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1. Einleitung: Wir wollen euch was erzählen
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...von Callmastern und Teamleitern, Trennwänden und Betriebsräten, Kommunikationsschulungen und Standardformulierungen, Saboteuren und Warteschleifen, Eingabemasken und Basisgewerkschaften, Momenten der Revolte, Fragebögen und Flugblättern...
Was
Im Sommer 1999 entschieden wir, in Call Centern arbeiten zu gehen, um die Leute dort zu treffen und mitzukriegen, was abgeht. Wir wollten unsere Wut auf die tägliche Ausbeutung und das Verlangen und die Suche nach Kämpfen zu ihrer Überwindung zusammenbringen. Dazu mussten wir die Klassenrealität an diesem Punkt verstehen, in den Konflikten mitmischen, eingreifen.
Drei Jahre und ein Jahrtausend später haben wir jetzt einen Teil der Erfahrungen aufgeschrieben, aus unseren Erlebnissen in über zehn Call Centern, in denen wir selber schwitzten, aus den Ergebnissen der Gesprächen mit FreundInnen in England und Italien, die auch in Call Centern arbeiten und dort was versuchen, aus den Berichten von anderen Call Center-ArbeiterInnen aus den USA, Frankreich, Australien, aus den Interviews, theoretischen Diskussionen, aus Auseinandersetzungen über die Methoden von Untersuchung und Intervention...
Für wen
Wir schreiben das, weil jetzt was raus muss. Wir haben in den letzten drei Jahren so viel Kram diskutiert, versucht, forciert und wollen dies in die weitere Diskussion einbringen. Für wen wir das schreiben? Für alle,
* die verstehen wollen, wie die Ausbeutungsrealität in Call Centern aussieht, wie die Leute zusammenkommen, wie sie die Arbeit machen und sich gegen sie auflehnen;
* die Wege suchen, mit anderen Leuten den alltäglichen Scheißsituationen in der Ausbeutung entgegenzutreten;
* die die Schnauze voll haben von den diversen Vertretern von Parteien oder Gewerkschaften und die Sachen selber in die Hand nehmen wollen;
* die wie wir die revolutionären Tendenzen aufspüren wollen, welche die ausbeuterischen Verhältnisse beizeiten wegfegen werden.
Warum
Wir schreiben das auf, weil wir eine Diskussion provozieren wollen, wie wir nicht nur Call Center abschaffen, sondern das Ausbeutungsverhältnis insgesamt aufheben. Wir fordern euch auf, unsere Erfahrungen kritisch aufzunehmen und ähnliche Versuche zu machen. Nicht etwa, weil wir darin eine "Pflicht" erkennen oder eine "historische Mission". Wir überwinden die linke Vertreter- und Aufopferungskultur nur, wenn wir uns auf die konkreten Ausbeutungsbedingungen beziehen, sie untersuchen und intervenieren.
Das ist unser Kampf, um die Kontrolle über unser Leben, gegen Wecker und Schichtplan, den Maschinentakt, den rassistischen Vorarbeiter, die geschlechtliche Arbeitsteilung und die Kriegstreiber. Dafür brauchen wir klare Gedanken, offene Diskussionen, solidarische Verantwortung, bestimmte Methoden und konkrete Ziele.
Dies ist ein Beitrag zum Prozess. Dies ist eine, ist unsere Perspektive. Wir sind keine Journalisten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Funktionäre. Wir haben das als ArbeiterInnen geschrieben, welche die tägliche Ausbeutung erleben und bekämpfen, und gleichzeitig als Kollektiv, das eine revolutionäre Chance sucht, ohne die wir das Ausbeutungsverhältnis nicht los werden.
Konzepte
In unseren Versuchen beziehen wir uns auf verschiedene Konzepte, Theorien, Methoden, die wir in den letzten Jahren diskutiert haben:[1] die kritische Diskussion des Marxismus, unter anderem von Socialisme ou Barbarie in den Fünfzigern in Frankreich und der Quaderni Rossi in Italien in den Sechzigern, welche die konkreten Bedingungen der Ausbeutung und die Möglichkeiten für eine neue Klassenbewegung untersuchten; die links- und rätekommunistische Kritik am Leninismus, als Ideologie und staatliche Politik, welche die ArbeiterInnen in Russland in ein neues (sowjetisches) Ausbeutungsregime zwang; die Kritik an positiven Bezügen auf die kapitalistischen Produktivkräfte, auf die angeblich "neutrale" Technologie, die Vorstellung, dass es ausreichen würde, die Bosse durch Funktionäre zu ersetzen, um zum Kommunismus zu gelangen; Kritik der leninistischen Avantgardekonzepte und der Trennung von "ökonomischem" und "politischem" Kampf, mit denen immer wieder Schichten von Kleinbürgern und Intellektuellen ihren Führungsanspruch gegenüber den ArbeiterInnen durchsetzen wollen; Kritik der Vorstellung von Arbeiterselbstverwaltung, bei der die Fabriken durch Komitees von (Fach-)ArbeiterInnen übernommen und weiter betrieben werden, ohne dass die kapitalistische Form der Produktion und Reproduktion aufgehoben wird...
Wir benutzen diese Kritiken sowie Konzepte von Klassenzusammensetzung und Untersuchung:[2] Eine revolutionäre Klassenbewegung kann sich nur aus den materiellen Bedingungen der Ausgebeuteten, aus ihren Formen der Kooperation und der Kämpfe selbst herausbilden. Dabei entwickeln diese, ausgehend von ihren Bedingungen, unterschiedliche Kampfformen. Wir sind Teil des Prozesses und versuchen, bei der revolutionären Umgestaltung dieser Welt mitzumischen. Wir wollen eingreifen, wo es gilt, die kommunistischen Tendenzen in den Kämpfen zu unterstützen, und verhindern, dass diese an den Fallstricken der kapitalistischen Versprechen und Illusionen hängen bleiben.
Unsere Ausgangsfragen sind also:
* Wie sieht die Klassenzusammensetzung aus, in unser Region, weltweit...?
* Wie wird heute produziert, gearbeitet, was ist Fabrik?
* Wie sehen die Bedingungen der Reproduktion aus?
* Was ist unsere Position in den Auseinandersetzungen?
Die Untersuchung in Call Centern war ein Versuch, ein Anfang. Wir laden euch ein, uns durch einen Teil der Klassenrealität, den wir da untersucht haben, zu folgen. Ihr werdet Ecken und Kanten in diesen Text finden, Infos, Fragen, Kritiken, Vorschläge. Das ist ein Lesebuch. Ihr könnt es von vorne bis hinten durchlesen, aber auch rumschmökern und springen.
Inhalt
Nach dieser 1. Einleitung kommt was zu unseren Ausgangspunkten: 2. Untersuchung: Begreifen, Eingreifen. Worauf beziehen wir uns? Welche Hoffnungen verbinden wir damit? Danach beschreiben wir, was wir gemacht haben: 3. Auswertung: Drei Jahre in Call Centern. Welche Probleme hatten wir bei den Interviews oder Flugblättern? Welche Sachen haben hingehauen? Was können wir besser machen?
Unter 4. Call Center: In den Strudeln der Zirkulation erklären wir kurz, was Call Center überhaupt sind und wie diese vom Boom in die Krise gegangen sind. In 5. Arbeitsalltag wollten wir kapieren, was täglich abläuft, wie die ArbeiterInnen kooperieren, wie sie mittels der Maschinerie zur Arbeit gebracht werden und in welchen Situationen sie das ausbeuterische Verhältnis angreifen (können). Dabei flossen vor allem unsere eigenen Erfahrungen und die Interviews ein.
Im Teil 6. Auseinandersetzungen: Von kollektiven Kampfadern sind wir aus einer anderen Perspektive an die tägliche Ausbeutung rangegangen. Wir haben uns gefragt, welche Konflikte es gibt, welche Erfahrungen und Probleme zum Beispiel mit Sabotage oder Streiks und welche Rolle Formen der Organisierung darin spielen: Betriebsräte, (Basis-)Gewerkschaften, Unterstützungsinitiativen. Dabei haben wir uns vor allem auf die Berichte und Flugblätter aus "unseren" und anderen Call Centern bezogen.
Am Schluss haben wir die Erfahrungen zusammengebracht: 7. Vorschlag: Die nächsten Schritte... auch als Aufforderung zur Diskussion. Als weitere Anregung findet ihr unter 8. Anhang unsere Fragebögen für die Untersuchung, einen Teil unser Flugblätter, eine Kurzbeschreibungen der im Text erwähnten Call Center, eine Liste mit Literatur/Links und ein Glossar (mit Call Center-Vokabular).
Viel Spaß beim Lesen.
Und denkt dran: Wir wollen eure Meinung, Kommentare, Geschichten...
love and rage!
kolinko, Rhein/Ruhr, Sommer 2002
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