Position erreicht und legen ihren Parteien und dem
Volk keine Rechenschaft ab. Die Delegierten werden nicht von der Basis
gewählt, sondern von oben bestimmt. Alle sind dem Spezialkrieg-Stab
unterstellt, auch die Vorsitzenden der Parteien. Warum erheben die zivilen
Institutionen nicht ihre Stimmen? Weil ihre Führung gekauft wurde.
Was sie mit so friedliebenden Menschen wie Herrn Akin Birdal machen, ist
offensichtlich.“
Das türkische Volk muß sich aus seiner Gefangenschaft befreien.
„Dem türkischen Volk sage ich, wenn seine Vertreter auf allen Ebenen
eine Alternative schaffen wollen, muß es auf der Basis des Friedens
geschehen. Den nicht wir, sondern die andere Seite droht mit der Vernichtung.
Wir wollen nur eine Situation, in der sowohl die Rechte des Einzelnen als
auch die Rechte der Völker anerkannt werden und somit eine Grundlage
für ein friedliches Zusammenleben existiert. Wir möchten eine
völlig andere Politik betreiben. Wir möchten Reichtum der Völker
und treten dafür ein, daß das Zusammenleben Stärke und
Vorteile bringt. Dafür wollen wir Politik machen. Der Grund, warum
das türkische Volk dies nicht versteht, liegt darin, daß es
in Gefangenschaft leben muß. Andere können aufgrund der psychologischen
Kriegführung kaum atmen.“
|