papier lächeln 3. Auswertung: Drei Jahre in Call Centern
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Diesen Teil haben wir folgendermaßen gegliedert:

1 [Konkrete Ziele der Untersuchung]
2 [Was haben wir getan?]
3 [Wie sehen wir das heute: Interviews, Flugblätter...?]
4 [Wie wurde der Vorschlag in der Linken aufgenommen?]
5 [Was hat uns bewegt, was würden wir heute anders machen?]


3.1 Konkrete Ziele der Untersuchung [top]

Als wir im Herbst 1999 in Oberhausen zusammenhockten und die ersten Schritte für eine "Untersuchung und Intervention" in Call Centern planten, hatten wir vor allem folgende Hoffnungen:
* zu verstehen, was in einem bestimmten Bereich der Ausbeutung abgeht;
* innerhalb der Linken andere Leute anzutörnen, sich für die Klassenrealität um uns rum und für ihre eigene Situation als Prols zu interessieren;
* uns selbst weiterzubringen, theoretisch und praktisch neu zu organisieren.

Aber mal eins nach dem anderen...

Die Klassenrealität
Wir fanden uns selbst in der Situation, dass wir zwar ab und zu Streikberichte aus Frankreich oder wissenschaftliche Studien über Umstrukturierungen in der Automobilindustrie in die Finger bekamen, aber wenig darüber wussten, wie ArbeiterInnen in unserer Region auf die Veränderungen der Ausbeutung reagieren. Die Entscheidung, sich auf einen Bereich - Call Center - zu konzentrieren, sollte es uns angesichts beschränkter Kräfte ermöglichen, die Situation dort genauer zu kapieren. Wir wollten unsere vorherigen Diskussionen über die Ausbeutungsorganisation mit anderen ArbeiterInnen fortsetzen dadurch weiter kommen. Und nicht zuletzt setzten wir darauf, durch die Kontakte auf Arbeit oder durch die Flugblätter auch eine Menge fitter Leute kennen zu lernen, als ersten Schritt zu neuen proletarischen Runden.

Die Linke
Wir wollten über unsere Kritik an vielen Linken, dass sie bauchnabel- und nicht klassenrealitätsinteressiert seien, hinauskommen. Wir hatten den Eindruck, dass unsere bisherigen Versuche (zum Beispiel das Subversion des Alltags-Papier von Ende 1999)[5] folgenlos blieben, weil wir zwar kritisierten, aber nichts Konkretes vorzuschlagen hatten. Da wir wussten, dass auch viele Linke in Call Centern arbeiteten, hatten wir die Hoffnung, an diesem Punkt die "politische Bewegung" und den Kampf gegen die eigene Ausbeutung näher zusammenbringen zu können. Wir wollten die halbpersönlichen und zufälligen Diskussionen mit anderen Gruppen und Einzelpersonen der "revolutionären Klassenlinken" auf etwas Gemeinsames konzentrieren. Der Vorschlag zur gemeinsamen Untersuchung sollte die internationale Diskussion über momentane Aufgaben von RevolutionärInnen kicken und uns dabei mit neuen souligen GenossInnen zusammenbringen.

Wir selbst
hatten die Vorstellung, dass die "Untersuchung" auch für uns ein "Befreiungsschlag" ist. Wir wollten uns nach Monaten zäher kleingruppiger Grundsatzdiskussionen rund um das Subversion des Alltags-Papier wieder Realität um die Nase wehen lassen. Nicht nur lesen und schreiben, sondern auch sehen, hören, fühlen, kreativ werkeln, trouble machen und dabei die bestehenden Erfahrungsunterschiede zwischen uns aufheben. Außerdem war den meisten von uns "ArbeiterInnenuntersuchung" bis dato zwar durch Überlieferungen älterer GenossInnen und der italienischen Mythologie[6] bekannt, aber wir wollten es jetzt auch selbst ausprobieren.
Einige hatten zwar Erfahrungen auf Baustellen, in Restaurants und Fabriken eingesteckt und Flugblätter ausgeteilt, aber manche dieser Aktionen waren Einzeltaten und wenige Resultat gemeinsamer Diskussionen. Wir hofften also, uns durch die kollektive Untersuchung auch selbst weiterzubringen: in der theoretischen Debatte, in der Auseinandersetzung mit den Schergen der Ausbeutung, im Organisieren und Sortieren von Infos, im Hin und Her von Arbeitsalltag und gemeinsamer Planung der proletarischen Intervention.

Warum Call Center?
Wir hatten im Sommer 1999 noch andere konkrete Gründe, mit einer Untersuchung von Call Centern anzufangen:
* Bei der Citibank hatte es Ende 1998 einen Streik gegeben. Wir fragten uns, ob dieser Zeichen für das Entstehen einer neuen Militanz in diesem Bereich sein könnte.
* In unser Region, dem Ruhrgebiet, wurde ein Call Center nach dem anderen eröffnet. Die Zahl der Call Center-ArbeiterInnen ging schnell in die Tausende. Immer mehr junge Leute, auch aus unserem Freundeskreis, gingen dort hin zum Arbeiten.
* Die meisten Jobs in Call Centern waren für Ungelernte. Uns eröffnete das die Chance, da eingestellt zu werden. Aber wir sahen darin auch eine Chance, jenseits von Berufsstolz und dem Mythos des "besseren Angestellten", Konflikte und Kämpfe zu finden.
* Spannend fanden wir, dass hier neue Konzentrationen von ArbeiterInnen entstanden, mit hundert, zweihundert und vereinzelt mehr als fünfhundert ArbeiterInnen in einem Betrieb, die meisten mit gleichen Arbeitsbedingungen. Wir wollten rausfinden, ob das neue Kämpfe erleichtert.
* Unternehmer, Politiker und auch viele Gewerkschaftsfunktionäre waren sich einig: Hier entsteht die "schöne, neue Arbeitswelt". Wir hatten von den sauberen Jobs gehört und wollten den Test machen.
* Call Center entstanden nicht nur im Ruhrgebiet. Wir hörten von solchen in Dublin, Amsterdam, Paris, Dallas... Damit hatten ArbeiterInnen in verschiedenen Regionen ähnliche Bedingungen, sodass sich leichter Verbindungen herstellen und Erfahrungen austauschen ließen. Wenn die Callcenterisierung eine weltweite Tendenz ist, sagten wir uns, können wir das auch anderen GenossInnen als gemeinsames Untersuchungsprojekt vorschlagen.

3.2 Was haben wir getan? [top]

Es gab verschiedene Ebenen der Untersuchung. Die erste Ebene könnten wir "Voruntersuchung" nennen. Diese bestand aus:
* Sammeln von Material zu Call Centern: universitäre Studien zur Ansiedlung von Call Centern in bestimmten Regionen, Zeitungsausschnitte, Material von Management und Gewerkschaft...
* Theoretische Diskussionen, zum Beispiel über Arbeitsorganisation, Maschinerie und Kapitalbewegung (Zirkulation). Das haben wir auch als Selbstschulung verstanden, in der wir gemeinsam die Zusammenhänge besser erkennen lernten.
* Vergleichen (und Weiterentwickeln) der "theoretischen Erkenntnisse" mit unseren Alltagserfahrungen im Call Center. Wir hatten entschieden, dass wir in unterschiedlichen Call Centern arbeiten gehen wollten (diverse Sektoren, im Inbound und Outbound), um unterschiedliche Bedingungen zu erfahren, aber auch mit der Hoffnung, so eher auf versteckte Konflikte zu stoßen. Die Entscheidung, "alleine" in einen Betrieb zu gehen, wurde im Verlauf der Untersuchung kontrovers diskutiert.[7]
* Interviews mit uns selbst und anderen Call Center-ArbeiterInnen. Diese Interviews sollten uns einerseits helfen, ein genaueres Bild von Call Centern zu bekommen. Andererseits hofften wir, dass sie den Anfang von einer gemeinsamen Diskussion über den Ausbeutungsalltag und Kampfmöglichkeiten bilden könnten.
* Rumschicken eines Vorschlags an andere RevolutionärInnen, sich in ihren Regionen an der Untersuchung zu beteiligen. Der Vorschlag wanderte dank elektronischer Wege mehr oder weniger rund um die Welt der revolutionären/klassenbezogenen Gruppen. Mit solchen in Italien und England entstand ein intensiverer Austausch.[8]

Diese Voruntersuchung dauerte etwa ein Jahr. Beim Eintritt in die zweite Ebene ab Herbst 2000 wurde es dann heißer. Wir brachten die Flugblätter raus und installierten eine Website, auf der Flugblätter und Infos zu Konflikten in Call Centern und anderswo verbreitet werden konnten.[9]

Zu den Flugblättern lässt sich sagen, dass wir schon früh entschieden hatten, gleich eine ganze Flugblattserie zu machen. Diese sollte aus vier Folgen bestehen (flexible Arbeitszeitverlängerung, Intensivierung der Arbeit, Un-Sinn der Arbeit und Kämpfe in Call Centern). Auch diese Entscheidung sehen wir im Nachhinein kritischer.[10] Zusätzlich haben wir Extra-Nummern zu konkreten Konflikten in einzelnen Call Centern rausgebracht: geplante Betriebsratswahlen, Standardformulierungen, vierzig Stunden unbezahlte Probezeit. Verteilt wurden die Flugblätter vor und in Call Centern der Region. In anderen Städten gaben GenossInnen sie weiter.
Mit Flugblätter und Website wollten wir einen Ort des Austauschs von militanten ArbeiterInnen in verschiedenen Betrieben schaffen. Zudem ging es uns darum, unsere eigene Position in die alltäglichen Pausenraum-Diskussion zu werfen, um zu sehen, wie ArbeiterInnen und Unternehmensleitungen darauf reagieren.
Momentan schweben wir hauptsächlich in der dritten Ebene der politischen Auswertung. Wir wollen unsere Erfahrungen mit anderen GenossInnen teilen und lernen...

3.3 Wie sehen wir das heute? [top]

Im Folgenden wollen wir die einzelnen "Bestandteile" der Untersuchung Revue passieren lassen.

Interviews
Wir wurden gefragt, ob der Fragebogen und die Interviews was gebracht haben. Wir hatten zu Anfang die Vorstellung, dass aus gegenseitigen Interviews eine politische Diskussion mit anderen ArbeiterInnen entstehen könnte, in der die alltägliche Arbeitsorganisation hinterfragt wird. Da wir insgesamt außer mit uns selbst nur mit zwei Handvoll anderer Leute den Fragebogen durchgegangen sind, lässt sich die Frage schwer beantworten.[11]
Von diesen "Anderen" hatten wir nur wenige bei der Arbeit, die meisten über politische Kontakte kennen gelernt. Während der Interviews kam es schon zu Diskussionen, aber es waren einfach zu viele Fragen.
Insgesamt hat der Fragebogen kein "repräsentatives" Ergebnis gebracht. Wir wissen auch nicht, ob er unabhängig von konkreten Interviews dazu beigetragen hat, anderen GenossInnen in Call Centern das Bewusstsein und die Pupillen zu erweitern. Wir haben nur wenige Fragebögen, die wir rumgeschickt hatten, beantwortet zurück bekommen, unter anderem aus einem schottischen und einem holländischen Call Center.
Uns hat der Fragebogen in erster Linie dabei geholfen, unsere eigenen, oft sehr unterschiedlichen Arbeitserfahrungen zu strukturieren. Wir haben Zusammenfassungen der Interviews gemacht - zum Beispiel zu Maschinerie, Kooperation und Verhältnis zur Arbeit - die dann in unsere theoretische Diskussion einflossen. Im späteren Verlauf der Untersuchung haben wir den Fragebogen nicht mehr benutzt und hatten das Problem, dass die einzelnen "Betriebsberichte" beliebig wurden.
Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir drei unterschiedliche Fragebögen für unterschiedliche Situationen brauchen:[12]
* Einen langen und genauen Fragebogen, wie wir ihn schon gemacht haben, für Interviews, in denen es um Fakten und Zusammenhänge geht (Arbeitsorganisation, Maschinerie, Hierarchie, ArbeiterInnenverhalten...). Es reicht, wenn wir das am Anfang einer Untersuchung mit drei oder vier ArbeiterInnen durchgehen. Schwerpunkt: Fakten, Überblick.
* Eine kürzeren Fragebogen für Interviews oder Gespräche auf Arbeit, um uns selbst und allen beteiligten ArbeiterInnen zum Beispiel die Kooperation mit ArbeiterInnen verschiedener Abteilungen vor Augen zu führen. Hier geht es auch um Selbstreflektion und Selbstuntersuchung: Wie bewegen wir uns in alltäglichen Situationen im Betrieb? Auf was für Konflikte stoßen wir dort und wie stehen wir dazu? Dieser Fragebogen muss so angelegt sein, dass andere ArbeiterInnen ihn auch selbst beantworten oder in Diskussionen einsetzen können. Schwerpunkt: Diskussion, Agitation.
* Einen weiteren kürzeren Fragebogen für Interviews mit AktivistInnen oder sonstigen Bekannten zu dem, was in "deren" Läden gerade abgeht. Dabei geht es vor allem um den Austausch von Kampferfahrungen, die wir auch weiter diskutieren und verbreiten können. Schwerpunkt: Reflektion, Austausch. Dieser Fragebogen kann auch für selbst geschriebene Berichte eingesetzt werden.

Website
Wir haben auf der Website viele Texte und Berichte von uns und anderen veröffentlicht, die ansonsten wahrscheinlich in Ordnern oder auf Festplatten verstaubt wären. Das Berichteschreiben hat uns einiges gebracht: rausfinden, auf was es ankommt, wie mensch das literarisch umsetzen kann. Leider lässt sich schwerer als zum Beispiel bei Flugblättern einschätzen, ob diese Berichte - zu Streiks in Italien oder über das Leiden junger Datentypisten - auch gelesen und diskutiert werden.
Konkret haben wir die Erfahrung gemacht, dass die Website nicht wie geplant zu einem Forum geworden ist, an dem andere ArbeiterInnen teilnehmen, indem sie ihre Erfahrungen einbringen. Berichte wurden nur vereinzelt eingesandt. Es ist die Frage, ob hier ein elektronisches Medium überhaupt weiter hilft.
Daneben hat die Website aber als Referenzpunkt funktioniert. GenossInnen wie ArbeiterInnen konnten jederzeit Flugblätter, Berichte und Übersetzungen lesen und runterladen. Das hat die Kommunikation erleichtert, weil wir nicht auf Verschicken von Texten angewiesen waren. Zudem konnten wir zum Beispiel das hotlines-Flugblatt aus Brighton/England und Material aus Italien dokumentieren.
Sicher ist, dass Kontakte über die Website zustande kamen, die sich schwerlich über andere Medien ergeben hätten. Eine wichtige Kritik war, dass die Berichte auf der Website zu kurz und die behandelten Punkte beliebig waren. Sie taugen wenig für Vergleiche oder gemeinsame Lernprozesse. Sinnvoll ist da eine Frageliste, nach der die Berichte geschrieben werden.
In Zukunft steht das Problem auf der Matte, wie wir zu einer "globaleren" Website kommen können, welche die Situationen in mehr Bereichen der Ausbeutung aufgreift und Infos zu Kämpfen liefert. Infos, die aber nicht den bürgerlichen Medien entnommen sind, sondern von revolutionären Initiativen vor Ort kommen. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Frage...[13]

Flugblätter
Wir hatten zu Anfang Auseinandersetzungen darüber, ob wir überhaupt allgemeine Flugblätter schreiben sollten, das heißt Flugblätter, die sich nicht auf konkrete Diskussionen oder Konflikte in einem speziellen Betrieb beziehen, sondern auch allgemein was zu Ausbeutung sagen. Für die konkreten Flugblätter (die wir dann ja auch gemacht haben) sprach die Hoffnung, dass sie intensivere Diskussionen und vielleicht sogar Reaktionen auslösen, in die wir uns direkter einmischen könnten. Für die allgemeinen Flugblätter[14] sprach, dass wir selbst mehr Raum hätten, die ganze Bandbreite der Ausbeutung darzustellen: von den Versuchen, die Arbeit zu intensivieren, über den Widerspruch zwischen Qualität und Quantität bis zu der Frage der gewerkschaftlichen Vertretung. Zudem wollten wir die Flugblätter nicht nur vor "unseren" Call Centern, sondern in der ganzen Region und darüber hinaus verteilen.
Die letztendliche Entscheidung, eine Flugblattserie zu verschiedenen "Themen" zu machen, war auch durch die Einschätzung beeinflusst, dass die momentanen Konflikte in Call Centern nicht allzu offen und zahlreich auftreten. Die Serie hat uns aber - im Nachhinein betrachtet - einige Probleme gebracht: Wir haben versucht, zwischen allgemeiner politischer Analyse und konkreter Situation eine Brücke zu schlagen, indem wir zu den einzelnen "Themen" konkrete Berichte aus Call Centern hinzufügten. Dabei sind wir zwischen den Ebenen hängen geblieben. Wir hätten statt dessen einerseits "politischere" Flugblätter schreiben können, mit Bezug auf die allgemeine Lage (Krieg, Krise, Umbau der Ausbeutung, Rolle der Gewerkschaften). Andererseits wäre es möglich gewesen, uns speziell auf einen Betrieb zu stürzen, um die Veränderungen der Ausbeutung, wie der gesamten Betriebsorganisation, genauer zu analysieren und zu kritisieren. Allerdings hätte es dann ebenso einen Balanceakt gegeben: Einerseits in der "Weltsicht" nicht den Bezug zur konkreten Situation der ArbeiterInnen verlieren, andererseits nicht im Betriebssumpf versacken...
Es ist schwer einzuschätzen, ob wir wirklich brauchbare "Kampfinformationen" mit den Flugblätter liefern konnten, was unser eigentlicher Anspruch war. Wir haben in den ersten drei Flugblättern der Serie in erster Linie über die unterschiedlichen Bedingungen schreiben können, plus allgemeine Infos, zum Beispiel in welchen Städten es andere Call Center des Unternehmens gibt. Im letzten Flugblatt gab es zwar ein paar Schlüsse aus Kämpfen in Call Centern, wie zur Rolle der Vertretungsorgane, Schwierigkeiten mit Unterschriftenlisten und das Problem des Ausweichens auf nicht-bestreikte Call Center. Aber es gab kaum Konflikte, in denen diese Schlüsse auf die Probe gestellt worden wären.

Reaktionen
Wir stellten fest, dass die Flugblätter zu Konflikten in einem speziellen Call Center die heftigeren Reaktionen provozierten, sowohl vonseiten der ArbeiterInnen, als auch vom Management. Beim Verteilen eines Flugblatts zu erzwungenen "Standardformulierungen" bei Quelle hat sich dass zum Beispiel so geäußert:

Ich war allein und abends vor der Quelle. Die ersten zwei waren erst desinteressiert, aber als sie hörten, dass es um die Standardformulierungen geht, waren sie erstaunt und haben ein Flugblatt genommen. Kurz danach kam eine große Teamleiterin und eine kleine dicke Betriebsrätin. Die Teamleiterin, welche die Teile schon in der Hand hielt, erklärte mir, dass wir zu wildem Streik aufrufen würden, das nicht rechtens sei und die Geschäftsleitung ein paar Schritte unternehmen wird. Sie wollte auch meinen Namen haben. Zwei andere ArbeiterInnen kamen raus, ein älterer Herr fragte, ob er auch eines haben könne und in Richtung Teamleiterin, ob er es auch lesen dürfe. Sie lachte etwas hysterisch und meinte: "Wenn sie mal richtig lachen wollen, Herr Vorname/Nachname. Da beklagt sich wirklich wer, dass er vom Wecker geweckt wird". Der Betriebsrätin war das dann doch etwas zu unsachlich und wandte sich etwas vertrauensvoller an mich: "Die Sache ist doch zum Scheitern verurteilt! Selbst wenn wir hier 300 Leute unter einen Hut kriegen und 15 Minuten die Arbeit niederlegen, dann sind wir weg vom Fenster, rein rechtlich gesehen. Engagiert euch doch in der Gewerkschaft". Ich erzählte ein wenig über die Reallohnverluste und den Arbeitsplatzabbau, den mir meine Gewerkschaft in den letzten Jahren erkämpft hat, was sie auch lächelnd zur Kenntnis nahm. Der Teamleiterin wurde es dann ein wenig zu vertrauensvoll: "Bald sind ja Betriebsratswahlen, da könnte man sich ja auch beteiligen. Ansonsten darf ich wohl davon ausgehen, dass hier weiterverteilt wird?!" Jo.
Nach einem Toilettenbesuch "Beim Püppchen" traf ich zurück vor dem Eingang noch auf einen jungen Typ, der mir mit den Worten "Macht weiter!" auf die Schulter klopfte, was angesichts der niedrigen Außentemperaturen eine angenehme Wärme hinterließ. Zusammen mit meinem verspäteten Flugblattverteil-Genossen kam dann noch ein Schwung von ArbeiterInnen. Alle wollten ein Flugblatt haben. Eine erhob direkt theatralisch die Stimme und wir ahnten Fürchterliches. "Könnt ihr es eigentlich verantworten, die Arbeitsplätze von anderen Menschen zu gefährden". Wir wussten, dass wir jetzt mit dieser Unperson vor den anderen ArbeiterInnen zu battlen haben werden und wir hatten schweren Stand, da sie einige Beifallsbekundungen wie "Ich arbeite auch gern hier" etc. bekam. Wir erzählten was von "nicht auf den Knien rumrutschen", "nicht alles für den Arbeitsplatz" und "kein Ausspielen gegeneinander" etc. Die Tuse versuchte dann, mit einer wirklich magensäurepegelhebenden Rhetorik à la "Pass mal auf, Schätzchen" uns einzuschüchtern und wiederholte Folgendes einige Male: "Das Unternehmen kann den Laden jederzeit dicht machen; wir können stolz auch unsere Arbeit sein; wir leisten gute Qualität; nur zehn Prozent des Telefongesprächs sind Standardformulierungen; ich bin auch Anhänger von sozialistisch-kommunistischen Ideen; wenn es deinen Kollegen hier nicht passt, können sie ja woanders anfangen oder sich selbständig machen...
Da die anderen ArbeiterInnen recht schnell abhauten und die Tuse so sehr von sich und ihrem Unternehmen überzeugt war, machte es nach einer Zeit einfach keinen Spaß mehr und wir wünschten noch einen schönen Tag...


Später stellte sich dann heraus, dass die "Tuse" die Chefin von dem Laden war. Sie schrieb noch eine betriebsinterne Mitteilung an alle ArbeiterInnen, in der sie auf einfallslose Art und Weise vor dem Flugblatt warnte.
Ein anderes prominentes Beispiel ist die Reaktion der Firma ISI auf ein hotlines-Flugblatt gegen die Bedingungen dort. Erst schickten sie den VerteilerInnen die Bullen auf den Hals - allerdings erfolglos - dann dem Provider die Justicia. Es war auch das ISI-Flugblatt, dass ArbeiterInnen in die Hände bekamen, bevor sie vom Arbeitsamt zu ISI geschickt wurden. Sie schrieben uns dankbar, dass ihnen das Flugblatt geholfen hatte, den Job nicht zu bekommen. So was freut...[15]
Die sonstigen Reaktionen auf die Flugblätter vonseiten der ArbeiterInnen reichten vom Schultergeklopfe bis zu etwas mitleidigen Mienen, vom Weiterkopieren der Flugblätter auf dem betriebseigenen Kopierer bis zum unverhohlenen Desinteresse. Im Betrieb sorgten die Flugblätter meist für Aufregung... für ein oder zwei Tage. Die meisten ArbeiterInnen fanden vor allem die Berichte aus anderen Call Centern gut.
Zu den allgemeinen politischen Teilen überwog die Meinung: "Ja und? Das wissen wir doch. Und was sollen wir nun tun?". Das spricht einerseits gegen die Beunruhigung einiger GenossInnen, dass ArbeiterInnen bevormundet oder abgeschreckt werden, wenn mensch seine Analyse der Verhältnisse offen darstellt. Andererseits ist es ernüchternd für all die anderen, die meinen, dass mensch den ArbeiterInnen erst noch alles erklären muss, damit sie "revolutionär werden". Was sich festhalten lässt: Die Flugblätter haben einzelnen Unzufriedenen Zuspruch gegeben und konnten für kurze Zeit Bezugspunkt in der Pausenraumdiskussion sein. So zum Beispiel in der konkreten Diskussion, ob es etwas bringt einen Betriebsrat zu wählen oder nicht...
Wir hatten uns zu Beginn der Flugblattaktionen entschlossen, nicht zu allgemeinen Call Center-ArbeiterInnentreffen aufzurufen, aufgrund der Erfahrung, dass in bewegungsarmen Zeiten kaum Bedürfnis danach besteht, sich außerhalb der Arbeit mit "anderen ArbeiterInnen" zu treffen, um über die Arbeit zu diskutieren. Außerdem halten wir es in einer solchen Lage für wichtig, die Diskussionen direkt am Ort der Auseinandersetzung, in diesem Fall im Call Center zu führen, weil die Gefahr besteht, sonst die aktiveren ArbeiterInnen noch aus den konkreten Konflikten rauszuziehen. Zwar hofften wir, dass wir durch die Flugblätter in Kontakt mit Leuten kommen würden, um mit ihnen ihre Situation und mögliche Aktionen zu diskutieren. Aber wir erwarteten, dass sich diese Leute eher "politisch" für unser Treiben interessierten. Die elektronischen Antworten auf die Flugblätter bestätigten diese Einschätzung: Wir bekamen kaum Antworten von "ArbeiterInnen" aus der Region, die über ihre Lage berichteten. Die meisten Reaktionen kamen erstens von Teamleitern und anderen Schergen, die sich über unsere Aufrufe zur Sabotage beschwerten, zweitens von Leuten von der Gewerkschaft, die sich an unseren Interpretationen, zum Beispiel des Citibank-Streiks störten, und drittens von anderen Linken, die in Call Centern arbeiteten.
Letztere kamen allerdings kaum aus unserer Region. Uns erreichten mehr Antworten aus Italien, den USA oder Australien als aus Düsseldorf oder Dortmund. Das hatten wir anders erwartet: Mit Blick auf die Situation zum Beispiel in Berlin[16] dachten wir, dass mehr "Linke" in den Call Centern des Ruhrgebiets sitzen würden, die an Rabatz interessiert wären. In Bezug auf den Sinn und Zweck von (Flugblatt-)Interventionen bleiben einige offene Fragen:
* In welcher Situation können Flugblätter als Katalysatoren wirken, und in welchen Situationen dienen sie eher der Unternehmensleitung als Konfliktbarometer und ermöglichen es ihr, zu reagieren und Druck rauszunehmen?
* Sollen wir überhaupt über die Bedingungen in anderen Orten der Ausbeutung schreiben? Wann trägt es dazu bei, die eigene Lage zu kompensieren ("Woanders ist es noch übler!")? Wann wird deutlich, dass sich nur durch gemeinsame Aktionen was verbessert ("Woanders ist es auch nicht anders!")?
* Wann sind Flugblätter angebracht, und wann sind direktere Formen der Kommunikation besser und auch möglich?
* Die FreundInnen von der Call Center Offensive in Berlin kritisieren, dass wir uns zu sehr "zurücknehmen" würden: Wir machen keinen Rabatz, wir schlagen keine öffentlichen Treffen oder anderes vor. Vielleicht hätte ein offensiveres Vorgehen polarisieren können, vielleicht wäre es aber auch bei einer spontanen Aktion (mit anschließendem Rausschmiss) geblieben.

Maloche
Das Verhältnis zu anderen Ausgebeuteten ist kein "taktisches" - wie zwischen Funktionär und revolutionärem Subjekt - noch ist es ein "aufklärerisches". Das Verhältnis zwischen RevolutionärInnen und ArbeiterInnen ist das eines gemeinsamen Prozesses: wo liegt die Möglichkeit von ArbeiterInnenmacht und Selbstbefreiung in der täglichen Praxis der Ausbeutung... [kolinko, Subversion des Alltags, Oktober 1999]

Insgesamt haben die Hälfte von uns während der Untersuchung in rund zehn verschiedenen Call Centern gearbeitet, von der Katalogbestellannahme über Abo-Verkauf und Computer-Hotline bis zur Kontenstandansage, in Deutschland und zwei anderen europäischen Ländern. Wir haben angefangen, dort zu arbeiten, bevor wir den Fragebogen entwickelt und die theoretischen Diskussionen geführt haben. Durch die Entscheidung, nicht zusammen in einem Call Center zu arbeiten, konnten wir einerseits unterschiedliche Erfahrungen zusammenbringen. Andererseits beschränkte uns das Alleine-im-Betrieb-Sein im Arbeitsalltag meist auf bloßes Beobachten und Diskutieren.
Zwar trafen wir oft auf ziemlichen Unmut und Schimpfkanonaden, aber selten auf Situationen, wo gemeinsame Aktionen gegen den Arbeitsstress möglich waren. Wir haben nur wenige Gelegenheiten genutzt, um die Diskussion über unseren Kreis hinaus auszuweiten, zum Beispiel als wir FreundInnen aus einem "unser" Call Center einluden, um über ein Flugblatt und ein Streikinterview zu diskutieren. Andere "Diskussionszusammenhänge" entstanden direkt bei der Arbeit. Eigentlich hatten wir auf gerade diese Treffen gesetzt, um von einer Intervention - Flugblätter vor dem Call Center verteilen... - zu anderen Formen übergehen zu können. Aber dazu später mehr. Insgesamt lässt sich nicht verallgemeinern, dass unsere "Betriebszugehörigkeiten" zu lang oder zu kurz (sie reichten von zwei Monaten bis zu zwei Jahren) oder wir zu zurückhaltend oder zu lautstark waren. Uns war klar, dass wir keine Konflikte lostreten können. Trotzdem gab es auch Frustration darüber, dass zum Beispiel die Flugblätter so wenig Folgen hatten. Wir hatten zu wenig über das konkrete Verhalten von "RevolutionärInnen" im Betrieb diskutiert und verhielten uns dann auch unterschiedlich:

Bei der Bank habe ich erstmal geschaut. Nach zwei Wochen gab es eine Diskussion darüber, was wir machen können, damit wir mehr Lohn kriegen. Immerhin hatten die Chefs angefangen, uns mehr Aufgaben zuzuschanzen. In der Diskussion habe ich versucht, die Frage des Lohns nicht auf die Aufgaben zu beziehen, sondern darauf, dass wir besser leben wollen, was mit mehr Lohn einfacher ist. Das lief als Zweier-Diskussion und zum Teil als gemeinsames Gespräch mit allen. In späteren Diskussionen habe ich zum einen versucht, mit den Citibank-Streikenden ihre Erfahrungen zu klären (was war wichtig am Streik, was ist jetzt anders, welche Probleme haben wir hier...). Einigen habe ich erzählt, warum ich da bin. Die Reaktionen waren Zustimmung, dass es wichtig ist, was zu machen; zum Teil Unverständnis, warum in dieser Art... [Duisburg, 2000]

Oder so:

Mit denen, die schon länger da arbeiten, habe ich diskutiert: Was sie über die Lohnsenkung denken, wie sie damit klar kommen, was sie über die Firma denken... Die Reaktionen war: Scheißladen, mit dem Geld komme ich nicht klar, suche mir was anderes... Bei den Neuen habe versucht rauszukriegen, warum die da arbeiten (die fragen mich das auch...). Für die meisten eine Zwischenlösung, bis sie was Besseres kriegen. Der erste Eindruck von dem Laden ist bei allen negativ: chaotisch, die behandeln die Leute schlecht. Positiv dagegen der Eindruck von den anderen ArbeiterInnen. Es ist leicht, mit denen zu diskutieren. Einige haben schon in anderen Call Centern gearbeitet... Dann gab es gleich eine Story: In meinem Team arbeitet ein Arschloch, von dem viele wissen, das er andere beklaut. Keiner kann ihm was nachweisen, aber der schleicht halt rum und dann sind die Sachen weg. Erst dachte ich, das ist Mobbing, aber diejenigen, die das erzählen, sind keine Idioten. Dann gibt's in meinem Team noch ein Arschloch, der neuen Leuten falsche Infos gibt, angeblich weil er nicht will, dass die "besser" werden als er. Eher so ein Weicheiarmesschweintyp, der keine mehr abkriegt. Einige von uns Neuen haben sich verständigt, dass die beiden a) eins auf die Finger kriegen und b) wir uns untereinander abstimmen und gemeinsam reagieren, falls was passiert. [Köln, 2001]

Einige von uns waren offener, haben relativ schnell mit anderen ArbeiterInnen über unsere Versuche diskutiert, die Flugblätter weitergereicht... Andere haben sich eher zurückgehalten, wollten keine krasse Konfrontation, keinen schnellen Rausschmiss riskieren. Dieses unterschiedliche Verhalten hing zum einen davon ab, ob sich andere korrekte ArbeiterInnen finden ließen, mit denen wir offen umgehen konnten. Zum anderen spielte aber auch unsere unterschiedliche Mentalität eine Rolle, ob wir uns gerne mit den Teamleitern anlegen und Zoff machen, ob wir eher auf die stille Tour Kontakte zu anderen ArbeiterInnen aufbauen wollten...
Wir haben nicht viele rebellische Leute gefunden - oder sie uns. Sonst hätten wir offensivere Maßnahmen ergreifen können. Wir hatten zum Beispiel eine Besetzungsaktion geplant, um nicht nur lahm vor dem Call Center zu stehen und Flugblätter zu verteilen, sondern den Arbeitsalltag wirklich durcheinander zu bringen. Leider waren wir dann aber zu wenig Leute, um die Aktion durchzuziehen. Aber auch hier hätte die Gefahr bestanden, die Passivität der ArbeiterInnen durch eigene Aktivität wettmachen zu wollen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Abwesenheit von offenen Kämpfen unseren eigenen Bewegungsspielraum beschränkte. So blieben wir in der Trennung von Flugblätter vor dem Tore-Verteilen und Mitdiskutieren auf Arbeit hängen. Wenn sich in Kämpfen keine neuen Fragen stellen, ist unsere Position eine - wenn auch radikalere - Meinung neben anderen. Wir haben uns gefragt, was Flugblätter oder andere Formen der Intervention überhaupt bringen, wenn sie nicht auf eine Selbstaktivität der ArbeiterInnen Bezug nehmen können. Wir glauben nicht, dass Interventionen in der Flaute zwangsläufig zu avantgardistischen oder gewerkschaftlichen Aktionen verkommen, aber sie werden äußerlich bleiben. Das mag auch der Grund sein, warum die Untersuchung in unseren Händen blieb und keine ArbeiterInnen-Selbstuntersuchung wurde, in der wir mit anderen ArbeiterInnen über den politischen Inhalt des Arbeitsalltags diskutieren, um gemeinsame Strategien für den Kampf zu entwickeln.

3.4 Wie wurde der Vorschlag in der Linken aufgenommen [top]

Vielen Reaktionen nach zu urteilen - Reaktionen von Linken und anderen, die in Call Centern arbeiten - ist es momentan schwer zu vermitteln, wie Interventionen in der Ausbeutung und eine Perspektive gesellschaftlicher Veränderung zusammenhängen. Wir konnten nicht rüberbringen, dass wir Untersuchung weder als gewerkschaftliche Ergänzung zu den sonstigen politischen Aktivitäten vorschlagen, noch als Betriebsarbeit begreifen, sondern als eigenständige Methode sehen, sich am Montageband, unterm Headset oder in der Ämterschlange gegen die Klassengesellschaft zu organisieren. Eine Methode, in der sich die Trennungen zwischen politischem und ökonomischem Kampf und Aktivist und Proletarierin aufheben.[17]
Das führte dazu, dass wir zwischen den Welten hingen: Auf der einen Seite verteilten wir unsere Flugblätter zur Ausbeutung vor und in Call Centern, in denen wenig über unsere sonstige Sicht auf die Welt (Krise, Krieg, politische Bewegungen) steht. Auf der anderen Seite diskutierten wir politisch mit der Linken über Anti-Globalisierung und Konsorten und versuchten zu vermitteln, wie unsere Interventionen in den Betrieben mit unserer Kritik an der Bewegung zusammenhängt.
Gründe dafür liegen auf verschiedenen Ebenen. Zuallererst an der momentan realen Trennung von ArbeiterInnenkämpfen und politischer Bewegung. Da es in unser Region wenig Kämpfe gibt, können sich weite Teile der Linken in Selbstgenügsamkeit zurückziehen oder weiter Bewegung spielen und in ihrem politischen Sandkasten buddeln. An dieser Situation lässt sich wenig ändern. Wichtiger ist rauszufinden, wo wir selbst durch die Trennung von politischen Untersuchungsvorschlägen und Flugblättern "für die ArbeiterInnen" solche Etiketten wie "politisch" oder "gewerkschaftlich" reproduzierten.
Wir haben durch und während der Untersuchung Diskussionen mit unterschiedlichen Gruppen der "Linken" gehabt. Diese Diskussionen lassen sich recht schematisch wie folgt unterteilen:
* Diskussionen mit anderen Gruppen, die einen ähnlichen Bezug zur Klassenrealität haben wie wir selbst. Hier ergab sich durch die Untersuchung ein regelmäßiger Austausch mit Gruppen in verschiedenen Regionen. Leute schickten uns Material aus Frankreich, Spanien, den USA... Der Untersuchungsvorschlag und die Flugblätter wurden auch übersetzt und weiterverbreitet. Durch die Untersuchung hat sich auch eine intensivere Zusammenarbeit mit Gruppen in England und Italien ergeben, mit denen wir sowohl über den Ansatz der Untersuchung, über Arbeitsalltag in Call Centern, als auch über die konkreten Flugblätter diskutieren.
* Diskussionen mit linken Initiativen (StudentInnen-Gruppen, Diskussionszirkel, LinksgewerkschafterInnen), die sich in erster Linie für das "Thema Lohnarbeit" interessierten. Für Veranstaltungen wurden wir als "Experten" für Call Center als moderner Form der Ausbeutung eingeladen. Das Interessante bei den Veranstaltungen war, dass unterschiedliche Leute zusammenkamen: Call Center-ArbeiterInnen,[18] Linke, die im Call Center jobbten und wissen wollten, was daran jetzt politisch wichtig sein soll, und solche, die sich für uns als "politische Initiative" interessierten.

Auch hier hatten wir Schwierigkeiten, den politischen Ansatz der Untersuchung rüberzubringen: Untersuchung und Intervention nicht als ein Teilbereich neben vielen anderen "linken Themen", sondern als umfassender Ansatz, sich innerhalb der Klassenrealität zu organisieren. Unsere Entscheidung, uns auf einen bestimmten Sektor zu konzentrieren, hat es uns dabei nicht einfacher gemacht. Oft wurde es so missverstanden, dass wir uns für Call Center interessierten, weil dort die Ausbeutung besonderes übel sei, oder eben weil es irgendwie modern ist. Besonders deutlich wurde dieses Verhältnis vieler Linken zur Ausbeutung beim Zensurversuch gegen "ISI-Kampagne".[19] Etliche linke Gruppen und Medien griffen diesen Fall auf. Aber für sie stand meist nicht die Frage im Vordergrund, wie mensch sich direkt gegen die kapitalistische Drangsalierung in einem solchen Laden wehren kann, sondern die "besonders miesen" Bedingungen und der Zensurversuch von ISI gegen einen Internetprovider.
Insgesamt denken wir, dass die Untersuchung und die Flugblätter etliche Leute inspiriert haben. Von vielen Seiten bekamen wir zu hören, dass unser Ansatz "korrekt" sei, weil wir nicht nur über das "Thema Arbeit" reden, sondern konkret was machen, und weil wir weder auf bestehende Vertretungsorgane setzen, noch neue aufbauen wollen. Aber die mangelnden Kämpfe vonseiten der Klasse bringen auch in Bezug auf die Linke die gleichen Probleme mit sich, wie wir sie auf Arbeit hatten: Wenn es keine Selbstaktivität der Ausgebeuteten gibt, scheinen die klassischen linken oder gewerkschaftlichen Organisationsformen die einzig praktikable Möglichkeit, was zu tun oder zu verbessern. Zum Beispiel werden viele so lange zu den "Events hoppen", wie nichts Aufregenderes in unserer Umgebung passiert, oder so lange zum Vertrauensmann rennen, bis sie Vertrauen in ihre eigene Stärke gefunden haben.
Was hätten wir an diesem Punkt trotzdem anders machen können? Erstens einige Sachen deutlicher machen:
* die Kritik daran, wie sich die Linke - die Anti-Globalisierungsmobilisierung, die Interessengruppen, die Parteien - auf die Klassenrealität bezieht oder nicht bezieht;
* dass wir keine andere "politische Organisation" wollen;
* dass wir nicht bei einer bloßen Kritik stehen bleiben, sondern einen Austausch von Initiativen vorschlagen, die sich an verschiedenen Orten innerhalb dieser Klassenrealität bewegen und dabei auch ihre eigene Situation als Proletarisierte in den Mittelpunkt stellen.

Eher im Stil "direct action auch in deinem Call Center". Wir haben das an verschiedenen Stellen gesagt, aber nicht auf einen zentralen Punkt gebracht. Zweitens hätten wir uns energischer in die Debatte zur New Economy einmischen können, um den hype vieler Linken um Linux und andere "open source"-Software sowie den Firlefanz um "immaterielle Arbeit"[20] auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

3.5 Was hat uns bewegt, was würden wir heute anders machen [top]

Erstmal zu dem, was uns gepusht hat. Es gab eine Bewusstseinserweiterung, vor allem die Erfahrung, dass wir den theoretischen Diskussionen was Praktisches folgen lassen und Theorie, Erfahrungen bei der Arbeit und politisches Handeln zusammenkommen können. Es hat Bock gemacht, die Flugblätter zu verteilen und zu sehen, dass sie für etwas trouble sorgen, sich die kleinen Chefs darüber aufregen. Die Untersuchung hat uns auch mehr Verbindungspunkte zu anderen GenossInnen gegeben, die Diskussionen und der Austausch mit Leuten aus verschiedensten Regionen wurde intensiver, das Gefühl der Isolation schwächer.
Es gab aber auch Sachen, die anstrengend bis nervig waren: Die lange Voruntersuchung hat uns viel Puste gekostet, die uns nachher fehlte. Wir fragen uns, ob wir die Flugblätter nicht auch nach zwei Monaten Lesen, Diskutieren und Arbeitserfahrung hätten schreiben können. Die Entscheidung, eine Serie zu machen, hat uns unter Druck gesetzt, unsere Spontaneität unterdrückt. Die Diskussionen über die Flugblätter wurden zuweilen haarspalterisch, und indem wir jedes Wort dreimal umdrehten, verloren die Flugblätter an Esprit. Auch haben wir die Rolle des geschriebenen Wortes nicht so in Frage stellen können, wie erhofft: Wir hatten gedacht, dass wir auch andere Formen des kreativen Ausdrucks - Plakate, Happenings... - fänden, welche zudem die gruppeninternen Hierarchien von Viel- und WenigschreiberInnen zerrütteln könnten. Dabei spielte auch eine Rolle, dass wir uns unter Zeitdruck gesetzt haben.
Das sind mehr oder weniger strategische Fehler. An manchen Punkten schien uns, als gingen miese vibes ab, die in fast jeder politischen Gruppe zu finden sind und die daher mit dem Wesen von Gruppen zusammenhängen müssen. Wir können erstmal nicht mehr, als dies beschreiben: Einige hatten ein Gefühl von Außendruck. Jedes geschriebene und veröffentlichte Wort sollte hieb- und stichfest sein...[21] Das führte dazu, dass wir unsere Texte mehr oder weniger den gängigen Forme(l)n anpassten, aber auch, dass die politischen Texte als das Zentrale und Wichtigste der Gruppe erschienen. So veränderte das Produkt auch den Prozess: Die Diskussionen wurden zuweilen kleinlich und die Schreiber, die diese "politischen Forme(l)n" beherrschen, auch.
Wir wissen selbst nicht genau, wie so ein Außendruck entsteht, denken aber, dass sich in der momentan lauen Lage des Klassenkampfs RevolutionärInnen zwangsläufig in kleinen Gruppen zusammenfinden, die sich dann tendenziell zu viel mit sich selbst beschäftigen. Die politische Äußerung in dem linken Mikrokosmos wird wichtiger als die Auseinandersetzung mit den konkreten Erfahrungen.
Aber wir wollen auch nicht warten, bis wir mit der Klassenbewegung verschmelzen können. Gibt es also Formen, die über die Gruppen hinausgehen? Unser Verlangen nach größeren, offeneren Treffen wächst. Wir sollten versuchen, aus den Zirkeln kein Zuhause zu machen...[22]
Bei unseren nächsten Versuchen werden wir einige Sachen anders machen. Hier sind Fragen, die wir dazu diskutieren:
* Wie lässt sich die Trennung von erst Voruntersuchung und dann Intervention aufweichen, um dadurch die Durststrecke von Materialsammeln und Analysieren zu sparen und gleich in spannendere Auseinandersetzungen zu kommen?
* Wie lässt sich ein Vorschlag zur Untersuchung schreiben, eine kürzere, zündendere Version, die neben den eingefleischten MarxistInnen auch andere anspricht?
* Sollen wir uns nur auf einen Bereich stürzen, oder verstellt das den Blick auf andere interessante Ausbeutungssituationen in der Region?
* Sollen wir uns auf zwei oder drei Orte, Betriebe, Call Center konzentrieren und dazu konkretere Flugblätter schreiben?
* Wie schaffen wir es, weg von der Fixierung auf "Texte-Produktion", andere Kommunikationsmittel zu entwickeln und einzusetzen?
* Sollen wir zu mehreren in einen Betrieb gehen, um den Alltag genauer diskutieren zu können und dort mehr Rückendeckung zu haben?
* Wie können wir im Betrieb mehr Radau machen, anstatt in erster Linie zu beobachten?
* Wir fragen uns, ob es auch angesichts unserer begrenzten Kräfte strategisch richtig ist, sich zwei oder drei Jahre auf einen Bereich zu konzentrieren, in dem klassenkampfmäßig vorher nicht viel passiert ist (und dann andere Konflikte etwas aus dem Blick zu verlieren).

Welche Schlüsse wir daraus ziehen, erfahrt ihr im letzten Teil... (damit's hier noch spannend bleibt).


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Fußnoten

5 Im Internet: [www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/deut/d_kosub.htm] [zurück]

6 Sprich die Lektüre von Texten aus Italien zum Bereich Untersuchung, zum Beispiel der Quaderni Rossi von Anfang der sechziger Jahre. Siehe dazu unter 8. Anhang: Literatur und Links. [zurück]

7 Siehe unten unter "Maloche". [zurück]

8 Der Vorschlag wurde u.a. von Collective Action Notes/USA veröffentlicht. Im Internet: [www.nadir.org/nadir/initiativ/kolinko/deut/d_ccvor.htm] [zurück]

9 [www.motkraft.net/hotlines] [zurück]

10 Siehe weiter unten unter "Flugblätter". [zurück]

11 Wir haben nur so wenige Interviews gemacht, weil a) wir einen Fragebogen hatten, der zu lang war (über 150 Fragen), und damit jedes Interview lange dauerte und noch mehr Zeit für das Abtippen drauf ging; b) einige Interview-PartnerInnen erst zu- und dann wieder absagten, weil sie keine Lust hatten, das als Gefährdung sahen...; c) wir den Arsch nicht hochkriegten, mehr zu machen; d) einige statt Interviews eher nur Gespräche auf Arbeit führten... [zurück]

12 Dazu mehr unter 7. Vorschlag am Ende dieser Schrift. Unter 8. Anhang findet ihr alle Fragebögen. Aktualisierte Fassungen könnt ihr auch auf der Website runterladen: [www.prol-position.net] [zurück]

13 Auch dazu mehr unter 7. Vorschlag. [zurück]

14 Die Flugblätter aus der Serie findet ihr alle unter 8. Anhang: Flugblätter. [zurück]

15 Der Angriff auf die hotlines-Website bei [www.free.de] hatte zur Folge, dass free sich durch erhebliche Geldstrafen bedroht sah. ISI argumentierte mit dem Wettbewerbsgesetz und sah sich durch die Darstellung im Flugblatt herabgesetzt und beleidigt. Toll war, dass viele Leute und Gruppen aus dem linken und Anti-Zensur-Spektrum das aufgriffen, das Flugblatt dokumentierten und weiter verbreiteten, und somit dafür sorgten, dass die Bedingungen und der Zensurversuch von Brisbane über Frankfurt bis San Francisco bekannt wurden. Zeitweise ergab die Eingabe "ISI" in einer Suchmaschine erstmal vierzig Hinweise auf das Flugblatt... [zurück]

16 Siehe dazu auch unter 6. Auseinandersetzungen zur Unterstützungsinitiative Call Center Offensive. [zurück]

17 Trennungen, die wir zum Beispiel bei Maschinenbauingenieuren treffen, die tagsüber Malocher scheuchen und abends Antifa spielen; oder bei Büroangestellten und Arbeitslosen, die sich "antirassistisch" engagieren, aber das nicht mit ihrer eigenen Ausbeutungssituation zusammen thematisieren... [zurück]

18 Darunter auch frustrierte Team-LeiterInnen, die mit dem Widerspruch ihres Jobs - dem Zwang zum Kontrollieren "alter" KollegInnen - nicht klarkamen. [zurück]

19 Siehe Fußnote 15. [zurück]

20 Mit der Linux/open source-Diskussion verbinden einige, dass die Tatsache, dass diese Programme weitgehend ohne Entlohnung geschrieben und vertrieben wurden und jeder Mensch (mit der entsprechenden Qualifikation) wegen der transparenten Programmierung da mitmachen kann, schon eine kommunistischen Tendenz zeigt. Die Leichtigkeit, mit der IBM gerade diese Programme in sein Verkaufskonzept integriert, und der Versuch der deutschen Behörden, Linux in der Verwaltung einzuführen, zeigen, dass die Programme an sich auch nur als Ware rumgehen, in der halt viel nicht-entlohnte Arbeitszeit steckt. Die Produktivität kollektiver Tätigkeit wird somit glatt in kapitalistische Produktivität übersetzt. Die Diskussion der "immateriellen Arbeit" - unter anderem vertreten durch Negri und Lazzarato - beruht auf der blöden These, dass Arbeit heute zur "Kommunikationsarbeit" geworden ist, in der die Kreativität der "immateriellen ArbeiterInnen" gefragt ist, ihre kommunikativen Fähigkeiten... Sie sehen darin auch eine kommunistische Tendenz. Faktisch begründen damit bestimmte "immaterielle" Intellektuelle, dass sie selbst im Zentrum der sozialen Prozesse stehen. Durch einen Blick in die Fabriken, Call Center, Krankenhäuser dieser Welt lässt sich die These leicht aushebeln: Die meisten ArbeiterInnen sehen sich weiter ausgepresst durch das kapitalistische Verhältnis und haben keine eigenständige Kreativität entwickeln können... [zurück]

21 Wobei dieser Druck auch von "innen" kommt: Wir wollten die Flugblätter so schreiben, dass sie analytisch korrekt und gleichzeitig verständlich sind. Außerdem gab es Kritik von anderen GenossInnen, die in die Diskussion eingehen sollte... [zurück]

22 Auch dazu mehr im Abschnitt 7. Vorschlag. [zurück]


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