Berlin, 19.11.1999
In Anbetracht des aktuell stattfindenden Gipfeltreffens
der OSZE, geben wir im folgenden den vom Vorsitzenden der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, an
den Vorsitz der OSZE gerichteten Brief vom 18. November im
vollen Wortlaut und in deutscher Übersetzung wieder:
· Brief vom Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan,
an den Vorsitz der OSZE
"An den Vorsitz der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa Ich begrüße die historischen
Ergebnisse und Ihre Bemühungen, auf dem Treffen in Istanbul,
dem letzten und größten Treffen des zwanzigsten
Jahrhunderts, das Sie in der Türkei ausrichten, zu Lösungen
zu gelangen.
Der Mangel an Entwicklung in der [Türkischen] Republik
in Richtung Demokratie und das Fehlen ihres zufriedenstellenden
Ausdrucks in einer Verfassung haben zum Aufkommen der "letzten
kurdischen Rebellion", für den ich als Führer
[verantwortlich gehalten] und vor Gericht gestellt werde.
Der größte Teil der 75-jährigen Geschichte
der Republik verlief ähnlich mit der Unterdrückung
und Befriedung von [kurdischen] Aufständen. Jetzt ist
offenbar geworden, dass diese Methoden weder zu [dauerhaften]
Lösungen geführt haben noch angemessen waren. Die
von der PKK bisher unternommenen und in verstärktem Ausmaß
weiter beabsichtigten Schritte (wie die Beendigung des bewaffneten
Kampfes und die Einführung des Programms für einen
strategischen Umbau ihrer Struktur) zielen auf die rechtliche
und demokratische Umgestaltung [in der Türkei].
Die autoritäre Struktur der Republik, die nicht von
Anfang an zum Kern ihres Geistes gehörte sondern eine
spätere Erwerbung war, spielte eine ursächliche
Rolle beim Entstehen der PKK. In ihrer Entstehungsphase war
es sogar verboten, das Wort "Kurde" auszusprechen.
Eine Abnormität wie das "Verbot der kurdischen Sprache",
Beispiel für eine in der Geschichte einmalige und grenzenlose
Unterdrückung, war zu jener Zeit [in der Entstehungsphase
der PKK] eine gewöhnliche Erscheinung. In jener Periode
war, weit hinter einem bloßen Mangel an Demokratie,
eine erschreckende Verneinung der kurdischen Identität
die Regel. Eine derart extreme Form der Identitätsverweigerung
ließ keine andere Ausdrucksweise [als die des bewaffneten
Kampfes] zu. Es scheint unerlässlich zu sein, die Methoden
zu untersuchen, mit denen viele moderne Nationen ähnliche
Probleme und Ereignisse in ihrer eigenen Geschichte gelöst
haben, und zwar nicht nur um eine dringend gebotene Lösung
zu finden, sondern auch um vermittels solcher historischer
Vergleichsfälle eine objektiveres Herangehen zu ermöglichen.
Die freie Äußerung von Verschiedenheit bildet eine
wesentliche Grundlage für Stärke und Bereicherung
und ist keinesfalls ein Zeichen von Schwäche und Zersplitterung.
Verschiedenheit wird - mehr und mehr - zum Definitionsmerkmal
der gegenwärtigen Welt. Die Geschichte hat die unmenschliche
Natur fanatischer Religionsausübung, des stammesbezogenen
und des nationalen Chauvinismus sowie der Experimente totalitärer
Regime bloßgestellt. Sie alle sind in den Kriegen unseres
Jahrhunderts bankrott gegangen. Im Gegensatz zu solchen Regimen
haben die durch Verschiedenartigkeit und Praxisorientierung
bestimmten Charakterzüge des demokratischen Systems seinen
weltweiten Sieg begründet. Unzweifelhaft ist die gegenwärtige
Zivilisation eine demokratische. In diesem [oben definierten]
Rahmen, wenn man diesem Aufstand seinen geschichtlichen Platz
als dem letzten, allumfassenden Ereignis in unserem geografischen
Raum zuweist, und im Licht der Lehren, die aus ihm gezogen
werden müssen, halte ich es für das Angemessenste,
die Türkei mit einer demokratischen Lösung in das
neue Jahrtausend zu geleiten, gegründet auf individueller
Freiheit und gesellschaftlichem Gemeinsinn, gestützt
auf das Vertrauen in die demokratische Umwandlung der Republik.
Aus einem Aufstand, der die traditionellen Gesetze der Republik
so sehr beeinträchtigt hat, ist als Wichtigste die Lehre
zu ziehen: die Demokratische Republik bedarf einer neuen verfassungsmäßigen
Ausgestaltung. Rechte und Verantwortung des freien Individuums
wie der Gesellschaft können nur von so einer demokratischen
Verfassung ausgehen. Auf der Grundlage der "verfassungsmäßigen
Staatsangehörigkeit" kann, wie das auch von Herrn
Demirel zum Ausdruck gebracht wurde, einer demokratischen
Vereinigung die wesentliche Rolle bei der Überwindung
der gegenwärtigen Probleme zukommen. Deshalb wird sogar
von den führenden Juristen der Türkei mutig zugegeben,
dass die gegenwärtige Verfassung nicht nur keine Beziehung
zur Demokratie hat, sondern ein Hindernis für die Schaffung
eines auf Recht und Ordnung gegründeten Staatswesens
darstellt.
Die Kurden möchten, wie sie das in den Entstehungstagen
der Republik als ein wesentlicher Gründungsbestandteil
taten, ihren Platz im demokratischen Rahmen der Republik einnehmen;
sie möchten in der beständigsten demokratischen
Einheit mit der Republik leben. Die Wirklichkeit einer solchen
Einheit ist so reich und so stark, dass es trotz aller Behinderungen
unmöglich wird, den einen Teil vom anderen zu trennen.
Weil das Problem aus dem Versäumnis der Republik entstanden
ist, sich zu demokratisieren, kann auch seine Lösung
auf derselben Ebene gefunden werden, nämlich im Zuge
einer tiefgreifenden Demokratisierung, ausgehend vom letzten,
durch sie verursachten Aufstand unter Führung der PKK.
Alle beteiligten Seiten haben erkannt, dass es abseits einer
tiefgreifenden Demokratisierung keinen geeignete, realistische
Lösung der an einem toten Punkt angekommenen kurdischen
Frage geben kann. Zum Ende des 20. Jahrhunderts haben Unterdrückung
und erzwungene Assimilation aus wissenschaftlicher Sicht ihre
Bedeutung verloren, ebenso wie der Aufstand als Form der Reaktion
darauf. Diese Methoden bewirken sowohl für die Gesellschaft
als auch für den Staat nichts als Leid und ansteigende
menschliche Verluste. Das hat uns die Geschichte gelehrt und
wir können es uns nicht länger leisten, diese Lehre
zu ignorieren. Solange ich lebe wird es meine fundamentale
Rolle sein, die PKK von der Methode der Gewalt zu läutern
und sie auf eine legale Umgestaltung im Zuge des Demokratisierungsprozesses
vorzubereiten, in den die Türkei eingetreten ist.
Die leitenden Organe der PKK haben öffentlich vor der
Welt ihre Entschlossenheit bekundet, den bewaffneten Kampf
zu beenden, und ihre Aufrichtigkeit durch die Entsendung zweier
Gruppen für Frieden und eine demokratische Lösung
in die Türkei unter Beweis gestellt. Ich möchte
meinem Glauben Ausdruck verleihen, dass die Organisation als
Ganzes es bald, zum Eintritt in das 21. Jahrhundert, schaffen
wird, diese Linie mit der Abhaltung eines Parteikongresses
offiziell anzunehmen. Ich bin voll Hoffnung dass der Staat
seinerseits eine größere Sensibilität zeigen
wird gegenüber einer Erleichterung des Umwandlungsprozesses,
um eine Integration in einen demokratischen Prozess zu ermöglichen.
Was das betrifft, gibt es auf der Seite der höchsten
Institutionen und Staatsbeamten einige ermutigende Ansätze.
Ich glaube, dass Sie gleichermaßen beabsichtigen, solche
ermutigenden Schritte zu bestärken und zu unterstützen
und dass Sie zu einer friedlichen und demokratischen Lösung
des Konflikts beitragen möchten. Noch einmal möchte
ich meine Überzeugung wiederholen, dass eine Lösung
der kurdischen Frage und die Schaffung der Grundlagen für
eine Demokratie in der Türkei Garanten sein werden für
den Frieden im Mittleren Osten und weit über ihn hinaus.
Vielleicht ist es das erste Mal in der Geschichte, dass die
kurdische Frage, dieses an einen toten Punkt gelangte zweihundertjährige
Problem, so nahe vor seiner Lösung steht. Und ich glaube
weiter: sollte eine Lösung dieses Problems innerhalb
des demokratischen Systems der Türkei hervortreten, dann
könnte dies als Modell für demokratische Systeme
dienen, die im gesamten Mittleren Osten Anerkennung verdienten.
Mit allem Respekt für Ihre wertvollen Dienste möchte
ich die Ansicht zum Ausdruck bringen, dass der Gewinner die
Demokratie und das demokratische System sein werden."