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Wir sind auf der Suche nach den Momenten des Aufbegehrens und der Subversion. Am Anfang der Untersuchung und Intervention in Call Centern hatten wir gehofft, dass wir diese zwischen all den Telefonanrufen und Qualitätsprüfungen finden und mitmischen können bei den Versuchen von ArbeiterInnen, ihre Situation in die eigenen Hände zu nehmen. So einfach war's aber nicht! Wir haben andere ArbeiterInnen getroffen, die rumgemotzt haben, die was ändern oder sich nichts gefallen lassen wollen - aber eben auch Situationen, in denen die meisten zaghaft und ängstlich blieben... oder gar ahnungslos verharrten oder bei den Kapos rumschleimten...
Im folgenden Teil wird es um die Konfliktpunkte, Kampflinien und Organisierungsformen gehen. Zunächst setzen wir noch mal bei der täglichen Ausbeutung an. Die Konfliktpunkte entstehen im täglichen Ringen um die Arbeit, die Kontrolle, den Stress, die Langeweile. Es geht um Hire and Fire, Geld, "freie" Zeit und Würde.[84] Entlang der Punkte entstehen Kampflinien wie Sabotage oder Streiks. Wir schauen uns an, welche Erfahrungen die ArbeiterInnen darin machen und wo die Begrenzungen liegen. Entlang der Linien bilden sich wiederum Organisierungsformen: Vertretungsapparate wie Betriebsräte und Gewerkschaften, in Abgrenzung dazu zum Beispiel in Italien sogenannte Basisgewerkschaften, in Deutschland Unterstützungsinitiativen. Daneben gibt es Versuche der Selbstorganisierung von ArbeiterInnen. Wir haben uns das kritisch angesehen und Thesen für die weitere Diskussion formuliert.
6.1 Konfliktpunkte
[top]
Call Center waren und sind ein Angriff auf die Weigerung vieler BüroarbeiterInnen, eine Verschlechterung ihrer Bedingungen hinzunehmen (in Banken, Versicherungen, bei Post, Telekom und in anderen Bürobereichen). Call Center, das bedeutet für viele ArbeiterInnen verlängerte Arbeitszeiten, Zwang zur Schichtarbeit, Dauerkontrolle und Intensivierung der Arbeit. Arbeiten im Call Center, das heißt mal Stress, mal Langeweile, Freundlichkeitszwang und Kunden-Abservieren, zu wenig Kohle und zu viele Stunden des Lebens für den Job. [hotlines Nr.1, Oktober 2000]
Damit sind die wichtigsten Linien, an denen Konflikte und Kämpfe in Call Centern stattfinden, schon genannt. Wir können nicht alle Call Center über ein Headset scheren. Die Bedingungen sind unterschiedlich und reichen von einem Laden wie Atesia in Italien, wo die ArbeiterInnen formal "selbständig" sind, ihr Arbeitsgerät "mieten" müssen und der "Lohn" kaum zum Leben reicht, über Quelle in Deutschland, wo die ArbeiterInnen praktisch pausenlos Bestellanrufe bearbeiten, bis zu bestimmten Abteilungen von Hewlett Packard in den Niederlanden, in denen die ArbeiterInnen zum Teil kaum zwanzig Anrufe am Tag reinkriegen, aber wegen der ständigen technischen Neuerungen zu "freiwilligen" Selbstschulungen "motiviert" werden müssen.[85] Zwar ist die eingesetzte Maschinerie (PCs, Computernetze, Headsets, Telefonanlagen, Software) ebenso wie die Arbeitsorganisation (Schulungen, Teamleiter, Front/Back Office...) in den meisten Buden ähnlich, aber die Arbeitsaufgaben und Vertragsverhältnisse unterscheiden sich erheblich, was auch Auswirkungen auf die Konflikte und Kampfformen hat.
Arbeitszwang und Arbeitsbedingungen sind keine einzelnen Konflikte, sondern bilden einen Zusammenhang, der unser Leben bestimmt. Bei unseren Untersuchungen und Interventionen muss es darum gehen, diesen Zusammenhang ins Zentrum zu rücken und klarzumachen, dass nur die Überwindung des Klassenverhältnisses auch eine endgültige Lösung der Konflikte verspricht. Das ist nicht einfach, wollen wir gleichzeitig auf die konkreten Bedingungen eingehen. Als Einstieg hier die Punkte, an denen Konflikte entbrennen:
a [Unsichere Arbeitsverhältnisse]
b [Auslagerungen]
c [Arbeitszeitverlängerung, Lohndruck und Intensivierung der Arbeit]
d [Überwachung und Kontrolle]
e [Willkür und Verarsche]
f [Fazit]
Unsichere Arbeitsverhältnisse
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Die Kapitalisten versuchen, in Call Centern prekäre (ungesicherte) Arbeitsverhältnisse durchzusetzen: Zeitarbeit, befristete Arbeitsverträge, Praktika, Scheinselbständigkeit...[86] Call Center sind eine (relativ) neue Form der Arbeitsorganisation, insofern auch Spielwiese für die Consulting-Schergen und Arbeitswissenschaftler, auf der Suche nach der optimalen Ausbeutungsform menschlicher Arbeit. Hier einige Beispiele:
Bei der British Telecom werden seit Jahren Leute über Zeitarbeitsfirmen eingestellt (unter anderem Manpower, Hays). Sie machen die gleiche Arbeit wie die Festangestellten, verdienen aber weniger. Einige werden so über zehn Jahre beschäftigt, ohne die gleiche Entlohnung und andere Leistungen der British Telecom. Andere werden nach kurzer Zeit wieder geschasst - wenn sie nicht selber kündigen.
Bei Bertelsmann (Verlag) in Münster bekamen die ArbeiterInnen 2001 nur auf sechs Monate befristete Verträge. Nach Ablauf des Vertrages werden nur wenige weiter "beschäftigt"... wieder mit befristeten Verträgen. Auf die Art schafft es Bertelsmann jedes Jahr die Belegschaft komplett auszutauschen.
Bei Blu (Mobilfunk) in Italien wurden 1999/2000 viele der vierhundert Leute im Call Center bei Firenze mit sogenannten Ausbildungsverträgen (CFL: contatto di formazione e lavoro) eingestellt, die auf ein bis zwei Jahre befristet sind. Anfang 2002 fand dort eine Auseinandersetzung statt, weil Blu die meisten Verträge nicht verlängert und einen Teil der Aufgaben ins Blu-Call Center in Palermo verlegt hat. Die Hauptaktionäre (unter anderem Benetton und British Telecom) wollen Blu ganz loswerden.
Bei der Korea Telecom werden die meisten ArbeiterInnen mittlerweils mit befristeten oder "Teilzeit"-Verträgen eingestellt.
Die Prekären (befristet Eingestellte, "TeilzeiterInnen"...) [bekommen] nur ein Drittel des Lohns (umgerechnet etwa 650 Dollar), arbeiten 56 Stunden die Woche, ohne Urlaub, ohne Sozialversicherung. Die ArbeiterInnen - TechnikerInnen, Call Center-ArbeiterInnen... - nehmen das auf sich, weil ihnen eine Festanstellung in Aussicht gestellt wird. [hotlines-Website, 7. November 2001]
Bei Audioservice (Anzeigen, Ticketverkauf) in Berlin wollten die Chefs im Jahr 2000 verhindern, dass die ArbeiterInnen auch bezahlten Urlaub oder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bekommen und gaben Verträge aus, die auf Tagelöhner-Arbeitsverhältnisse rausliefen: Wer zur Arbeit kam, musste erstmal einen Vertrag unterschreiben, der am Ende des Arbeitstages endete. Jedes Aufbegehren konnte dazu führen, dass sie am nächsten Tag nicht mehr "eingestellt" wurden.
Bei Atesia (Telekommunikation) in Italien versuchen die Schergen der Telecom Italia, einziger Anteilseigner der Firma seit Jahren, die Scheinselbständigkeit für Call Center-ArbeiterInnen durchzusetzen. Atesia steht am untersten Ende einer Kundenbetreuungs-Pyramide. Die Telecom stellt auch in ihren "eigenen" Call Centern Befristete ein, ZeitarbeiterInnen, PraktikantInnen... Bei Atesia aber werden keine "richtigen" Arbeitsverträge gemacht, sondern sogenannte cococo-Verträge (collaboratori, coordinati e continuativi).
Wir müssen den Arbeitsplatz für 1.500 Lire pro Stunde mieten. Das müssen wir zahlen - ohne eine Lire zu verdienen - auch wenn wir für drei bis vier Tage krank waren. [Arbeiterin in Il Manifesto, 1. Mai 2002]
Die ArbeiterInnen werden pro Anruf bezahlt. Wenn keine reinkommen, verdienen sie halt nichts. Wer rummeckert oder sich wehrt, kriegt keinen Arbeitsplatz mehr vermietet!
Bei all diesen Maßnahmen geht es den Kapitalisten in erster Linie um dies:
* Durch die Schaffung einer unsicheren Situation - die bevorstehende Entscheidung über eine Vertragsverlängerung oder die zweifelhafte Übernahme von ZeitarbeiterInnen oder PraktikantInnen - können die Bosse mehr Druck ausüben. Die ArbeiterInnen sollen ranklotzen, damit das mit der Übernahme klappt. Wenn sie nicht spuren, fliegen sie raus.
* Durch den regelmäßigen Austausch der ArbeiterInnen und die Neueinstellung Unerfahrener wollen die Bosse verhindern, dass die ArbeiterInnen das Wissen über die Arbeit und deren Verweigerung weitergeben. Sie fürchten, dass sich Kerne von Renitenten bilden. Die haben in der Regel ein Auge auf die Bedingungen und wissen eher, was sie gegen Verschärfungen machen können, wo die Schwachstellen des Ladens liegen - zum Beispiel der Computerabsturz in der Zeit, wo die meisten Anrufe eingehen. Wer neu ist, schaut sich um, traut den anderen ArbeiterInnen nicht (und umgekehrt), hält sich bei der Arbeit ran, um erstmal die Probezeit zu überstehen.
* Durch die Befristung von Verträgen, durch Einsatz von ZeitarbeiterInnen und PraktikantInnen können die Bosse auf die Schwankungen des sogenannten Marktes reagieren. Wir ArbeiterInnen sollen die Risiken tragen. Wenn viel los ist, stellen sie ein, in anrufschwachen Zeiten fliegen wir raus und müssen sehen, wie wir klar kommen. Atmende Fabrik à la Qual Center. Besonders pervers ist in diesem Zusammenhang die Beschilderung von Call Center-ArbeiterInnen mit Buttons, auf denen "selbständig" steht.
Auslagerungen
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Darüber hinaus nehmen die Kapitalisten Firmen auseinander, setzen sie wieder zusammen, lagern Aufgaben in andere firmeneigene oder externe Call Center aus... eventuell gleich nach Marokko, Mecklenburg-Vorpommern oder Indien.[87] Hinter diesem Outsourcing steht dies:
* Durch die Auslagerung von Betriebsteilen, Abteilungen oder bestimmten Arbeitsaufgaben schaffen die Kapitalisten kleinere Betriebseinheiten, in denen sie die ArbeiterInnen besser unter Druck setzen können. Wir können ein anderes Gefühl von Stärke entwickeln, wenn wir mit fünfhundert Leuten in einem Laden hängen als mit fünfzig - von denen wir die Hälfte wegen der krummen Schichtzeiten kaum sehen.
* Durch die virtuelle Zusammenschaltung verschiedener Call Center und anderer Abteilungen entstehen zwar auch in diesem Bereich Kooperationsketten mit tausend und mehr ArbeiterInnen, aber die sind halt auf zig Firmen verteilt. Du siehst die "KollegInnen" nicht, auch nicht in der Pause, weil die auf einem anderen Stockwerk mit einem anderen Firmenschild sitzen - oder mit dem gleichen Firmenschild auf der anderen Seite des Planeten. Wir wissen nichts von den anderen ArbeiterInnen, ihren (ähnlichen) Bedingungen, dem letzten Streik...
* Viele Firmen lagern Aufgaben auch aus, weil sich so eine Ausbeutungspyramide schaffen lässt, mit wenigen besser bezahlten SpezialistInnen, die vertraglich abgefedert und mit Firmenideologie und Motivationshampeleien vollgepustet werden, und Hire and Fire-ArbeiterInnen in den ausgelagerten Buden, die viel weniger verdienen und aufs Messer ausgepresst werden.
* Kalkül der Bosse ist, dass sich so die ArbeiterInnen besser gegeneinander ausspielen lassen und gleichzeitig höhere Profite rauszuschlagen sind. Manchmal - so kalkulieren sie - reicht auch schon die Drohung mit Auslagerung, um Lohnsenkungen oder andere schlechtere Bedingungen durchzusetzen.
Arbeitszeitverlängerung, Lohndruck und Intensivierung der Arbeit
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Die Kapitalisten haben zwei Mittel, um ihren Profit[88] zu erhöhen. Sie können den Arbeitstag ausdehnen und uns länger arbeiten lassen - auch um damit ihre Maschinerie besser auszunutzen - und werden damit die Ausbeutung steigern, Überstundenzuschlag hin oder her. Manchmal sparen sie sich damit auch die Einstellung weiterer ArbeiterInnen. Und sie können die Arbeit intensivieren: mehr Anrufe pro Stunde, Füllung der Zeiten ohne Anrufe mit anderen Arbeiten, Vermehrung der Aufgaben...[89]
Arbeitszeit
Schichtarbeit hört sich ganz harmlos an, und wer nur Teilzeit arbeitet - als StudentIn oder "ZuverdienerIn" - kommt vielleicht auch klar damit, dass mensch mal hier vier Stunden morgens und da sechs Stunden bis Mitternacht arbeiten muss. Aber wer das vierzig Stunden die Woche macht, für den sieht das mitunter richtig scheiße aus. Mit den Call Centern wurde die Schichtarbeit in den Büros erheblich ausgeweitet, zum Teil mit Sondergenehmigungen für Nacht- und Wochenendarbeit durch die Behörden oder Regierungen.[90] Beispiele:
Im Call Center der Deutschen Bank 24 in Duisburg wurde im Jahr 2000 mal eben hier eine Schicht bis 22 Uhr und gleich morgens wieder um 7 Uhr angesetzt. Egal, ob du eine Stunde hin und eine zurück brauchst und vielleicht sechs Stunden zum Schlafen übrigbleiben. Hier gab es auch Stress, weil die Zusagen bei der Einstellung, dass gerade bei Frauen mit Kindern Rücksicht auf deren Kinderbetreuung genommen wird, nicht eingehalten wurden. Wenn du morgens die Kinder in den Hort bringen musst, ist das dein Problem, kann doch die Oma machen...
In den Call Centern der Telecom Italia wird zum Teil rund um die Uhr gearbeitet, mit Früh-, Spät-, Nacht- und Wochenendschichten. Das gilt auch für viele andere Call Center, zum Beispiel auch für AOL in Duisburg, den ADAC in München...
Schichtarbeit zerstört unseren Lebensablauf, vor allem wenn sie ständig wechselt. Wir müssen jeden Monat bei der Schichteinteilung rumrödeln, damit wir den Mittwoch freihalten und dann nach der Arbeit noch zum Yogakurs kommen. Am Sonntag langweilen wir uns mit den Banküberweisungen oder der Bestellannahme, während die FreundInnen noch zur after hour gehen (falls sie nicht auch malochen müssen). Nachtarbeit und die ständige Änderung des Schlafrhythmus macht uns auch fertig. Schlafstörungen, Kopfschmerzen, ständige Müdigkeit - aber die Arbeit ist ja "sauber" und "modern".
Auch Überstunden spielen hier eine Rolle. Manche von uns sind gezwungen, sie zu machen, weil sie die Kohle brauchen, andere werden so dazu gebracht: Entweder du machst welche, oder du kriegst deinen Vertrag nicht verlängert. Oder die Chefs setzen dich unter Druck, indem sie damit "drohen", dass sonst die Firma pleite geht, oder dich zur AußenseiterIn machen wollen, weil du (angeblich) die einzige seist, die keine macht...
Bei Medion (PCs, Hausgeräte) in Mülheim heißt es immer, wenn Aldi mal wieder eine berüchtigte PC-Verkaufsaktion macht, dass im dortigen Call Center die rote Lampe fast durchglüht. Die Geschäftsleitung setzt dann für alle Zwangsüberstunden an: Jede Woche sollen sie sechs Tage arbeiten, für vier, acht oder mehr Wochen. Außerdem gilt dann eine Urlaubssperre.
Bei Verizon (Telekommunikation; sprich: verreisen ;-) in den USA ist die Situation ähnlich:
Regelmäßig wurden bis zu 15 Überstunden die Wochen angeordnet, so dass in der Regel zehn Stunden am Tag gearbeitet wurden. Leute, die in der Woche keine Überstunden manchen können, müssen am Wochenende arbeiten. Außerdem gibt es Beschränkungen beim Urlaub und für Arztbesuche... [hotlines-Website, 8. Juni 2001][91]
Bei Fiat/Milano machen viele ArbeiterInnen Überstunden, weil sonst der Lohn nicht reicht, um die hohen Mieten und andere Lebenshaltungskosten zu tragen.
Was steht dahinter?
* Sie lassen uns regelmäßig Überstunden machen und zahlen uns einen Grundlohn für zwanzig oder vierzug Stunden die Woche. Falls wir krank sind, in Urlaub fahren oder so, bekommen wir natürlich nur den Grundlohn weiter.[92]
* Außerdem spart sich das Unternehmen die Einstellung anderer ArbeiterInnen. Wir sollen antanzen, wenn der Laden brummt und ohne Kohle zu Hause bleiben, wenn Rezession ist oder einfach Flaute. Die Firma will über unsere Lebenszeit entscheiden. Das ist ein ähnlicher Mechanismus wie bei den ungesicherten Vertragsverhältnissen, welche die Kapitalisten einsetzen, um uns schnell einstellen und wieder rausschmeißen zu können.
Lohn
Erst der Lohn ermöglicht uns das Überleben. Aber was tun, wenn du dich zwanzig, vierzig oder mehr Stunden abrackerst und kommst doch nicht über die Runden? In der modernen Soziologie heißt das working poor, arbeitende Arme. In Britannien, Italien, aber auch hier in Deutschland gibt es Call Center, die so wenig Lohn rausrücken, dass mensch davon kaum leben kann.[93]
Atesia, wie schon erwähnt eine Tochter der Italia Telecom mit dem größten Call Center in Roma, beschäftigt fünftausend ArbeiterInnen, die formal selbständig sind und ihre Arbeitsplätze "mieten" müssen. Dafür bekommen sie "Verträge" für jeweils drei Monate... einige schon seit Jahren. Sie werden nach Anrufen bezahlt, wobei sie für manche Anrufe einen Euro, für andere nur zehn Cents bekommen, je nach Art und Inhalt. Das monatliche Einkommen schwankt je nach Anrufzahl und Honorar zwischen 150 und 1.000 Euro.[94] Im März 2002 haben die ArbeiterInnen in Roma zwei Stunden gestreikt, weil sie für eine Kampagne der Telecom 15 Cents pro Anruf bekamen und damit am Ende des Monats gerade mal 140 bis 150 Euro verdient hatten. Der Streik war erfolgreich. Das Honorar wurde auf 40 Cents erhöht.[95] An der grundsätzlichen Situation hat sich aber nichts geändert: Atesia-ArbeiterInnen verdienen in der Regel netto weniger als eine Monatsmiete für eine Ein-Zimmer-Wohnung.
In anderen Läden ist der Lohn zumindest höher als bei anderen Jobs für "Ungelernte": Bei Audioservice (Anzeigen, Ticketverkauf) und Hotline GmbH (Call Center-Dienstleitungen) in Berlin oder Emnid (Umfragen), unter anderem mit Call Centern in Bielefeld, Berlin und Köln, bekamst du im Jahr 2001 irgendwas zwischen 12 und 18 DM. Bei Teilzeitstellen reicht auch das nicht weit.[96]
Bei Läden wie Citibank und Deutsche Bank 24 in Duisburg ist klar, dass du mit deinen 3.000 DM plus brutto weit unter dem Banktarif liegst (etwa 25 bis 30 Prozent). Das ist ja auch ein Ziel der Schergen: Abbau der FilialarbeiterInnen, Taylorisierung der Arbeit und Callcenterisierung der Arbeitsorganisation. So können sie dann ungelernte ArbeiterInnen für ihre Telefonjobs ansaugen - und mies entlohnen.
Bei der Telecom Italia lässt sich genau beobachten, wie die Bedingungen insgesamt, aber auch der Lohn den Bach runter gegangen sind. Der Lohn ist unter Einrechnung der Inflation zwischen 1990 und 2001 um sage und schreibe 25 Prozent gesunken.[97]
Dazu kommen Formen unentlohnter Arbeit, zum Beispiel bei ISI (Call Center-Dienstleistungen, Abo-Verkauf) in Bochum, Düsseldorf...
Die Teamleiterin... teilte mit, dass das zwölfstündige Probetraining und 28 Telemarketingstunden für beide Seiten kostenfrei sind (hört sich doch ganz gut an, oder: Ich darf arbeiten und muss dafür noch nicht mal was bezahlen. Wo gibt's so was heutzutage schon noch?!) [hotlines-Website, 20. März 2001]
Erst nach dieser "Probezeit" entscheiden die (von uns besonders verehrten) Herren und Damen der Geschäftsleitung, ob sie dich nehmen... aber nur, wenn du genügend Abos verkauft hast.
Bei IFB (Terminvereinbarung für Steuerberatung) in Toulouse/Frankreich bescheißt der Chef die ArbeiterInnen bei den Prämien.
Wenn Ihr Euch bei der Firma bewerbt, wirbt man mit den Prämien, die es für jeden Verkauf gibt, und verspricht Euch Aufstiegschancen im Unternehmen. Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun: Seit meiner Einstellung habe ich nur eine einzige Prämie gekriegt, und das, nachdem ich eine Zeitlang ständig darauf hingewiesen habe, dass es sehr erstaunlich ist, dass es bei den ganzen Terminen, die ich herbeitelefoniert habe, zu keinem Vertragsabschluss gekommen ist. [Flugblatt einer Arbeiterin, hotlines-Website, 29. Oktober 2001]
Andere Firmen lassen sich weitere Formen einfallen, wie sie den Lohn der ArbeiterInnen senken oder diese zu unentlohnten Arbeiten zwingen können: Sie verlangen, dass diese eine Viertelstunde früher zu Arbeit kommen, um ihre E-Mails zu lesen, sie ziehen jede einzelne Piss-Pause von der Lohnabrechnung ab...
Warum diese Schweinereien mit dem Lohn laufen, brauchen wir nicht weiter zu erläutern. It's all about money, baby! Die einzelnen Kapitalisten würden uns gar nicht entlohnen, wenn sie ihr "Humankapital" nicht am Leben halten müssten. Sie entlohnen uns mit peanuts, wenn sie damit durchkommen.
Intensivierung
Je mehr wir in einer Stunde schaffen, desto profitabler unsere Arbeit für die Chefs. Egal, ob uns die Ohren abfallen, die Finger schmerzen, der Rücken krumm wird. Die Intensivierung der Arbeit hat viele Gesichter:
Bei Hewlett Packard in Amsterdam versuchen die Teamleiter, dir möglichst viele Produkte oder Sprachgruppen aufzudrücken. Kannst du ein bisschen Französisch? Klar, schalten wir dich auch noch in die Leitung. Wenn du vorher mal zwischen den Anrufen Zeit hattest, im Netz zu surfen oder Zeitung zu lesen, schwafelt dich so noch ein verzweifelter Franzose mit seinen Computer-Verdauungs-Problemen voll (eventuell in einer Sprache, die du nicht mal richtig kannst).
Bei Verizon in den USA sollen die ArbeiterInnen bei den AnruferInnen, die ein technisches Problem haben, gleich den Spieß umdrehen, und denen was verkaufen.
Call Center-ArbeiterInnen wird beigebracht, eine Unterhaltung, sagen wir von einer Anfrage zur Rechnung, zu einem Verkaufsgespräch zu machen. Verizon nennt das 'überbrücken'." [englisch: bridging] Zitat Arbeiterin: "Stell dir vor, du rufst an, weil du belästigende Anrufe kriegst und eine neue Telefonnummer willst. Wir müssen dann in deine Daten schauen, sehen, welche Produkte du hast, und dann versuchen, dir was zu verkaufen. Aber nicht nur eine Sache, das ist nicht gut genug. Ich muss dir Voicemail anbieten, wenn du es nicht hast, doppelte Verbindung, wenn du es nicht hast. Ich muss mein Bestes tun, funkeln und sprühen, und dich soweit bringen, das du sagst, 'Ok, ich nehm' das für einen Monat, nur weil sie so nett sind!'. [hotlines-Website, 8. Juni 2001]
Dieses zusätzliche Verkaufen (Firmenjargon: cross-selling) gab es auch bei der Citibank in Duisburg, wo die ArbeiterInnen an Inbound-KundInnen Kredite verkaufen sollen. Dort wird auch eine andere Form der Intensivierung gefahren: ArbeiterInnen machen Outbound-Calls, müssen aber zwischendrin immer wieder Inbound-Calls annehmen. Du bist gerade dabei, einen Anruf raus zu machen, aber - ring ring - sitzt dir ein Kunde am Ohr und will was von dir...
Um die Zeiten zwischen den Anrufen zu verkürzen, lassen sie zum Beispiel bei Seaboard (Elektrizität) in Portslade/England die Anrufe automatisch durchstellen:
Gleich wenn du dich hingesetzt und angemeldet hast, kommen die Anrufe rein. Wenn du einen beendet hast, schickt dir der Computer automatisch den nächsten. Dazwischen gibt es keine Zeit für Durchatmen oder Erholung von stressigen und emotional anstrengenden Anrufen. Du bist immer auf Leitung außer in der 15-minütigen Pause alle sechs Stunden. [hotlines-Flugblatt aus Brighton, März 2001]
Bei der Deutschen Bank 24 in Duisburg hast du zwar die Möglichkeit, zwischen den Anrufen auf Nacharbeit zu gehen. Die Teamleiter schauen sich aber genau an, wie lange du darauf stehst. Echt zum Kotzen ist, dass sie die Anrufe direkt auf dein Headset stellen (direct-to-ear). Es gibt keine Möglichkeit, noch mal kurz zu entspannen und dann abzunehmen. Du sitzt da und wartest auf das Klingeln wie das Karnickel auf den Fangschuss. Dann musst du gleich loslabern. Das gleiche läuft bei Fiat in Milano und in vielen anderen Call Centern.[98]
Die Schließung der Poren der Arbeit, der "toten Zeit", der kleinen Pausen zwischendurch, des Blickes aus dem Fenster, der verlängerten Zigarette, des Schwatzes mit dem Nachbarn ist eines der wichtigsten Projekte der Industriesoziologen und anderen Schergen der Ausbeuter. Sie können die Arbeit zwar stundenweise ausweiten, aber da geraten sie schneller an Grenzen: Manche von uns weigern sich, Überstunden zu machen. Die meisten sind nach sechs oder acht Stunden am Telefon sowieso platt... und daran ändern auch die Zuschläge nichts. Also bleibt die Intensivierung der Arbeit: Direct-to-ear, cross-selling, Beschränkung der Pausen, direktes Durchstellen des nächsten Anrufes... sie nehmen uns die wenigen Verschnaufpausen und Erhöhen den Stress.[99]
Überwachung und Kontrolle
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Die Intensivierung funktioniert aber nicht ohne Überwachung und Kontrolle. Neben der üblichen Überwachung durch Vorgesetzte (Teamleiter), werden in Call Centern diverse Formen der automatischen Sammlung und Auswertung von Leistungsdaten eingesetzt.
Stellt euch das so vor: Schichtanfang - sowieso eine sensible Zeit, in der du gerade den Kaffee am Automaten verschüttet hast und beim Durchlesen der 119 wichtigen Emails der Verkaufsabteilung gleich wieder einen gesunden Hass auf dein Dasein als Telefonsklave bekommst. Und schon schiebt sich die Teamleiter-Hyäne von hinten an dich ran und lässt charmant die Statistik vom letzten Tag auf deine Tastatur segeln. Anrufzahl, Anrufdauer, Pausenzeit, Zeit auf Bereit, Zeit auf Nacharbeit, Zeit vom ersten Klingeln bis zum Abnehmen. Klingeling. Hier ist die Deutsche Bla Versicherung...
Die Kontrolle läuft auf zwei Ebenen: Sie halten quantitativ alles fest, um deine Arbeitsleistung bewerten zu können. Software schneidet alle Zeiten mit und liefert jederzeit Statistiken für die Bewertung der ArbeiterInnen. Daneben haben sie Formen der Kontrolle, bei denen es nicht um die Anzahl oder Zeiten geht, sondern um die "Qualität". Sie setzen sich neben dich oder machen Testanrufe, um dich nachher für die Fehler, das Gestotter und die fehlende menschliche Wärme gerade zu machen.[100]
Quantität
Bei Pacific Bell (Computer) in San Francisco/USA überprüft ein beförderter Agent ständig die aktuellen Call-Zeiten der anderen ArbeiterInnen.
In der Mitte des Raums ist der Hotcube. Der Hotcubist ist heute George. Es ist sein Job, die Anrufe zu überwachen, die Zeiten zu beobachten, reinzuhören, wenn nötig, und uns abzumahnen. Wenn du länger als 30 Minuten telefonierst, wird das notiert. Bleib auf "Nacharbeit" (Zeit zwischen zwei Anrufen) für länger als drei Minuten, erscheint dein Name im Logbuch. Deine "Gesundheits"-Pause [Pissen!] dauert länger als fünf Minuten, das wird notiert. Verlasse deinen Schreibtisch ohne Eingabe des richtigen Codes. Notiert. [Artikel im East Bay Express, Dezember 2000]
Dabei werden diese Überschreitungen der vorgegebenen Zeiten nicht nur notiert, der Hotcubist ruft die ArbeiterInnen auch direkt an und scheißt sie zusammen. Ähnliches kennen wir von Teamleitern aus anderen Call Centern. Diese Kreaturen hängen vor ihren Monitoren und glotzen auf Zahlen und Statistiken. Wenn die Toleranzen überschritten sind und die Zahlen rot leuchten, schreiten sie zu Tat.
Bei Hewlett Packard in Amsterdam werden - wie schon erwähnt - in einigen Abteilungen jeden Tag die Statistiken vom Vortag ausgehängt. Schön aufgeschlüsselt nach einzelnem Agent, der Sprachgruppe und für das gesamte Team. Du kannst also jeden Tag vergleichen. Wer hat die meisten Calls ignoriert, wer quatscht am längsten, wer ist am längsten auf Pause... Die Teamleiter benutzen das, um Leute einzeln unter Druck zu setzen: Gestern war wieder ein schlechter Tag. Ihr müsst nach einem Call wieder schneller auf Bereit. Du hast wieder zwanzig Minuten am Stück auf Pause gestanden... Dabei benutzen sie den sogenannten Service-Level als scheinbar objektive Kategorie. Wenn von hundert Calls 15 länger als drei Minuten in der Warteschlange schimmeln und die anderen rechtzeitig angenommen werden, kommt ein Service-Level von 85 Prozent raus. Das HP-Management legt diese Service-Level-Schiene an alle eigenen sowie die externen Call Center an, die für HP Anrufe beantworten. Den internen Call Center-ArbeiterInnen wird angedroht, dass die Calls bei Versagen ausgelagert werden, den externen Call Center-ArbeiterInnen wird angedroht, dass der Auftrag dann halt an einen anderen Externen geht. Scheiß Spiel.
Die quantitative Kontrolle hat die Funktion, die uns zum Arbeiten zu bringen und die Lücken und Löcher des Arbeitstages ausnutzen. Wir sollen zudem den Eindruck haben, dass wir ständig kontrolliert werden. Unsere Arbeitskraft soll in der vorhandenen Zeit so effizient wie möglich ausgebeutet werden - pausenlose Verwertung.[101]
Qualität
Eine weitere Ebene der Kontrolle bei Hewlett Packard, Fiat und vielen anderen Call Centern sind Testanrufe von internen oder externen Kontrollettis, die dir fiktive Fragen stellen (mystery calls). Bei HP läuft das angeblich ohne Festhalten des Namens des Agents, bei anderen Firmen wirst du direkt und persönlich angesprochen, wenn du versagt hast.
Bei der Deutschen Bank 24 in Bonn musst du fast jeden Monat Bewertungsgespräche über dich ergehen lassen.
Druck gibt es aber über die verschiedenen Formen der Qualitätskontrolle. Einmal im Monat ist ein "Coaching", bei dem die fachliche Kompetenz bewertet wird: ein "Coach" setzt sich neben dich, hört sich ein paar Gespräche an, füllt einen Bewertungsbogen aus und bespricht den dann mit dir. Ebenfalls einmal im Monat gibt es eine "Supervising", wo es um die sprachliche Kompetenz geht: ein "Supervisor" hört sich Gespräche an und erzählt dir dann, dass du zu viele Negativausdrücke benutzt, die Konjunktivformen vermeiden musst, und dass die WPAs fehlen (Worte persönlicher Anerkennung, zum Beispiel "Das haben sie gut gemacht", "Vielen Dank für ihre Vorschläge"...). Das "Supervising" entscheidet auch, ob ein Agents in der Lohnstaffel höher eingestuft wird. Die sprachliche Bewertung ist subjektiv und wenn der Supervisor dich nicht mag oder es irgendwelche anderen Gründe gibt, wird das einfach genutzt, um dir eine höhere Einstufung zu verweigern. Außerdem gibt es dann noch alle zwei Monate Einzelgespräche mit den Supervisoren, wo sie Gespräche von dir vom Band abspielen und das dann "analysieren". Damit werden die Agents in peinliche Situationen gebracht. [hotlines-Website, 16. November 2000]
Bei TAS (Terminvereinbarung für Telekommunikationsfirmen...) mit Call Centern in Mülheim und anderswo sieht es ähnlich aus.
Durch monatliche Bandanalysen und "Training on the job" (ein Qualitätsmanager sitzt hinter dir und hört sich deine Gespräche live an) wird kontrolliert, ob du auch wirklich "qualitativ hochwertig" telefonierst und den Bonus verdient hast. Auch hier ist öffentlich, wer die "Qualität" bekommen hat und wer nicht. [hotlines Nr. 2, Dezember 2000]
Aber was soll all das Getue um die Qualität?
Die Unternehmer versuchen alles, um uns den Stress aufzuladen, der mit der Arbeit unter diesen widersprüchlichen Bedingungen verbunden ist. Wir sollen trotz billiger Schulungen, fehlender Infos, schlechter Produkte... möglichst viele AnruferInnen pro Stunde befriedigen. Dabei setzen sie uns - scheinheilig - vor allem mit der "Qualität" unter Druck.
* Wenn sie offen sagen würden, dass es ihnen nur um die Kohle geht, dann würden wir nicht halb so gut arbeiten. Also ködern sie uns mit der "Qualität" des Produkts oder der tollen Firma, für die es sich zu arbeiten lohne.
* Wenn sie offen sagen würden, dass sie uns kontrollieren wollen, damit wir schneller arbeiten, dann würden wir uns schneller wehren. Also begründen sie die Kontrolle mit der heiligen "Qualität".
* Wenn sie offen sagen würden, dass sie eigentlich keine Ahnung von der Arbeit und ihrer Organisation haben, dann würde die Frage aufkommen, wozu die Unternehmer eigentlich gebraucht werden. Also verstecken sie sich hinter fetten Qualitätsmanagement-Programmen und fordern uns zu "Verbesserungsvorschlägen" auf, um so von uns zu lernen. Ihr gewonnenes Wissen setzen sie aber weniger dazu ein, um die "Qualität" zu verbessern, sondern um uns mehr Arbeit aufzuhalsen und die Produktion zu "rationalisieren". [hotlines Nr. 3, März 2001]
Willkür und Verarsche
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Mit all dieser Scheiße, unsichere Arbeitsverträge, miese Bedingungen, schlechter Lohn, Schichtpläne, die dich und dein Leben zerreißen... trotzdem scheint Call Center für viele ArbeiterInnen immer noch besser zu sein, als Putzen zu gehen, auf dem Bau Steine zu schleppen, in der Fabrik am Band zu stehen oder als Bürotusse bei einem öden Doc zu malochen. Falls sie überhaupt die Wahl haben.[102] Was sind deine Alternativen?
Wenn wir das Verzeichnis der Konflikte durchgehen, bleiben wir auch bei anderen Sachen hängen, die nicht unbedingt an den Geldbeutel gehen oder dir nicht direkt Angst machen wegen der Kröten für die nächste Miete. Sie nehmen dir etwas, dass mensch allgemein Würde nennt. Deinen Stolz, Mensch!
Das läuft auf mehreren Ebenen. Zum einen bringt dich der Job ständig in Situationen, in denen du den Schädel für Sachen hinhalten musst, die du nicht zu verantworten hast: die Lieferung ging nicht raus, die Warteschleife ist ewig lang, du hast die gewünschte Information nicht, dein Computer stürzt ab oder kommt nicht zu Potte... Die KundIn pampt dich dann an und du fühlst dich genötigt, das irgendwie zu rechtfertigen...
Zum anderen empfinden viele ArbeiterInnen die Kontrolle jedes Schrittes als entwürdigend, zum Beispiel wenn die Teamleiter einen Zettel aufhängen, wo drauf steht, wie lange deine Pisspausen von gestern waren... Du fühlst dich zudem eingesperrt. Eine ArbeiterIn aus dem Call Center von Blu in Calenzano bei Firenze/Italien unterschrieb ihren Bericht mit
Ein Individuum aus dem Knast von Calenzano. [hotlines-Website, 6. März 2002][103]
Vorschriften
Aber das geht weiter: Konflikte gibt es besonders bei der Qualitäts-Überwachung in Bezug auf die Ausdrucksweise, Sprache, Gestik. Bei der Deutschen Bank 24 in Duisburg wird in der Schulung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass du gerade am Schreibtisch sitzen und lächeln sollst. Das hören die Kunden dann am Telefon. Überhaupt sollst du ja positiv denken, bla blub.
Bei Quelle (Bestellversand) in Essen wird auf genaue Sprachformeln, sogenannte Standardformulierungen, bestanden. Hier geht es nicht um Schrauben, die einer DIN-Norm entsprechen müssen, sondern die verdammten Worte, die du über die Lippen bringen sollst:
"Willkommen bei Quelle, mein Name ist Vorname Nachname. Was darf ich für Sie tun?" Standardformulierungen, jede, die bei Quelle arbeitet, kennt sie. Noch ein Beispiel? "Herr/ Frau... Wir machen gerade eine Kundenbefragung. Sind Sie interessiert an Werbemitteln zum Thema 'Hunde'?"... [hotlines-Flugblatt zu Quelle, November 2000]
Bei Verizon/USA wird ebenfalls kontrolliert, wie die ArbeiterInnen was sagen:
Eine Arbeiterin meinte, sie wolle weniger Vorschriften, wie sie zu reden habe... Sie muss nach jedem Anruf sagen, "Habe ich sie heute hervorragend bedient" (Did I provide you with an outstanding service today?), und fühlt sich dabei oft wie ein Idiot. Wenn sie den Satz nicht bringen, kriegen sie eine schlechte Bewertung und werden nicht befördert. [hotlines-Website, 8. Juni 2001]
Bei der Telecom Italia ist das nicht anders:
Gerade hat die Firmenleitung entschieden, die Effizienz zu erhöhen, ohne Kosten, indem sie die berühmte Kunden-Begrüßungs-Formulierung einführen und durchsetzen: Guten Tag, Telecom Italia, mein Name ist Filippo, in welcher Sache kann ich Ihnen nützlich sein?"[104] Toller Satz, mit theoretisch großer Wirkung, aber praktisch nutzlos. Die armen Agents sind gezwungen, das bis zum Schwachsinnigwerden zu wiederholen, sonst gibt es mündliche Zurechtweisung oder sogar schriftliche Sanktionen. Stellt euch den Kunden vor, der seit Tagen auf eine Reparatur wartet und nicht mal den Schatten eines Technikers gesehen hat, was soll der auf eine solche Frage antworten?... Warum nehmen sie [die Chefs] nicht zur Kenntnis, das wir menschliche Wesen sind und keine Maschinen. [Bip Bip, Zeitung der Basisgewerkschaft Flmu-Cub, Firenze, Februar 2002]
Dieser letzte Punkt ist bezeichnend: Sie behandeln dich so, als wärst du eine Maschine, die sie programmieren können. Du sollst pissen gehen, wenn sie es erlauben, du sollst loslabern, wenn sie einen Anruf durchstellen, du sollst den Mund so bewegen, wie sie es befehlen. Sie machen das, um ihre Ware "Telefonservice" besser verkaufen zu können, aber auch, um unsere Arbeit zu standardisieren und die Produktivität zu erhöhen.[105] Oft funktioniert das mit den Vorschriften nicht, weil sich die ArbeiterInnen Mittel und Wege einfallen lassen, sie zu umgehen, oder sie einfach ignorieren. Besonders erfahrenere ArbeiterInnen kennen Mittel und Wege, die Anweisungen auszuhebeln. Trotzdem produzieren die Vorschriften für viele permanenten Stress und kommen als Gängelung und Willkür rüber.
Motivation
Um dem entgegen zu steuern, setzen viele Kapitalisten auf den Einsatz von Prämien oder Motivation.
Hewlett Packard in Amsterdam lässt dich auch glatt einmal im Monat für zehn Minuten von einem Masseur durchkneten - wie neuerdings auch bei der Lufthansa in Berlin - und eine Glückliche wird jeden Monat Agent des Monats und kriegt ein Geschenk.
Bei ISI in Bochum, Düsseldorf... gibt es gleich mehrere Lollis:
Derjenige, der in der Woche am meisten Abos vertickt, darf das ganze Wochenende den hauseigenen roten BMW fahren. Und alle drei Monate gibt's für die besten Verticker ein Wochenende in einer europäischen Hauptstadt. Ich konnte mich kaum mehr auf meinem Stuhl halten. [hotlines-Website, 20. März 2001]
Verizon in den USA lässt sich auch nicht lumpen.
Überall stehen Schilder rum, was mensch für Prämien kriegen kann, wenn er oder sie viel verkauft: Pizzas, Süßigkeiten, Reisen in die Karibik. [hotlines-Website, 8. Juni 2001]
Bei der Deutschen Bank 24 in Duisburg müssen die frisch programmierten Teamleiter ständig erzählen, dass du für den besten Laden der Welt arbeitest. Du hast schon dreimal vorher für jeweils den besten Laden der Welt gearbeitet und bist kein Stück reicher und glücklicher geworden. Klar, dass sich viele ArbeiterInnen verarscht vorkommen.
Die Unternehmer [machen] ein Riesenspektakel, damit wir hübsch weiterarbeiten (und nicht "innerlich kündigen"). Sie erzählen uns, wie toll ihre Firma ist, was für ein Glück wir doch haben, dass wir in ihrem Team arbeiten dürfen, und was für wichtige Produkte da hergestellt werden (Bankkredite, Computerdrucker, Babywäsche). Dann kommen sie noch mit Zertifikaten, Prämien und T-Shirts... Wir sind jetzt Teil der Familie, alle ziehen an einem Strang. Stellt sich nur die Frage, wer ihn um den Hals hat!? [hotlines Nr. 3, März 2001]
"Schlechte" Ausbildung und Organisation
Dabei geht vielen Call Center-ArbeiterInnen auch quer, dass sie oft nicht mal richtig wissen, was sie da machen, also schlecht oder gar nicht geschult werden.
Bei Hewlett Packard in Amsterdam werden die ArbeiterInnen nach Sprachkenntnissen eingestellt, egal, ob sie vorher schon Computer-Kenntnisse hatten. Nach zwei oder drei Wochen Produkt-Schulung werden sie dann auf die KundInnen losgelassen... und haben oft keine Ahnung von nichts. Erst nach einigen Wochen, kommen sie langsam in Trab. Die AnruferInnen sind entsprechend genervt, weil sie falsche oder keine Hinweise bekommen und dafür noch Telefongebühren zahlen. Die ArbeiterInnen sind genervt, weil das absolute Scheiß-Situationen sind, wenn du nichts weißt, dir keine weiterhilft (keine Zeit) und du das dann irgendwie auflösen sollst.
Bei der Deutschen Telekom wurden in den letzten Jahren alle Abteilungen - nicht nur die Call Center - im Rahmen des Angriffs auf die dortigen ArbeiterInnen und der Auslagerungen völlig durcheinandergewürfelt. Die Call Center-ArbeiterInnen müssen ausbaden, dass wenig zusammenläuft, sie ständig falsche oder veraltete Informationen haben... und die KundInnen oft wütend werden. Viele von ihnen sind ZeitarbeiterInnen oder Befristete, die schlecht oder gar nicht geschult wurden.
Hier spielt rein, dass heute jedes Unternehmen bei seinen Produkten eine Hotline-Nummer angeben will, um sich als "service-orientiert" hinzustellen und über Kundenkontakt Beschwerden oder Wünsche mitzukriegen. Da kann mensch dann anrufen, wenn die Milch schlecht ist oder der neue PC nicht funktioniert. Aber oft sind die Nummern auch nur fake: Du kannst den AnruferInnen sowieso nicht weiterhelfen, weil die Infos fehlen, du keine Ahnung hast, worum es geht, du die Leute nicht an die Verantwortlichen durchstellen darfst... Du als Call Center-ArbeiterIn sollst das verstecken und mit irgendeinem Geschwafel ausgleichen.
Kundenverarsche
Darüber hinaus wirst du in einigen Call Centern direkt angehalten, die Kunden zu verarschen. Bei der Deutschen Bank 24 in Duisburg wurde mal eben ein Agent zum Teamleiter, weil ein Kunde, der nach einem "Vorgesetzten" verlangte, ruhiggestellt werden sollte. Ebenso wie bei Pacific Bell in San Francisco:
Der Kunde wurde zu mir durchgestellt. "Sind Sie der Supervisor?", fragt er sofort. Seit Anfang des Monats sind alle im Call Center zu Supervisoren gemacht worden. Brian, der gerade auf seinem Schreibtisch schläft, ist Supervisor. Ian mit seinen zu vergelten roten Haarensträhnen ist Supervisor. Ron, der gebettelt hatte, nicht zum Supervisor gemacht zu werden, ist Supervisor. Ich hoffe, dass, wer auch immer uns zu Supervisoren gemacht hat, uns nächsten Monat zu Vorstandsmitgliedern ernennt. "Ja, ich bin Supervisor." "Endlich", seufzt er. Er tut mir leid: Er denkt, dass er jemanden erreicht hat, der was zu sagen hat. [Artikel im East Bay Express, Dezember 2000]
Scheiß drauf, könnte Agent jetzt denken... und tatsächlich ist das die Reaktion vieler. Wenn du am Tag mit hundert oder zweihundert Stimmen zu tun hast, von denen zehn Prozent versuchen, dich am Telefon einzumachen, dann hast du sowieso die Faxen dicke.[106] Außerdem gibt es richtige Säcke, die dich am Telefon vollschlammen und denen du am liebsten eine verpassen würdest.[107]
Bei den anderen erlebst du das als Widerspruch: Das sind auch MalocherInnen oder einfach Leute, die ihre Probleme haben. Als Call Center-ArbeiterIn versuchst du, die Verarsche und schlechte Arbeitsorganisation durch Nettigkeit und Hilfsbereitschaft auszugleichen. Genau das, worauf die Bosse setzen. Täten wir das alles nicht, würden die Call Center nicht funktionieren. Unsere "menschliche" Arbeit, das Reden mit den Kunden, das Eingehen, Zuhören, das Abstimmen mit den anderen ArbeiterInnen ist notwendiger Bestandteil der Ware Telefondienstleistung. Auch das hindert sie am breiten Einsatz von Sprachcomputern.[108]
Eine andere Art von Kundenverarsche ist noch widerlicher: Du sollst irgendeine Scheiße verkaufen, von der du weißt, dass sie die Leute rein- oder abzieht. Bei der Citibank und der Deutschen Bank 24, beide in Duisburg, sollen zum Beispiel Inbound-ArbeiterInnen den AnruferInnen auch gleich Kredite verscherbeln. Die ArbeiterInnen wissen genau, dass die Zinsen die Leute noch weiter in die Abgründe jenseits des Dispo ziehen werden - und sie damit nicht mehr aus der Schuldenfalle rauskommen. Für die Banken ein gutes Geschäft, wenn die Leute nur noch für die Bankzinsen schuften.
Bei IFB in Toulouse/Frankreich wissen die ArbeiterInnen auch, was sie tun:
Das Ziel des Spiels ist es, leitende Angestellte, Handwerker, Freiberufler, große Bosse oder einfache Privatleute telefonisch zu erreichen, um ihnen ein "kostenloses Beratungsgespräch zum Steuerrecht" vorzuschlagen. Das soll ihnen ermöglichen, weniger Steuern zu zahlen, dank einer individuell zugeschnittenen Prüfung, die 103 Gesetzestexte berücksichtigt. Das ist nichts als Verarsche! Im Endeffekt wird ein einziges Gesetz beachtet und der Ratschlag der Vertreter ist einfach: Er schlägt eine Investition in Immobilien vor, das heißt eine Wohnung zu kaufen (für circa 600.000 Franc = 100.000 Euro). Er schildert, wie die Wohnung vermietet wird und man mit den Mieteinnahmen den Kredit zurückzahlt. Dazu kommt man dann in den Genuss einer Steuersenkung, die in diesem Fall durch das Gesetz "Besson" gewährleistet wird. Kurzfristig kann das funktionieren, aber auf lange Sicht ist das sehr riskant - genauer gesagt, für die Zeit, die benötigt wird, um den Bankkredit zurückzuzahlen. [Flugblatt einer Arbeiterin, hotlines-Website, 29. Oktober 2001]
Es gibt viele solcher Call Center-Jobs: Mahnanrufe für säumige Kunden, Verkaufsaktionen für irgendwelchen Mist... Die meisten ArbeiterInnen schaffen diese Arbeit nur, wenn sie die KundInnen eben nur noch als solche sehen: Dinge, die mensch manipulieren muss, damit sie sich dahin bewegen, wo mensch sie hinhaben will. Auch bei den "harmloseren" Jobs im Inbound gibt es den Druck, die Leute zu verdinglichen, aber du hast noch Mittel und Wege, die Leute einigermaßen korrekt zu behandeln.
Fazit
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Hier passt nicht alles rein. Es gibt noch andere Auseinandersetzungen, wie um Lärm und Gesundheit, Ratten in den Arbeitscontainern bei Medion, versiffte Headsets bei Quelle... Oft entzünden sich Konflikte auch an diesen Punkten, werden sie zum Anlass genommen, den ganzen Ärger rauszulassen.
Aber es geht auch weniger um die einzelnen Fragen. Die Projekte der Verschärfung treffen uns als geballter Angriff der Kapitalisten... nicht nur bei Firmen wie der Citibank, Telecom Italia, Hewlett Packard oder Verizon, die immer wieder Restrukturierungen durchführen, um die ArbeiterInnen durcheinander zu wirbeln und in eine Konkurrenz zwischen Abteilungen und Standorten zu zwingen.
Wir müssen im Kopf behalten, dass die einzelnen Konflikte von den Kapitalisten benutzt werden, um vom Ganzen abzulenken. Bei einer Diskussion von ArbeiterInnen des Call Centers von Fiat in Milano meinte eine, dass der Konflikt um die Kleiderordnung (zum Beispiel Krawatten-Zwang für Männer) oder das miese Kantinen-Essen nur von der eigentlichen Frage ablenkt: Dass nämlich die Arbeitsbedingungen insgesamt beschissen sind. Die ArbeiterInnen sollen sich über irgendwelche Kleinigkeiten aufregen, ihren Zorn auf den nächsten Teamleiter oder den Küchenchef richten, statt die Arbeit an sich oder das Ausbeutungsverhältnis anzugreifen.[109] Entscheidend ist, dass es für einzelne Fragen verhandelbare Lösungen gibt (etwas mehr Lohn, Freitag ist offenes Hemd erlaubt...). Und solange verhandelt wird, ist die Ausbeutung nicht in Gefahr... Dieser Punkt wird noch einmal auftauchen, wenn wir uns mit Gewerkschaften und Betriebsräten beschäftigen.[110]
Bis hier haben wir die einzelnen Momente beschrieben. Jetzt kommen wir zu den Mitteln, die sich die ArbeiterInnen dagegen einfallen lassen.
6.2 Kampflinien
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...wenn die BüroarbeiterInnen nicht im Takt fremder PC-Eingaben malochen, sondern das Intranet zur Koordination des Streiks nutzen; wenn die Fließbandarbeiterin nicht der Montiererin vor ihr nachhetzen muss, sondern die Zusammenarbeit genutzt wird, um die gesamte Endmontage lahm zu legen; wenn die Kämpfe in den Schulen eine ganze kommende Generation von ArbeiterInnen versaut; wenn in den Kitas die gemeinsamen proletarischen Einkäufe oder Mietstreiks organisiert werden... entwickeln [Kämpfe] eine materielle Macht, weil sie die Kapitalakkumulation unterbrechen und den Staatsapparat zersetzen können. Nur in diesen Konflikten, die sich in den täglichen Strukturen der erzwungenen Zusammenarbeit ergeben, ist die Selbstorganisierung des Kampfs durch die Kämpfenden möglich. In diesen Auseinandersetzungen verändern sich die Beziehungen und Bedürfnisse. Dabei können wir erkennen, dass Mittel und Möglichkeiten gegeben sind, eine andere, nicht-kapitalistische Gesellschaftlichkeit zu schaffen. In diesen Kämpfen steckt die Chance, die vermeintliche Übermacht des Kapitals, die scheinbare Unabhängigkeit des Staates und Natürlichkeit der Geschlechterbeziehungen als Papiertiger zu outen. Weil sich die praktischen Verhältnisse untereinander und zu den Produktionsmitteln verändern und sich im Kampf ohne kapitalistische Vermittlung herstellen lassen. Diese reale Bewegung innerhalb der kapitalistischen Ausbeutung nennen wir Klassenkampf. [kolinko, Subversion des Alltags, Oktober 1999]
Eine neue (revolutionäre) Klassenbewegung kann nur auf den Kämpfen fußen, die wir in den Klitschen, auf den Baustellen, den Montagehallen, Ämtern, Büros und Verkaufstempeln führen. Dabei können diese an den Orten der Ausbeutung die Initiative zu erlangen und den Bossen einheizen. Aber uns geht es um mehr: Um die Fähigkeit der ArbeiterInnen als Klasse, das Ausbeutungsverhältnis zu zerstören und die Gesellschaft grundlegend umzukrempeln. Deswegen interessieren uns auch die Verhaltensweisen und Kämpfe der ArbeiterInnen in Call Centern. Aber wo finden sich dort die Kämpfe? Können die ArbeiterInnen da überhaupt kämpfen? Wir wollen uns das an Beispielen ansehen:
a [Sabotage]
b [Appelle]
c [Streiks]
Sabotage
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In einigen Call Centern haben ArbeiterInnen Formen der Sabotage gefunden, wie zum Beispiel die Technik abkacken zu lassen, wenn es zu viel Stress gibt. Ctrl-Alt-Del... und du hast drei Minuten Pause, bis der Rechner wieder gebootet hat. Einen Call auf deinem Apparat verhungern lassen... und du kriegst erstmal keinen neuen. Ein bisschen an den Kabeln gefummelt... und der Techniker muss kommen und den Fehler finden (ok, armes Schwein...).
Der wahrscheinlich häufigste Grund für Sabotage ist das kreative Ausdrücken des Hasses auf oder Frustes bei der Arbeit. Es gibt tatsächlich Leute, die ihr Arbeitswerkzeug - Headset, Computer, Software... aus purem Zerstörungswillen demolieren. Auch diese Sachen laufen meist individuell. ArbeiterInnen merken, dass sie zusammen nichts hinbekommen, um den Stress zu stoppen. Folglich schmeißen sie den Holzschuh in die Maschine.[111]
Andere ArbeiterInnen reagieren mit Sabotage auf konkrete Verschärfungen. Bei der Deutschen Bank 24 in Bonn haben die Bosse im Jahr 2001 Trennwände eingeführt und durchgesetzt, dass den ArbeiterInnen bei Schichtbeginn bestimmte Plätze zugeordnet werden. Sie wollten verhindern, dass diese sich in ihren Cliquen zusammensetzen und dann auch mal zwischendurch zusammen Späßchen machen. Immerhin hat die Nachtschicht es dann regelmäßig auf die Reihe bekommen, die Trennwände wieder abzubauen.
Bei Streiks wird Sabotage zu einem Mittel, um mehr Druck auszuüben oder Streikbruch zu erschweren. In der Zeit des Streiks bei der British Telecom im Jahre 1999 ließen sich die ArbeiterInnen einiges einfallen:
Es wird berichtet von einer großen Anzahl von Anrufen nach Übersee, die mit insgesamt 15.000 Pfund zu Buche schlugen. Bei einem Anruf der Zeitansage in Zimbabwe soll der Hörer die Nacht über neben der Telefonanlage liegengeblieben sein; außerdem wurden Haushalte mit kaputten British Telecom-Geräten mit der besten Ausrüstung, die am Lager war, beliefert. Viele machten nur Dienst nach Vorschrift, verweigerten alle "Extra"-Aufgaben, die nicht in ihrer vertraglichen Arbeitsbeschreibung auftauchen. Und während die Atmosphäre im Büro zuvor verkrampft und feindlich war, war sie nun belebend, mit ArbeiterInnen, die fröhlich quatschend die Füße hochlegten und so ihre Weigerung zum Ausdruck, irgendeine Arbeit zu erledigen. [Undercurrent Nr. 8, Brighton, Sommer 2000]
Auch beim Streik bei Verizon in den USA haben ArbeiterInnen Sabotage eingesetzt, unter anderem um den Streikbrechern aus dem mittleren Management, die in den Call Centern und in der Instandsetzung eingesetzt wurden, das Leben schwer zu machen.
Es gab Sabotage-Aktionen (von 450 Fällen wurden 230 aus New York City gemeldet): Leitungen wurden durchgeschnitten und nach Angaben von Verizon leitende Angestellte mit faulen Eiern, Flaschen und Steinen beworfen; in einem Fall wurde ein Service-Truck abgefackelt; ein anderer wurde in einem Tor eingeklemmt und dann demoliert; bei anderen wurden die Radmuttern gelockert... In den Zeitungen wurde über Fälle von "Vandalismus" berichtet (Schlagzeile: "Tausende von New Yorkern ohne Telefon während des Streiks"). [hotlines-Website, 8. Juni 2001][112]
Appelle
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Die meisten ArbeiterInnen in Call Centern haben wenig Erfahrungen mit kollektiven Kampfformen. Oft wissen sie wenig darüber, wie die Bosse reagieren könnten oder welche wirksamen Mittel sie selbst einsetzen können. Das liegt zum einen daran, dass dort viele junge ArbeiterInnen eingestellt werden, zum anderen auch an den wenigen Streiks und Kämpfen der letzten Jahre. So bleiben die ArbeiterInnen dann in ihren Versuchen, sich zu wehren, oft bei vorgezeichneten, "demokratischen" Formen hängen.
In einigen Auseinandersetzungen sind die ArbeiterInnen darauf gekommen, dass eine Unterschriftenliste soviel Druck erzeugen könnte, dass der Boss dann schon einsieht, dass er dies und jenes nicht durchziehen kann. Schließlich ist er ja auch nur ein Mensch und gemäß dem demokratischen Mythos entscheidet ja die Mehrheit...
Bei der schon erwähnten Auseinandersetzung bei Audioservice in Berlin um Tagelöhner-Verträge und die Verweigerung von Urlaubsentgelt und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall machten die ArbeiterInnen eine Unterschriftenliste ("Liebe Geschäftsführung..."), die etwa dreißig ArbeiterInnen unterschrieben. Sie erwarteten, dass die Chefs angesichts dieser offenen Unmutsäußerung auf ihre Forderungen eingehen müssten. Statt dessen wurde etwa der Hälfte von ihnen gekündigt. Die Chefs suchten die aus der Liste raus, die sie für die "RädelsführerInnen" hielten oder sowieso loswerden wollten.
Ähnlich war der Fall bei ADM in Berlin, wo über siebzig ArbeiterInnen Anträge auf die Gewährung von Urlaubsentgelt stellten. Bald darauf wurden einige der ArbeiterInnen entlassen, andere in Einzelgesprächen unter Druck gesetzt. "Entweder ihr nehmt den Antrag zurück, oder ihr könnt gehen!"
Bei Medion gingen schon mehrfach Unterschriftenlisten rum, zum Beispiel um die Aufschaltung weiterer Calls (zu anderen Produkten) zu verhindern. Diese wurden dann dem Betriebsrat übergeben, damit der das gegenüber der Unternehmensleitung durchsetzt. Die Sachen versandeten...
Bei einer Unterschriftenliste denkt mensch an nichts Böses, aber die Teile sind eine Falle: Vielleicht werden die Namen einfach nur vermerkt und bei anderen Auseinandersetzungen wieder rausgekramt; im schlechten Fall weiß die Geschäftsführung aber sofort, wer da aufmüpfig wird, und leitet Maßnahmen wie Abmahnung, Mobbing, Kündigung... ein.
Bei Audioservice haben ArbeiterInnen vor dem Arbeitsgericht gegen die Kündigungen geklagt. Ebenso bei den Kündigungen bei Hotline GmbH in Berlin, wo ArbeiterInnen rausgeschmissen wurden, weil sie gegen eine Kündigungswelle protestierten und die Gründung eines Betriebsrates vorbereiteten. In beiden Fällen sprangen Abfindungen zwischen 500 und 5.000 DM raus.
Mit Klagen vor dem Arbeitsgericht verlangen wir vom Staat, uns gegenüber den Kapitalisten zur Seite zu stehen.[113] Wir wollen niemand davon abhalten, zum Arbeitsgericht zu gehen und wenigstens Kohle rauszuschlagen, aber das ist ein Sache, die wir einsetzen, weil wir keine anderen Wege finden oder zu schwach sind, uns durchzusetzen. Wenn du mit dem Rechtsanwalt vor so einer Richternase sitzt, fällt dir alles mögliche ein, aber nicht der kollektive Kampf gegen ein Verhältnis, das dich am nächsten Tag wieder aus dem Bett und unters Headset zwingt.
In den beschriebenen Fällen hat sich letztlich auch nichts geändert: Die Call Center haben halt Leute entlassen und neue eingestellt, einige ArbeiterInnen haben etwas Kohle bekommen und werden jetzt woanders ausgebeutet...
Streiks
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Der Streik bei der Citibank war einer der Ausgangspunkte für unsere Untersuchung und Intervention. Dieser und andere Streiks zeigen deutlich, wo in den konkreten Auseinandersetzungen in Call Centern die Macht der ArbeiterInnen liegt - und wo ihre Grenzen sind. Sehen wir uns an Beispielen an, was bisher passiert ist:
Citibank 1998
Fangen wir mit dem Streik an, der Ende 1998 im Ruhrgebiet dafür sorgte, dass die Situation in Call Centern öffentlich diskutiert wurde. Ausgangspunkt war die Ankündigung der Citibank-Unternehmensleitung, die Call Center in Bochum, Duisburg und Gelsenkirchen (und weitere, unter anderem in Frankfurt) zu schließen und die Aufgaben in einem neuen Call Center in Duisburg zu konzentrieren. Die alten Verträge der ArbeiterInnen sollten aufgelöst werden und es war klar, dass nicht alle in Duisburg wieder eingestellt würden. Zudem waren die Bedingungen im neuen Call Center von vorne herein schlechter: niedrigerer Lohn, längere Arbeitszeit, weniger Urlaub...
Im Bochumer Call Center gab es einen Betriebsrat, der unter anderem aus Leuten bestand, die schon politische Erfahrungen im Asta[114] an der Ruhruniversität Bochum gesammelt hatten. Der Betriebsrat schaltete aber auch die Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (hbv) ein. Er forderte die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit dem Ziel, dass die Bedingungen der "alten" Call Centern auch für das neue in Duisburg gelten. Es wurde schnell deutlich, dass die Citibank darauf nicht eingehen würde. Betriebsrat und Gewerkschaft organisierten über die vorgesehenen Wege - Betriebsversammlung, Urabstimmung - drei mehrstündige Streiks, die über Wochen verteilt stattfanden. Als die Unternehmensleitung der Citibank sich auch weiterhin nicht ernsthaft bewegte, veranstaltete der Betriebsrat Kundgebungen und Öffentlichkeitsaktionen, um mehr Druck auszuüben. Tatsächlich ließ er so den Kampf mit symbolhaften Aktionen leer laufen und verhandelte schon über einen Sozialplan. Mitte 1999 wurden dann die "alten" Call Center dichtgemacht und nur wenige in Duisburg wieder eingestellt. Basierend auf Gesprächen und Interviews mit Citibank-ArbeiterInnen heißt es in einem Bericht:
Ein Problem der Kommunikation während des Streiks bestand in der Tatsache, dass siebzig Prozent der ArbeiterInnen auf Teilzeit arbeiteten. Die Betriebsversammlungen konnten so nicht von allen ArbeiterInnen besucht werden. Viele bekamen daher erst spät oder unmittelbar am Streiktag von Aktionen mit. Während des Streiks standen die ArbeiterInnen vor dem Unternehmensgebäude, das durch Wachpersonal gesichert wurde, während drinnen StreikbrecherInnen weiter arbeiteten. Die Zeit während der Aktion wurde dazu genutzt, sich gegenseitig über den Stand der Verhandlungen etc. zu informieren. Von Betriebsrat und Gewerkschaft wurde dann auch zu den Innenstadt-Aktionen (Verteilen von Postkarten mit Boykottaufrufen...) mobilisiert.
Die Stimmung schwankte zwischen Euphorie, Aggression und Enttäuschung. Euphorie darüber, dass etwas passierte, was den normalen Arbeitsalltag unterbrach. Aggressionen über die Reaktionen der Geschäftsleitung, die Partys für Streikbrecher organisierte. Enttäuschung, als klar wurde, dass die Aktionen die Schließung nicht verhindern werden und die Streikbeteiligung am dritten Aktionstag stark nachließ. Es wurde auch Unmut über die Strategien der Gewerkschaften und des Betriebsrats laut: Meistens wurde an Samstagen gestreikt, wo weniger ArbeiterInnen Schicht hatten. Nur wenige forderten einen dauerhaften Streik über eine Woche bzw. zu Zeiten mit höherem Kundenvolumen.
Eine einheitliche Linie unter den ArbeiterInnen wurde auch dadurch erschwert, dass sie unterschiedliche Perspektiven hatten: viele waren Studis, die den Job eh nur als vorübergehendes Übel ansahen, für andere war es "ihr Arbeitsplatz", der ihnen auch zukünftig die Lebensgrundlage sichern musste. Viele Studis waren kämpferischer eingestellt, da sie scheinbar weniger zu verlieren hatten. Als klar wurde, dass wohl niemand einen Vertrag bekommen würde, überwog bereits der Frust, mit den Aktionen nichts erreicht zu haben. [hotlines-Website, 25. Juni 2001]
Hier werden schon einige Widersprüche deutlich:
* Die ArbeiterInnen hatten unterschiedliche Ziele im Kampf. Während einige tatsächlich den Job in Duisburg mit gleichen Bedingungen haben wollten, war für andere klar, dass sie sowieso nicht nach Duisburg wechseln.[115] Einige setzten also von vorne herein auf Abfindungen und andere Jobs.
* Zwar fühlten sich die streikenden ArbeiterInnen in der Aktion stärker ("Endlich zeigen wir es denen mal!"), aber das führte nicht zu einer "spontanen" Übernahme der Initiative. Die Organisierung des Streiks und der Kundgebungen lag weiter in den Händen der Betriebsräte.
* Die Citibank war entschlossen, die Schließung durchzuziehen. Es gab wenig Raum für einen Erfolg des Streiks.
* Die ArbeiterInnen haben es nicht geschafft, die Streikaktionen effektiver einzusetzen. Streik nur für ein paar Stunden und vorher angekündigt, sodass sich die Unternehmensleitung vorbereiten kann: Das bleibt ein schwaches Druckmittel. Das lässt sich aber nicht einfach auf den mäßigenden Einfluss der Betriebsräte (und der Gewerkschaft hbv) zurückführen, die dafür sorgten, dass alles seinen gesetzlich abgesegneten Gang geht. Die ArbeiterInnen hatten einfach auch keine Erfahrung mit Streiks und waren zu unentschlossen, um die Initiative zu übernehmen und unangekündigt die Arbeit hinzuschmeißen, wenn gerade die Warteschleife brummt.
Bei den angekündigten Streiks hatte die Citibank viel Zeit, den Streikbruch zu organisieren:
Die Unternehmensleitung unternahm verschiedene Maßnahmen, um den Streik zu brechen bzw. seine Auswirkungen zu schwächen. Erstens wurden viele Anrufe von Bochum zur Direktbank nach Aachen "umgeroutet", das heißt die TelefonistInnen in Aachen mussten zusätzlich Anrufe entgegennehmen, die für Bochum bestimmt waren. Zwischen den ArbeiterInnen in Bochum und Aachen bestand durch den Arbeitsablauf (Weiterleiten von KundInnen) täglich Kontakt. Nach den Aktionstagen kam es so auch zu Austausch über den Streik, was von Ablehnung ("Ihr mit eurem Scheiß-Streik. Wir hatten wieder totalen Stress!") bis zu solidarischeren Äußerungen reichte. Viele KundInnen, die durch die Presse vom Streik wussten, waren entgegen aller "Service über alles"-Ideologie überraschend unterstützend und forderten neben der Information über ihren aktuellen Kontenstand dazu auf, "sich nichts gefallen zu lassen".
Zweitens wurde eine Parallelabteilung in Duisburg aufgebaut. Teamleiter aus Bochum wiesen dort ArbeiterInnen ein, die bereits zu schlechteren Verträgen die selben Aufgaben erledigten, wie die ArbeiterInnen in Bochum. Ihnen wurde mündlich versprochen, später in das neue Gebäude in Duisburg wechseln zu können. Wir wissen nicht, ob diese ArbeiterInnen vom Streik wussten und sich klar waren, dass sie Streikbrecherarbeit leisteten, wenn sie an Streiktagen die Anrufe aus Bochum entgegennahmen oder die sich häufenden Sabotageakte von Bochumer ArbeiterInnen (AnruferInnen aus der Leitung schmeißen...) ausglichen.
Drittens wurden während der Streikaktion etwa vierzig Leute über Leihfirmen (Manpower, ...) im Bochumer Call Center beschäftigt. Streikbrechende TeamleiterInnen oder ArbeiterInnen wiesen sie ein, was bei der gering qualifizierten Arbeit möglich war. [hotlines-Website, 25. Juni 2001]
Das Unterlaufen eines Streiks durch Umrouten der Anrufe in anderen Call Center wird später wieder auftauchen. Hier wird aber auch die Schwächung deutlich, die in der Spaltung der ArbeiterInnen in verschiedene Call Center, Abteilungen oder Vertragsverhältnisse (Zeitarbeit, Teilzeit...) liegt.
British Telecom 1999
Beim Streik bei der British Telecom war genau das einer der Ausgangspunkte:
Vor Weihnachten 1999 traten ArbeiterInnen von British Telecom das erste Mal seit dreizehn Jahren wieder in Streik. Diese Streiks fanden in den Call Centern für technische Störungen statt und gelten als erster Streik in Call Centern in Großbritannien. Eine Serie von drei Ein-Tages-Streiks wurde von der Gewerkschaft der KommunikationsarbeiterInnen (Communication Workers' Union, CWU) ausgerufen, als Protest gegen die zunehmende Beschäftigung von ZeitarbeiterInnen (was von den festangestellten ArbeiterInnen als das angesehen wird, was es ist: eine Strategie, um die Löhne zu senken und sie letztendlich durch geringer bezahlte ArbeiterInnen von Zeitarbeitsfirmen zu ersetzen) und gegen den starken Druck und die Intensivierung der Arbeit, die das Management den ArbeiterInnen auferlegt hat. Allerdings fand nur einer der drei Streiktage tatsächlich statt, weil die CWU und das Management, wie üblich, zu einer Vereinbarung über eine umfassendere Anerkennung der Gewerkschaft am Arbeitsplatz kamen. [Undercurrent Nr. 8, Brighton, Sommer 2000]
Am Streik waren 4.000 ArbeiterInnen aus 37 Call Centern beteiligt. Die ZeitarbeiterInnen streikten nicht, was auch an ihrem unsicheren Status liegt: die British Telecom kann sie quasi von einem Tag auf den anderen nach Hause schicken. Zudem kann in Britannien auch die Zeitarbeitsfirma die Leute sofort kündigen, wenn der Auftraggeber (also in diesem Fall die British Telecom) die Leute nicht mehr will.
Auch hier haben die ArbeiterInnen nur kurz gestreikt und wenig bis nichts durchgesetzt. Zwar hat der Streik gezeigt, dass auch in diesen taylorisierten Telefonierfabriken gekämpft werden kann, weswegen er - wie der bei der Citibank - dann auch ein breites Echo vor allem in der linken Medienlandschaft gefunden haben. Die Gewerkschaft hat aber auch diesen Streik lediglich benutzt, um sich als Verhandlungsführer anerkennen zu lassen. Es gab keine Kerne von ArbeiterInnen, welche die Initiative übernehmen konnten. Gegenüber den Ausbeutern blieben die Aktionen schwach. Auch hier steht die Zersplitterung der ArbeiterInnen in verschiedene Call Center und Vertragsverhältnisse dahinter. Die ArbeiterInnen haben keine Formen gefunden, diese Schwäche auszugleichen.
Verizon 2000
Die ArbeiterInnen von Verizon in den USA haben mit ihrem Streik im August 2000 mehr rausgeholt - unter anderen Voraussetzungen. Über 86.000 ArbeiterInnen - Call Center-ArbeiterInnen, TechnikerInnen... - traten in mehreren US-Bundesstaaten in den Streik, nachdem der alte Tarifvertrag ausgelaufen war. Die Streikenden waren in zwei Gewerkschaften organisiert, der Großteil in der Communication Workers Union (72.000) und der Rest in der International Brotherhood of Electrical Workers (14.000). Bei dem Streik ging es offiziell vor allem darum, dass die Gewerkschaften auch in den neuen "Boomsparten" Mobilfunk und Internetdienstleistungen Mitglieder organisieren können. Hintergrund ist, dass Verizon dort schlechtere Bedingungen durchsetzte und auch ArbeiterInnen aus anderen Bereichen in diese Sparten verschieben wollte.
In den 15 Tagen, in denen der Streik andauerte, fanden täglich Hunderte von Streikposten-Aktionen statt. Die große Mobilisierung lässt sich darauf zurückführen, dass es im Streik auch um die insgesamt beschissenen Bedingungen ging: viele Pflichtüberstunden, Stress durch die hohe Arbeitsintensität...
Während des Streiks konnte Verizon den Telefonverkehr aufrechterhalten, weil 98 Prozent aller Anrufe automatisch vermittelt werden. Einige ArbeiterInnen ergriffen Maßnahmen, die Situation zu verschärfen, und zerstörten vor allem in New York City Telefonrelais:
Ein Uni-Prof zu den Anschlägen: "Verizon-Arbeiter haben eine besonders effektive Waffe, weil sie die komplizierte Verkabelung New Yorks kennen - und wegen der breiten Öffentlichkeitswirkung, die ihnen sicher ist, wenn das Netz gestört wird. Sie kennen die Infrastruktur, weil sie die aufgebaut haben." [hotlines-Website, 8. Juni 2001]
Der Einsatz von etwa 30.000 Streikbrechern aus dem unteren und mittleren Management sollte einen Minimalservice aufrechterhalten, aber dies scheiterte oft an deren Unfähigkeit.
In der Telefonauskunft, wo die Call Center-ArbeiterInnen normalerweise 1.000 bis 1.200 Auskünfte geben, schafften die streikbrechenden Sesselpuper ein Viertel dessen... Zehntausende warteten auf einen Neuanschluss, Reparaturen wurden nicht ausgeführt. Es gab lange Wartezeiten und Ausfälle in den Call Centern. [hotlines-Website, 8. Juni 2001][116]
Auch in diesem Streik gab es Widersprüche: Im Mobilfunkbereich wurde nicht gestreikt, ebenso in Bereichen, die einem anderen Tarifvertrag unterlagen. Und auch hier benutzten die beteiligten Gewerkschaften den Streik, um sich gegenüber den Bossen als Verhandlungsführer und Garanten eines Tarifabschlusses neu zu profilieren. Der Abschluss nach zwei Wochen Streik sah Lohnerhöhungen und Leistungsprämien, eine Begrenzung der Überstunden und die Möglichkeit für die Gewerkschaft vor, die ArbeiterInnen in der Mobil- und der Internet-Sparte als Mitglieder zu werben.
Wie sagte doch der CWU-Gewerkschafts-Präsident Morton Bahr nach dem Streik zum Tarifabschluss:
"Dieses Ergebnis sichert die Zukunft unser Mitglieder in dieser Firma und hilft auch Verizon, seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen". [hotlines-Website, 8. Juni 2001]
Telecom Italia 2001
Eine andere Variante der Streikauseinandersetzungen läuft seit einiger Zeit bei der Telecom Italia. Dort organisieren ArbeiterInnen mit Unterstützung von Basisgewerkschaften[117] kurze Streiks gegen die Arbeitsintensivierung, Auslagerungen, Entlassungen und die miesen Löhne. Die Flmu-Cub in Firenze/Italien ruft zum Beispiel jeden Monat zu Streiks an bestimmten Tagen auf, bei denen unter anderem Nacht- oder Wochenendarbeit verweigert wird. An diesen Aktionen nehmen schon mal Hunderte ArbeiterInnen teil. Dazu heißt es in einem Flmu-Flugblatt:
Telecom Italia ist dabei, zahlreiche Arbeitsplätze zu streichen und weitere zu verlegen. Außerdem werden neue Arbeitszeiten und eine neue Arbeitsorganisation eingeführt, insbesondere in den "online"-Sektoren, die sich als weiterer Angriff auf die "Würde" der ArbeiterInnen darstellen, durch die technologische Kontrolle, die Willkür der "Verantwortlichen" etc. All das mit dem Ziel, Arbeitsplätze zusammenzustreichen und die in höherem Maße prekäre und flexible Arbeit einzusetzen. (...) Um diesen Prozessen was entgegenzusetzen und "humanere" Arbeitsbedingungen durchzusetzen, ruft die Basisgewerkschaft Flmu-Cub für den 15. Oktober alle ArbeiterInnen (...) zum Streik auf.
- Gegen die Prekarisierung und Flexibilisierung
- Gegen die Verlagerung und Auslagerung der Arbeit und der ArbeiterInnen
- Gegen die neuen Arbeitszeiten und die Organisation "Modell Call Center"
- Für den Verbleib der Arbeitsplätze auf lokaler Ebene
- Für humanere Arbeitsbedingungen und das Beibehalten von Schicht-Tausch
- Für die Einhaltung der Gesundheits- und Sicherheits-Standards
[Flugblatt der Flmu-Cub, Firenze, Oktober 2001]
Es ist schwer einzuschätzen, welche Auswirkungen diese Form der regelmäßigen, kurzen Streiks tatsächlich haben. Es scheint, als seien sie bis zu einem gewissen Grad auch von den Kapitalisten akzeptierte Ausdrucksformen des Unmuts, bei dem Druck abgelassen wird. Das Streikrecht sieht in Italien vor, dass eine Gewerkschaft einen lokalen Streik lediglich zehn Tage vorher ankündigen muss.[118] Für die Streikenden bedeutet dies, dass sie in dem Fall nicht entlassen werden - sofern sie nicht in der Probezeit sind - aber halt keinen Lohn für die gestreikten Stunden sehen. Die Telecom Italia setzt gleichzeitig in Bezug auf die Call Center auf zwei Strategien, um die Auswirkungen der Streiks zu begrenzen:
* Kurzfristig leitet sie die Anrufe in andere Call Center um. Daraus ziehen die AktivistInnen der Flmu-Cub den Schluss:
Wir müssen die Kampfformen den Änderungen in der Arbeitsorganisation anpassen: Wenn heute die ArbeiterInnen der 187 [technischer Support] der Telecom Italia in der Toskana streiken, auch mit hoher Beteiligung, hat das schwerlich Auswirkungen auf die Firma, weil der Streik in der Toskana durch die 187 in Ligurien "aufgehoben" wird. Dasselbe gilt für die anderen Call Center. [Flugblatt der Flmu-Cub, Firenze, Dezember 2001]
* Langfristig zerlegt sie die Call Center immer weiter in räumlich getrennte Einheiten, lagert bestimmte Bereiche aus oder vergibt sie an Fremdfirmen. Dazu wieder die AktivistInnen:
Außerdem werden die Streiks zu einer "stumpfen Waffe", weil die Arbeit auch an andere Firmen weitergegeben wird: Bei der 187 werden die Anrufe zu Atesia geleitet. Die logische Konsequenz ist, dass Kampfinitiativen auf alle Call Center einer Firma ausgedehnt werden müssen, um Wirkung zu zeigen. Nicht nur das: Es ist notwendig, auch die verbundenen Unternehmen in den Kampf einzubeziehen, wie zum Beispiel Atesia. [Flugblatt der Flmu-Cub, Dezember 2001]
Blu 2002
Noch ein Beispiel: Blu (Mobilfunk) in Firenze. Nachdem das Call Center vor etwa zwei Jahren mit großem Tamtam und Staatsknete gefördert aufgemacht wurde, wollen die Groß-Aktionäre (unter anderem Benetton) nun das ganze Unternehmen verkaufen, was die Schließung der Call Center bedeuten kann. Seit Februar 2002 werden nach und nach die Leute mit auf zwei Jahre befristeten sogenannten Ausbildungsverträgen rausgeschmissen. Hier Auszüge aus einem Interview:
Als am 13. [Februar] gesagt wurde, dass kein Vertrag verlängert wird, war das wie ein Schock. Nicht nur für die 24 an dem Tag Betroffenen, sondern für alle anderen, die auch solche Verträge haben. Als die Nachricht am Vormittag kam, hörten alle sofort mit Telefonieren auf. Die meisten Manager waren an dem Tag nicht zu sehen. Von den Teamleitern waren ja auch einige betroffen. Die anderen haben sich zurückgehalten. Es gab wütende Diskussionen. Die Leute haben sich verraten gefühlt. Sie hielten sich für die "guten Agents", die Erfahrenen, waren zum Teil schon aufgestiegen... und jetzt das. Zudem hatten gerade die an dem Tag Entlassenen auch persönliche Kontakte zum Management, was unter anderem aus der Anfangszeit herrührte, als alle zusammen noch wenige waren.
Die Diskussionen dauerten einige Stunden an. Die Anrufe für die Privatkunden-Linie wurden ins zweite Call Center von Blu umgeleitet, das sich in Palermo befindet. Wahrscheinlich gab es dann dort Engpässe. Die Situation in der Geschäftskunden-Linie spitzte sich zu. Da hier die Anrufe nicht umgeleitet werden konnten - und weil die Geschäftskunden natürlich auch wichtiger sind - versuchte der Manager, die Leute wieder an die Telefone zu bringen. Die haben sich geweigert, weswegen es zu heftigen Wortwechseln kam. Am späten Nachmittag wurde dann wieder telefoniert. Allerdings waren da die meisten von der Tagschicht schon nach Hause gegangen.
Am nächsten Tag (14. Februar) organisierten die Gewerkschaftsvertreter von der Cgil und Uil[119] eine Betriebsversammlung, bei der sie insbesondere den Manager der Geschäftskunden-Linie wegen seiner verbalen Ausfälle in Schutz nahmen. Und dass, obwohl der sogar schon Konsequenzen für die ArbeiterInnen angedroht hatte, die sich im entgegengestellt hatten. Für diese Verteidigung wurden die Gewerkschafter auf der Versammlung scharf angegriffen.
Die Atmosphäre insgesamt hatte sich aber schon verändert. Am Tag des wilden Streiks hat sich kaum wer über die Konsequenzen Gedanken gemacht. Am nächsten Tag schon. Die meisten der Leute haben auch keine Erfahrung mit solchen Auseinandersetzungen.
Für den 15. Februar, einen Tag später, war ein landesweiter Streik der Basisgewerkschaften angesetzt. Als etwa zwanzig Leute, einige Blu-ArbeiterInnen und Leute von der Basisgewerkschaft Flmu-Cub, vor dem Blu-Gebäude auftauchten, war auch die vorher benachrichtigte Presse da. Die ArbeiterInnen im Call Center haben die kleine Gruppe von drinnen gesehen. Von den etwa zweihundert Anwesenden sind hundert rausgegangen und haben draußen die Kundgebung mitgemacht, wobei die Stimmung angesichts dessen hervorragend war. Die schon genannten Vertreter von Cgil und Uil sind runtergekommen und haben die ArbeiterInnen aufgefordert, die Arbeit wieder aufzunehmen, weil der Streik "nicht autorisiert" sei. Die meisten ArbeiterInnen sind aber erst nach etwa einer Stunde, als die Kundgebung vorbei war, wieder reingegangen.
Die Vertreter der Cgil und Uil haben auch weiterhin versucht, die Aktionen der ArbeiterInnen zu sabotieren, indem sie zeitgleich mit anderen Veranstaltungen Betriebsversammlungen einberiefen... [Aus der Zusammenfassung eines Interviews mit einem der Streikenden, April 2002]
Bei Blu passierte nach einer weiteren Kundgebung von Blu- und Telecom Italia-ArbeiterInnen am 19. März nicht mehr viel. Mittlerweile sind die bisher beschäftigten ZeitarbeiterInnen draußen und zudem etwa hundert Leute entlassen worden, wovon die meisten gleich andere Jobs gefunden haben. Die verbleibenden 150 reißen sich auch kein Bein mehr aus, weil etliche von ihnen nur noch Verträge für wenige Monate haben und die Zukunft des Call Centers weiter unklar ist.[120]
Interessant bei den Auseinandersetzungen bei Blu ist vor allem, dass es vor dem wilden Streik am 13. Februar keine offenen Auseinandersetzungen gab. Vielmehr hatten die ArbeiterInnen mit den befristeten Verträgen zwei Jahre stillgehalten, weil sie auf eine Übernahme und den Aufstieg in andere Jobs - weg von den Telefonen - hofften.
Die Gewerkschaftsvertreter der Cgil und Uil spielten in den Auseinandersetzungen offen die Rolle der Bremser und Kapos, die den Betriebsfrieden garantieren und Aktionen von ArbeiterInnen in den Griff kriegen wollen. Das ist die zweite Seite der Medaille: Wir haben vorher gesehen, wie Gewerkschaften Streik auch als Mittel einsetzen, um sich gegenüber den Kapitalisten als Vertreter der "ArbeiterInnen-Interessen" zu profilieren. Das können sie aber nur, wenn sie gleichzeitig "wilde" Streikaktionen verhindern können, die außerhalb ihrer Kontrolle liegen - wie in diesem Fall versucht.
Fazit
Wir sind hier nur auf einige Streiks eingegangen. Wir wissen von weiteren in Frankreich, Italien, Spanien, Südkorea, Britannien.
Die Streiks, die wir gesehen haben, liefen meist nur in einem Laden. Fast alle fanden in einem Sektor statt, in dem es in den letzten Jahren drastische Veränderungen gegeben hat: Telekommunikation.
Bei der Telecom Italia, der British Telecom, Verizon, der Deutschen Telekom und anderen Konzernen, die aus den früheren staatlichen Telefongesellschaften hervorgegangen sind, läuft seit Jahren eine Umstrukturierung der Arbeit. Viele Verwaltungs- und Serviceaufgaben werden nach dem "Modell Call Center" organisiert. Damit einher geht eine Taylorisierung der Arbeit, eine Dequalifizierung der Angestellten, die Ausdehnung der Schichtarbeit, die Auslagerung ganzer Unternehmensbereiche...
Die Tatsache, dass in den dortigen Call Centern der Widerstand größer scheint als in anderen Bereichen, hängt damit zusammen, dass - zumindest in Ländern wie Italien, Britannien, USA - eine gewisse Tradition von Kämpfen existiert, inklusive einer gewerkschaftlichen Organisierung. Die Gewerkschaften legitimieren sich darüber, dass sie sich als Verteidiger der bestehenden Bedingungen erweisen - wenn es sein muss, mit einer Eskalation der Auseinandersetzungen bis zum Streik. Das bedeutet aber auch, dass die Gewerkschaften bei Konflikten gleich die vorgegebenen Bahnen der Sozialpartnerschaft einschlagen.
In den "neuen" Bereichen spielen die Gewerkschaften diese Rolle noch nicht. Aufgrund des rechtlichen Monopols der Gewerkschaften auf legale Streiks existieren hier also auch wenig Erfahrungen mit dieser Art "offener Kämpfe". Die Frage ist, ob das Fehlen des Rituals der gewerkschaftlich geführten "Verteidigung der Bedingungen" gegen Angriffe des Kapitals Raum geben kann, für "unkontrollierte" Formen des Kampfes?
Aber wo noch keine gewerkschaftlichen Strukturen bestanden, die einen Streik im Rahmen der Tarifauseinandersetzung hielten, entstanden Initiativen, die erstmal selber versuchten, einen Kampf zu organisieren... um dann meist wieder auf Gewerkschaften oder gewerkschaftsähnliche Organisationsformen zurückzugreifen (Citibank, Blu, Telecom Italia).
Streiks können zwar Perioden kollektiver Erfahrungen sein, in denen ArbeiterInnen einen Zusammenhalt aufbauen und ihre Macht erkennen, aber solange sie in keine breitere Bewegung eingebunden sind, bleiben sie begrenzt. Die Gewerkschaften können die Streiks als bloßes Druckmittel in Tarifauseinandersetzungen benutzen. Sie kanalisieren die Konflikte auf kontrollierte Streikmobilisierungen, um dann mit dem Abschluss eines Tarifvertrags die weitere Ausbeutung mit zu verwalten.
Unser Blick gilt deswegen den Kämpfen und Verhaltensweisen, die diese Funktion der Gewerkschaft in Frage stellen und angreifen. Damit sind wir bei:
6.3 Organisierungsformen
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Wir haben in den Call Centern und im Zusammenhang mit der hotlines-Intervention viele Diskussionen über die Frage der Selbstorganisierung und die Gründung von Betriebsräten geführt. ArbeiterInnen, welche die Schnauze voll haben von den Bedingungen, suchen nach Auswegen. GewerkschafterInnen mit Erfahrungen in anderen Sektoren, wollen auch hier Betriebsgruppen oder Betriebsräte aufbauen. Linke AktivistInnen, die sich auch auf die Ausbeutungsrealität beziehen, starten Initiativen, um Konflikte zu verstehen und einzugreifen... Wir wollen das hier genauer angehen und an Beispielen diskutieren:
a [Gewerkschaften/Betriebsräte]
b [Basisgewerkschaften]
c [Unterstützungsinitiative]
d [Selbstorganisierung]
Gewerkschaften/Betriebsräte
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Betriebsräte sind gewählte Institutionen, die auf betrieblicher Ebene als Vertretungsorgan der ArbeiterInnen fungieren und Betriebsvereinbarungen mit den Bossen abschließen. Sie setzen sich in der Regel aus GewerkschaftsvertreterInnen zusammen. Auf regionaler und landesweiter Ebene spielen die Gewerkschaften diese Rolle der "Interessenvertretung". Ihre Funktionäre verhandeln mit den Vereinigungen der Kapitalisten über Tarifverträge und mit dem Staat über die Sozialpolitik... Betriebsräte und Gewerkschaften versuchen den Unmut der ArbeiterInnen aufzunehmen, fassen ihn in konkrete Forderungen, verhandeln und vermitteln, um die Bedingungen der ArbeiterInnen zu verbessern und den "sozialen Frieden" zu garantieren.[121]
Gewerkschaften
Anhand der Konflikte in Call Centern lässt sich erkennen, dass die Gewerkschaften als vertretende Organisationsform der Entwicklung hinterherhinkt und nur als Apparat überlebt. Für eine neue Generation von ArbeiterInnen - in Zeitarbeitsfirmen, mit befristeten Verträgen, in Call Centern... - die ihre Perspektive nicht mehr im Beruf oder dem lebenslangen Arbeitsplatz finden kann, ist dieser Apparat ein Bremsklotz auf der Suche nach eigenen Kampfformen. Die Funktionäre der Gewerkschaften setzen darauf, über die weitere Kooperation mit den Unternehmern ihren Platz am Verhandlungstisch zu erhalten. Sie spielen - ob gewollt oder nicht - in der Hand der Unternehmer, indem sie die Konflikte im rechtlich abgesicherten Rahmen halten. Damit die Gewerkschaften auch in Call Centern die Funktion als Vermittlerinstanz zwischen den Bossen und ArbeiterInnen spielen können, müssen sie zwei Sachen erreichen:
* Sie sind darauf angewiesen, die ArbeiterInnen in ihren Verein zu kriegen, um sie dann auch (ver)treten zu können. Dafür hat zum Beispiel die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di "Call Center-Beauftragte" ernannt, von der Gewerkschaft bezahlten Funktionäre, die sich Konzepte einfallen lassen sollen, wie sie die Leute in den Call Centern zu Mitgliedern machen können. Zudem gründet und fördert ver.di diverse Initiativen, die sich auf die Bedingungen in Call Centern oder anderen Buden der New Economy beziehen (zum Beispiel Callz in Dortmund, connex.av...), bildet Chatrooms für Call Center-ArbeiterInnen...
* Die Gewerkschaften müssen sich gegenüber den Unternehmern auch in Call Centern als Verhandlungspartner etablieren, die Tarifverträge abschließen und gegenüber den ArbeiterInnen durchsetzen können. Dafür betreiben sie die Gründung von Betriebsräten, fordern die Einhaltung von "Mindeststandards" und schlagen die Aufnahme von Tarifverhandlungen vor.
Die Gewerk-schaft ver.di zeigt sich in letzter Zeit besonders aktiv. Bei der Vorstellung eines Forschungs-projekts mit dem Titel "Soziale Gestaltung der Arbeit in Call Centern" erklärte deren stellvertretender Vorsitzender: "Wir wollen Standards für eine arbeitnehmerorientierte Gestaltung der Arbeit in Call Centern entwickeln, so genannte soziale Benchmarks." Dabei gehe es auch um "ein Ende der hire-and-fire-Mentalität." Er stellte auch die Gründung einer "Consulting-Firma für soziale Call Center" in Aussicht.[122] Das liegt ganz auf der Linie der Darstellung der Gewerkschaft als modernes Dienstleistungsunternehmen.
Nach Abschluss eines Tarifvertrags für die Call Center-ArbeiterInnen bei der Lufthansa in Berlin-Schönefeld sagte die ver.di-Verhandlungsführerin: "Starke Betriebsräte, ein hoher gewerkschaftlicher Organisierungsgrad und - wenn erforderlich - die Bereitschaft zu Arbeitskampfmaßnahmen sind der einzige Weg heraus aus dem Niedriglohnsektor... Nur so kann es gelingen, dass ein gerechter Lohn für die anspruchsvollen Tätigkeiten in der gesamten Branche zukünftig dazugehört."[123] Bei der Unterzeichnung eines Call Center-Tarifvertrages mit dem Hamburger Einzelhandelsverband ging ein ver.di-Funktionär noch weiter: "Durch die Einführung sozialer Standards soll das Image der Branche verbessert werden."[124] Ein anderer Funktionär und ver.di-Betriebsrat meinte: "Ein gutes Klima und Betriebsfrieden schafft auch Motivation und Verlässlichkeit."
Ok, es ist langweilig, der Gewerkschaft ihre biedere Beschränktheit vorzuwerfen. Aber die genannten Leute wollen uns ans Arbeiten kriegen. Sie verschleiern die Ausbeutung, indem sie von "gerechtem Lohn" reden. Sie wollen die Verweigerung und Wut der ArbeiterInnen kanalisieren und auf die Forderung nach "sozialen Standards" festlegen.
In Call Centern treffen sie auf viel Skepsis, versuchen aber massiv, da einen Fuß reinzukriegen, indem sie sich "modern" oder "basisorientiert" darstellen. Sie schieben sich zwischen die ArbeiterInnen und die Bosse, vermitteln, entschärfen, befrieden auch hier, damit die Ausbeutung etwas "sozialer" weitergeht.
Betriebsräte
Die Chefs von Unternehmen mit Betriebsräten[125] wissen, dass sie diese gut gebrauchen können, um aufkommende Konflikte mitzukriegen ("Geh erstmal zum Betriebsrat, die regeln das!"). Vielleicht müssen diese Firmen mehr Kohle für Raucherräume, Nachtschichtzulagen und die Weihnachtsfeier hinlegen, weil der Betriebsrat da ein Auge drauf hat, aber dafür haben die Bosse mit dem Betriebsrat eine Zwischeninstanz, die für sie die Probleme abscannt und als geordnete Anliegen an sie "heranträgt".
Wo Erfahrungen mit Mitbestimmung vorliegen [hat man] gelernt, dass Betriebsräte keineswegs Konflikte in den Betrieb bringen, sondern in der Lage sind, auf Grund ihrer Legitimation durch die Belegschaft und ihrer klaren gesetzlich geregelten Rechtsstellung zur zivilisierten Lösung von Konflikten beizutragen. (...) Größenwachstum und Differenzierung der Arbeits- und Organisationsstrukturen im Betrieb erfordern ein professionelles arbeitsteilig agierendes Management. Wird in dieser Situation der traditionelle paternalistische Führungsstil beibehalten, kommt es immer wieder zu Blockaden innerhalb der Unternehmensführung und zu Konfrontationen zwischen einzelnen Belegschaftsgruppen und dem Management (...) Hier wäre eine vermittelnde und konfliktbewältigende 'neue Kraft im Betrieb' dringend notwendig. Betriebsräte erfüllen diese Funktion... [Wolfram Wassermann, Die Angst des Unternehmers vor dem Gewerkschafter, Frankfurter Rundschau, 1. Februar 2001][126]
Aber das ist nicht unser Problem. Gewerkschaften haben diese Funktion, Gewerkschaften und Betriebsräte spielen diese Rolle. Problematisch ist, dass auch in Call Centern und HiTech-Buden der inzwischen alt aussehenden Neuen Ökonomie einige der fittesten ArbeiterInnen selbst darauf kommen, einen Betriebsrat zu gründen. In den Konflikten erscheint ihnen das als Möglichkeit, was an ihren Bedingungen zu verbessern... und das noch gesetzlich geschützt, was die Gefahr der Kündigung zu mindern scheint. Aber welche Erfahrungen haben ArbeiterInnen tatsächlich damit gemacht?
Bei der Hotline GmbH (Call Center-Dienstleister) in Berlin wurden Ende 2000 wegen Wegfall eines Auftrags über fünfzig Leute gekündigt. Einige haben sich überlegt, dass ein schnell gegründeter Betriebsrat solche Kündigungen in Zukunft verhindern könnte. Als die Chefs - Ex-Linke, die annahmen, dass sie als Ausbeuter auf der Sonnenseite stehen - das mitbekamen, haben sie gleich etwa zwanzig Leute entlassen, die sie hinter den Betriebsrats-Plänen vermuteten. Später wurde dann eine Betriebsratswahl durchgezogen, bei der hauptsächlich Teamleiter und Leute aus der Personalabteilung gewählt wurden. Dieser Betriebsrat soll jetzt für den reibungslosen Ablauf der Telefonarbeit sorgen.
Bei Medion in Mülheim diskutierten die ArbeiterInnen Ende 2000 über die miesen Bedingungen und den Stress während der Aldi-Verkaufsaktionen.[127] Die Gewerkschaft hbv (heute Teil von ver.di) leitete kurz darauf die Vorbereitung einer Betriebsratswahl ein. Bei der Betriebsversammlung hat die Geschäftsleitung erfolgreich Leute aus der Verwaltung, Schicht- und Teamleitung auf die Listen gehievt. Bei der anschließenden Wahl kam ein Betriebsrat raus, der im Herbst 2001 dafür sorgte, dass die Bedingungen bei der Aldi-Weihnachtsaktion so beschissen waren wie im Jahr davor.
Ein Beispiel zeigt, wie sich ArbeiterInnen in ihren Versuchen im Gestrüpp der gesetzlichen Regelungen verheddern: Frontline (Bestellservice für Skater-Sachen) in Hannover. Dort telefonieren vor allem StudentInnen. Hier zusammengefasst aus Äußerungen von Frontline-ArbeiterInnen:
Die Arbeitsbedingungen sind schon mies, die Arbeit wurde dann noch bei gleichem Lohn intensiviert. Es gab ein Gespräch unter KollegInnen, was mensch machen kann. Erstmal wollten wir einen Betriebsrat, um Kündigungsschutz zu genießen. Wir sind zur Gewerkschaft (ver.di), die dann zu einer Betriebsversammlung eingeladen hat. Ein Wahlvorstand wurde gewählt, nach drei Monaten gab es die Betriebsratswahl. Wochenlang haben wir erstmal Infos gesammelt, was du da für Rechte hast als StudentIn, als Betriebsrat... Wir wollten vor allem Urlaubsentgelt und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchsetzen. Es gab dann Schulungen bei der Gewerkschaft (für die Betriebsräte). Die Chefs des Ladens wollten auch kooperieren.
Es stellte sich aber raus, dass der Betriebsrat wenig machen kann. Er kann auf die Durchsetzung der Bildschirmpausen pochen, versuchen, juristisch eine Lohnfortzahlung durchzusetzen... Aber laut Betriebsverfassungsgesetz (BverfG) §6 muss er einen Spagat machen: Er muss das Wohl der Belegschaft und des Betriebes im Auge haben. Der Betriebsrat soll diesen Widerspruch ausgleichen. Laut BVerfG §74 soll er sich um die Beilegung von Konflikten kümmern, Arbeitskampfmaßnahmen sind nicht zulässig, es gilt die Friedenspflicht.
Wenn es darauf ankommt, kann er nicht zum Streik aufrufen. Das ist ungesetzlich. Mensch eiert rum, ohne richtiges Druckmittel. Der Betriebsrat ist dazu da, den Gegensatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu verschleiern. Wenn mensch einen Betriebsrat hinkriegt, gibt es erstmal innerhalb von wenigen Wochen konkrete Ergebnisse (kleine Verbesserungen, Infos). Aber um dauerhaft die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sind ihm die Hände gebunden. Zwar kann der Betriebsrat auch mit dem Management Betriebsvereinbarungen abschließen, aber dabei hat er kein Druckmittel (wie Streik). Das läuft dann eher auf die "Zebratheorie" raus: eine Kungelei, gibst du was weg (zum Beispiel Zustimmung zu neuer Software), kriegst du was (zum Beispiel Urlaubsregelung).
Jedenfalls stimmt nicht, dass durch den Betriebsrat alles besser wird. Bei Frontline bestand der Betriebsrat letztlich aus Festen und nur einem der StudentInnen, die sich aufgemacht hatte, was durchzusetzen. So hat der BR dann auch etlichen Kündigungen zugestimmt usw. [Aus einer Diskussion mit Frontline-ArbeiterInnen, Dezember 2001]
Hier wird klar, dass Leute mit Eifer drangehen, einen Betriebsrat aufzubauen, und dann merken, wie begrenzt die Möglichkeiten sind. Das Ziel der Verbesserung der Arbeitsbedingungen über "Mitbestimmung" und "Vertretung der Interessen der Belegschaft" läuft auf eine Legitimation der Maßnahmen der Bosse hinaus, während sich an den Bedingungen selber wenig ändert - geschweige denn an der Ausbeutung insgesamt.
Thesen
Uns geht es hier nicht darum, die Betriebsräte in den Mittelpunkt des Kampfes zu stellen, obwohl in Auseinandersetzungen oft Situationen entstehen, wo wir die konkreten Schweinereien benennen und angreifen müssen. Das ist der Fall, wenn Betriebsräte oder Gewerkschaften sich direkt gegen Aktionen von ArbeiterInnen wenden, aktive Leute denunzieren oder Kämpfe durch den Abschluss von Verträgen zu untergraben suchen.
Betriebsräte sind im günstigsten Fall lediglich für die rechtliche Absicherung kurzlebiger und begrenzter Verbesserungen gut, bieten aber ansonsten keine Perspektive. Sie sind zudem eine Falle, wenn es uns um die Entwicklung von ArbeiterInnenmacht geht, weil sie diese hemmen und untergraben. Da das ein zentraler Punkt ist, der in der Diskussion mit ArbeiterInnen wieder auftaucht, haben wir Thesen formuliert:
* Die Institutionen Betriebsrat und Gewerkschaft haben selber keine eigene Macht. Die ergibt sich lediglich aus der möglichen oder tatsächlichen Militanz der ArbeiterInnen, die sich von ihnen vertreten lassen. Ohne deren Fähigkeit, sich gemeinsam zu wehren und die Arbeit zu verweigern, bleiben die Institutionen Papiertiger. Nur wenn sie in der Lage sind, mit Aktionen der ArbeiterInnen (Streiks...) zu drohen, können sie am Verhandlungstisch was durchsetzen.
* Beide, Betriebsrat und Gewerkschaft, wirken der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Macht auf Seiten der ArbeiterInnen entgegen. Betriebsräte sind an gesetzliche Regelungen gebunden und sollen den "Betriebsfrieden" aufrechterhalten. Gewerkschaften schließen Tarifverträge ab, die sie gegenüber den ArbeiterInnen dann durchsetzen müssen, auch wenn diese andere Vorstellungen haben. Das "Vertreten" läuft nur über die Passivität der zu Vertretenden. Spontane Konflikte, in denen die Chance auf Entwicklung eines kollektiven Selbstvertrauens liegt, werden von den "Vertretern" oft durch Paragraphen, Verhandlungen und individuelles Arbeitsrecht abgewürgt. Dazu kommt, dass die berufsorientierte oder betrieblich begrenzte Organisationsstruktur Spaltungen unter den ArbeiterInnen vertieft - und aktuell mit der Mobilität und geringen Identifikation der ArbeiterInnen mit der Arbeit (im Call Center) nicht mithält, die sich meist gar nicht auf ihren "Beruf", die Abteilung oder die Firma beziehen.
* Gewerkschaften und Betriebsräte entwickeln ein eigenes Interesse. Sie wollen als Institutionen überleben, was nur durch die Anerkennung durch die Bosse geht. Dafür müssen sie sich profilieren: Gegenüber den ArbeiterInnen müssen sie Verbesserungen vorweisen, gegenüber den Unternehmern Mitglieder und ihre Fähigkeit, Tarifabschlüsse auch gegenüber den ArbeiterInnen durchzusetzen. Das bedeutet, dass sie in konkreten Konflikten immer versuchen werden, die Kontrolle zu behalten.
* Die Bosse nutzen Betriebsräte und Gewerkschaften, um Konflikte unter Kontrolle zu bringen. Die Vertreter nehmen die Unzufriedenheit und Wut der ArbeiterInnen auf und kanalisieren sie in verhandelbare Forderungen. Aus den Versuchen, der Bildschirmarbeit zu entkommen, weil sie die Augen kaputt macht, macht der Betriebsrat die Forderung nach Einhaltung der EU-Norm für Bildschirmpausen. Aus der Erfahrung der sinnlosen Telefoniererei und Kundenverarsche machen die Gewerkschaften eine Kampagne zur "Qualifizierung" der ArbeiterInnen. Nach dem Streik und dem Abschluss eines Tarifvertrags, sorgen die Gewerkschaften für dessen Einhaltung und dafür, dass die ArbeiterInnen wieder "zur Arbeit zurückkehren".
* Auch "linke" GewerkschafterInnen, die "aufrecht" für die Sache der ArbeiterInnen einstehen, erfüllen die konfliktregelnde Funktion, die in bürgerlichen Gesetzen festgehalten ist. Sie bewegen sich inmitten von Vorschriften und Zwängen und werden von anderen ArbeiterInnen in ihrer Funktion als VertreterIn gesehen - nicht mehr als "KollegIn", mit der mensch gemeinsam kämpfen kann. In Zeiten weniger kollektiver Initiativen der ArbeiterInnen selber lässt sich diese Dynamik von Unzufriedenheit und Vertretungsreflex kaum aufbrechen. Erst, wenn in Kämpfen neue Strukturen der Kommunikation und kollektiven Aktion entstehen, kann das gesprengt werden. Soweit sind wir (gerade) nicht.
Das führt uns zum nächsten Punkt: Einige kämpferische AktivistInnen versuchen, diese neuen Strukturen kollektiver Aktion auch ohne Kämpfe vorwegzunehmen oder zu simulieren. Dabei sind deren Ausgangspunkte oft durchaus unseren ähnlich: Wie kommen wir aus der Defensive raus? Wie unterstützen wir die ArbeiterInnen, die sich gegen die Bedingungen wehren?... An zwei Beispielen wollen wir das diskutieren: Basisgewerkschaften und Unterstützungsinitiative.
Basisgewerkschaften
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Wir haben in der letzten Zeit auch mit einigen AktivistInnen von Basisgewerkschaften in Italien diskutiert, Berichte ausgetauscht, Treffen organisiert. Wir hatten mitbekommen, das diese auch in Call Centern arbeiten und dort versuchen, die Konflikte zu verstehen und einzugreifen. Hier nun einige Thesen zu ihren Aktivitäten. Es geht uns um eine kritische Diskussion mit ihnen und allen anderen, die ähnliche Ansätzen von Organisation und Mobilisierung anhängen.
Die Basisgewerkschaften wurden von ArbeiterInnen Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre vor allem in einigen Sektoren des öffentlichen Dienstes gegründet (Eisenbahn, Schulen...). Sie brachten AktivistInnen der verschiedenen Streik-Mobilisierungen der achtziger Jahre zusammen, die zum Teil schon in den Bewegungen der Siebziger beteiligt waren und eine radikale Kritik der kapitalistischen Verhältnisse mit der Basisorganisierung der ArbeiterInnen zusammenbringen wollten. Dazu kamen unzufriedene - oder ausgeschlossene - Mitglieder der etablierten Gewerkschaften Cgil-Csil-Uil (Confederali)[128] , die dem Staat und den Kapitalisten gegenüber eine gemäßigte Politik verfolgen.
In den Betrieben entstanden - zum Teil als Versuch, die Reste von Streikkomitees oder -bewegungen zusammenzuhalten - Basisgruppen, die sich zu mehreren Vereinigungen zusammenschlossen: Cobas, Cub... Diese unterscheiden sich zum Teil in ihren Positionen, zum Beispiel in Bezug auf die Verweigerung oder den Abschluss von Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen.
Zwei dieser Basisgewerkschaften sind Snater und die Flmu-Cub. Snater, ursprünglich als sogenannte "autonome" Gewerkschaft beim staatlichen Fernsehen RAI entstanden, hat sich Mitte der achtziger Jahre auch auf den Telekommunikationssektor ausgedehnt. Als Ausgangspunkt beschreibt Snater die Kritik an den Vereinbarungen von Unternehmern und Confederali (Cgil-Csil-Uil):
Wir haben immer wieder festgestellt, dass viele dieser Abkommen zu einer zunehmenden Schwächung der tariflichen Situation der ArbeiterInnen und der deutlichen Beschneidung ihrer Rechte geführt hat. So wurde eine Entwicklung ermöglicht, die durch die geringere Einkommen, Dequalifizierung der Arbeit, verschiedene Formen der Flexibilisierung und vor allem Einschränkung der Rechte und Ansprüche charakterisiert ist. [snater-Website: [www.snatertlc.it]]
Die Flmu-Cub organisierte ArbeiterInnen in den Sektoren Metall, Telekommunikation und Energie und ist Teil der Basisgewerkschaft Cub (Confederazione Unitaria di Base). Als Ziele formuliert die Cub, die 1992 gegründet wurde, unter anderem:
Die Verteidigung und Ausdehnung der Beschäftigung durch die Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden mit Lohnausgleich und die Schaffung von sozial notwendiger Arbeitsplätze, die Verteidigung und Erhöhung der Löhne... die Reduzierung der Steuern, die auf der Lohntüte lasten, das Recht der ArbeiterInnen auf Gesundheit und Sicherheit an den Arbeitsplätzen, was nicht der Logik des Profits unterworfen werden darf,... das Recht der ArbeiterInnen, selber über Verträge, Verhandlungsdelegationen und demokratische Wahlen der gewerkschaftlichen Vertreter entscheiden zu dürfen, und die Verteidigung des Streikrechts. [cub-Website: [www.cub.it]]
Diese Ausrichtung an der Vertretung der Interessen der ArbeiterInnen in den tariflichen Konflikten und die Gegnerschaft gegenüber den Confederali, die diese Interessen verraten haben und mit den Unternehmern paktieren, charakterisiert die Aktivitäten aller Basisgewerkschaften. In vielen Punkten - Vertretung der Interessen der ArbeiterInnen, Wahl in die betrieblichen Interessenvertretungen, Forderung nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen... - stellen sie nur eine vermeintlich radikalere gewerkschaftliche Variante dar.
Uns geht es hier aber nicht um die Funktionäre, sondern die GenossInnen, die meinen, sie könnten die Basisgewerkschaften benutzen, um kurzfristig die Herausbildung eines neuen Selbstbewusstsein der ArbeiterInnen zu unterstützen und mittelfristig so zu einer militanten Klassenbewegung zu kommen. Die AktivistInnen von Flmu-Cub und Snater, mit denen wir diskutieren, waren in den Anfängen noch nicht dabei. Sie sind später dazugekommen, als ArbeiterInnen in Call Centern in Firenze und Bologna, in diesem Fall bei Telecom Italia und der Mobilfunktochter TIM.
Sie hängen sich mit großem Engagement in einem Betrieb - oft allein oder mit wenigen anderen GenossInnen - in die Konflikte rein, werben Mitglieder, sammeln Material über die Strategien der Unternehmensleitung, organisieren juristischen Beistand. Sie schreiben Flugblätter zu aktuellen Auseinandersetzungen und Infoblätter (wie das seit fünf Jahren monatlich erscheinende Bip Bip aus Firenze oder die Front Line aus Bologna, in der auch italienische Übersetzungen der hotlines-Flugblätter erschienen). Sie nahmen auch an den Wahlen der betrieblichen Gewerkschaftsvertretungen (RSU) teil.[129] Vor allem aber organisieren sie regelmäßig ein- oder mehrstündige Streiks gegen die Nachtarbeit, den Stress, die Nichteinhaltung von Gesundheitsvorschriften, Lohnkürzungen, Entlassungen oder Versetzungen...
Die AktivistInnen sehen in der (basis-)gewerkschaftlichen Organisation eine Möglichkeit, die genannten Konflikte im Betrieb aufzugreifen und die Leute zu organisieren. So wollen sie die Lethargie der ArbeiterInnen und das Gefühl der Machtlosigkeit überwinden. Sie suchen eine Form, die ArbeiterInnen mit prekären Verträgen (Zeitarbeit, befristete Verträge...) mit den "Festen" zusammenzubringen. Sie wollen die Kungelei der Confederali unterlaufen, welche die Selbstaktivität der ArbeiterInnen sabotieren.[130]
Auch wenn sie sich Begrenzungen ihrer Aktivität bewusst sind, sehen sie einige Vorteile ihrer gewerkschaftlichen Versuche (gegenüber einer nicht-gewerkschaftlichen Intervention):
* Die Anerkennung als Gewerkschaft ermöglicht es ihnen, zu legalen Streiks aufzurufen.[131]
* Gegenüber den ArbeiterInnen können sie - im Gegensatz zu klandestinen Formen der Organisierung - offen auftreten und diese über Mitgliedschaften einbinden.
* Sie können als Gewerkschaften in juristischen Auseinandersetzungen auftreten.
* Durch die Beteiligung an den RSU-Wahlen kommen sie an Informationen ran und können die Kungeleien der Confederali mit den Bossen aufdecken.
* Sie haben gegenüber der Presse und anderen Medien eine größere Bedeutung, weil sie dort als "Gewerkschaften" auftreten können.
* Bei Flmu-Cub und Snater gilt auch, dass es zwar eine landesweite gewerkschaftliche Struktur gibt, aber die einzelnen Gewerkschaftszellen vor Ort unabhängig ihre Linie fahren können. Anders als bei den hierarchisch organisierten Confederali gibt es keine politische Linie, der sie zu folgen haben. Die örtlichen AktivistInnen machen ihre Sachen, mehr oder weniger ohne Probleme mit der Gewerkschaftshierarchie zu kriegen, etwa weil sie zu "radikal" wären.[132]
Hier treten aber ähnliche Probleme auf den Plan wie in der Betriebsrats-Debatte, die wir mit den GenossInnen weiter diskutieren wollen:
* AktivistInnen der Basisgewerkschaften versuchen, einen ArbeiterInnenstandpunkt einzunehmen und die Konflikte aus der Perspektive der "Interessen" der ArbeiterInnen zu verstehen. Dabei werden sie mit den offiziellen Zielen, vertreten durch die Gewerkschaftsführungen identifiziert. Diese bleiben aber bei einem Verständnis des Kapitalismus als Verteilungskampf stehen. Sie betonen die Ansprüche der ArbeiterInnen, ihre Rechte, ihre Würde... und verlangen nach besserer Entlohnung und "humanen" Arbeitsbedingungen. Sie wollen also einen größeren Anteil am "Reichtum". Dabei gerät aus den Augen, dass der Kapitalismus vor allem ein gesellschaftliches Verhältnis ist, dass die ArbeiterInnen immer weiter zur Arbeit zwingt. Erst Kämpfe, die dieses Verhältnis insgesamt angreifen, können die Abschaffung der Ausbeutung einleiten und auch die Frage des "Reichtums" klären.
* Auch im Fall der "radikaleren" Versuche innerhalb der Basisgewerkschaften funktioniert der Vertretungsimpuls. Viele "Mitglieder" oder "Sympathisanten" machen die Streiks mit (sprich: sie kommen an dem Tag nicht zur Arbeit...), aber nehmen sonst wenig an den Diskussionen teil. Konflikte werden an die BasisgewerkschafterInnen herangetragen, und die suchen dann nach einer Lösung: Arbeitsgericht, Gespräch mit der Geschäftsleitung, Flugblatt mit Forderungen, Streik. Der Kern der AktivistInnen bleibt klein. Für die ArbeiterInnen sind sie auch ein Dienstleister für die Probleme in der "Arbeitswelt"... Dies steht im Widerspruch zum Anspruch der Basis-AktivistInnen, denen es um die Entwicklung des Selbstbewusstseins und der Erfahrung von ArbeiterInnenmacht in den Kämpfen geht, und die dabei Streiks einsetzen wollen, um jederzeit den Produktionsprozess unterbrechen zu können.[133]
* Die Aufspaltung der Ausbeutungssituation in einzelne, betriebs- oder sektorbezogene Konflikte öffnet auch hier den Weg für verhandelbare Kompromisse. Die Flugblätter und Kommuniques der Basisgewerkschaften thematisieren Fragen nach Gesundheit, Überstunden oder Lohn als einzelne Auseinandersetzung und versuchen, aufgrund der Diskussionen der ArbeiterInnen dazu Forderungen zu formulieren: Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften, keine Überstunden, keine Sonntagsschichten, Lohnerhöhungen, kein Einsatz von ZeitarbeiterInnen, Festverträge für alle... Auch wenn sie dann keine Tarifverträge abschließen (was viele BasisaktivistInnen ablehnen, einige Basisgewerkschaften aber machen) legen sie so die Ebene der Auseinandersetzung fest: Die Bedingungen sind scheiße, die müssen besser werden. Damit bleibt die Ausbeutung als grundlegender Widerspruch ausgeklammert. Erst sie erklärt aber überhaupt, warum wir diese Konflikte haben.[134] Zudem reproduziert die Aufteilung der Basisgewerkschaften in Sparten (Transportsektor, Telekommunikationsbranche...) in gewisser Weise die Spaltung der ArbeiterInnen, indem sie als Basis für die Agitation die Zugehörigkeit zu einem Bereich nehmen und damit gar der Entstehung von Berufsstolz und Forderungen nach Qualifikation Vorschub leisten. Das ist deshalb interessant, weil viele ArbeiterInnen in Call Centern darüber hinaus sind: Sie wollen dort nicht lange arbeiten, sie interessieren sich wenig für die Qualität der Arbeit, sie wehren sich gegen die Kontrolle. Sie wechseln in andere Jobs, wenn sie da mehr Kohle erwarten oder weniger arbeiten müssen. Arbeit, Beruf, Karriere sind für viele nicht mehr der Mittelpunkt, der Lebensfaden, sondern vielmehr die Clique, die LebenspartnerInnen, Urlaubmachen, Partys, was erleben...[135]
* Die Orientierung an juristischen Rahmenbedingungen (Gesetze zu Gesundheit, Kündigungsschutz, Entlohnung von Überstunden...) hat zur Folge, dass der Staat als Garant von Mindestbedingungen legitimiert wird. Die Orientierung an diesen Mindeststandards verschließt den Blick auf die Tatsache, unter welchen Voraussetzungen diese aufgestellt werden: zur Sicherung der Ausbeutung.[136] Das produziert ein Verhältnis zum Staat, dass die Selbstaktivität blockiert: Ok, ich kriege nicht den gesetzlich vorgeschriebenen Urlaub. Also gehe ich zum Arbeitsgericht und der Richter wird das für mich richten. (Statt dass ich mit den anderen ArbeiterInnen dem Chef in den Arsch trete...)... Praktisch haben diese juristischen Versuche noch die Auswirkung, dass die Mindeststandards zum Orientierungspunkt werden (statt "maximale" Ziele) und sich die AktivistInnen zur Jongleuren der Paragraphen werden und kaum mehr zu anderen Sachen kommen...[137]
* Der Hickhack um die Vertretung der ArbeiterInnen auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene führt zu einer Gewerkschaftskonkurrenz, die zum Teil groteske Züge annimmt. Die wichtige Kritik an den Confederali, die zum Beispiel bei Telecom Italia und TIM Streikaktionen als "illegal" bezeichnen und ArbeiterInnen zum Streikbruch auffordern, geht dann im Abfeiern der Erfolge bei der betrieblichen Wahlen unter. Bei Streikaktionen wird nachher die "Organisationsehre" verteidigt, indem diese unabhängig von der tatsächlichen Beteiligung und Begrenztheit als Erfolg verkauft werden, auch wenn sie an der Entschlossenheit der Kapitalisten scheitern oder die Beteiligung der ArbeiterInnen nicht reicht, um was durchzusetzen. Sollen die weiteren Organisationsversuche nicht gefährdet werden, muss die "eigene" Organisation als erfolgreich und wichtig dargestellt werden.[138]
Diese Probleme können nicht etwa durch eine "radikalere" Strategie gehoben werden. Sie sind vielmehr Ergebnis der Passivität der ArbeiterInnen selber, die dazu führt, dass auch diejenigen, die vor Ort den Bossen ans Bein pissen wollen und dabei auf Formen der Selbstorganisierung der ArbeiterInnen setzen, in die beschriebenen Vertretungs- oder Mobilisierungsstrudel geraten.[139]
Unterstützungsinitiative
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In Deutschland gibt es seit einigen Jahren Versuche, an konkreten Konflikten Unterstützungsinitiativen aufzubauen, entweder - wie oben erwähnt - unter gewerkschaftlicher Aufsicht, oder als Resultat von selbstorganisierten Mobilisierungen.[140]
Wir waren erfreut, als wir erfuhren, dass sich Leute aus Berlin auf die konkrete Klassensituation - in diesem Fall die Konflikte in den Call Centern - beziehen und dazu eine Untersuchung anfangen wollten.[141] Sie gründeten die Call Center Offensive, ein ironischer Bezug auf die gleichnamige Förderinitiative des Landes Nordrhein-Westfalen für die Ansiedlung von Call Centern in eben diesem Land. In einem Flugblatt stellte sich die Call Center Offensive so vor:
Die Call Center Offensive besteht aus Leuten, die zum Teil selber in Call Centern arbeiten. Wir versuchen Agents bei Kämpfen gegen die Arbeit oder für die Verbesserung von Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu unterstützen - zum Beispiel durch Öffentlichkeitsarbeit oder die Vermittlung von Anwälten. Zugleich geht es uns auch darum, einen Rahmen zur Verfügung zu stellen, in dem Erfahrungen mit solchen Kämpfen und Arbeitssituationen gemeinsam reflektiert werden. [Einladung zu einem "Call Center-Agent-Treffen", 14. Dezember 2000][142]
Ihr Versuch bekam dann entsprechenden Drive, als in mehreren Berliner Call Centern Konflikte eskalierten und sie als UnterstützerInnen mitten drin standen. In einer Diskussion beschrieben sie, wie sich ihre Initiative entwickelt hat. Hier Auszüge aus dem zusammengefassten Protokoll:[143]
Ausgangspunkt war, dass wir Prekarisierung scheiße fanden und was dagegen machen wollten. Es gab keine fertigen Fragen dazu und wir sind relativ zufällig bei Call Centern gelandet. Wir fanden den Sektor unter anderem deswegen interessant, weil die Gewerkschaften da keine große Rolle spielen. Wir hatten auch überlegt, was zu Dussmann zu machen (Putzsektor), aber da kannten wir niemand. Wir wollten auch nichts stellvertretermäßig machen. In Call Center hatten wir einige Kontakte, einer von uns hat da schon gearbeitet.
Wir haben uns auf Call Center insgesamt konzentriert, weil wir nicht bei einem Call Center versacken wollten. Es sollte auf jeden Fall betriebsübergreifend sein. Also haben wir erstmal geschaut, wo es schon Kontakte gibt. Bei den ersten Treffen waren dann auch hauptsächlich diese Leute da. Es hat dann aber geklappt, dass Leute auftauchten und mitdiskutierten, die dann später in Konflikten in Call Centern dabei waren. Beim ersten Konflikt, bei Audioservice, gab es mehrere Probleme:
* Das Verhältnis zwischen den Leuten aus der Call Center Offensive zu den ArbeiterInnen: Beim ersten Treffen sah es so aus, dass die ihre Bedingungen verteidigt haben, die lockere Arbeitsatmosphäre, während wir darauf hingewiesen haben, wie mies andere Seiten seien: kein Urlaubsentgelt, keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, und dass sie dagegen kämpfen sollten.
* Auf dem zweiten Treffen waren die ArbeiterInnen verbal wesentlich radikaler. Inzwischen hatte die Geschäftsleitung Arbeitsverträge "für jeweils einen Tag" eingeführt, was zu einiger Unruhe führte. Die Tatsache, dass wir Treffen mit denen organisiert hatten, kam mit der Einführung der Tagelöhner-Verträge zusammen und führte zu dem Kampf. Die Firma war schlau genug, die Leute scheibchenweise zu entlassen.
Wir haben insgesamt vor allem rumprobiert, eine Art "tastende Praxis". ("Ich wollte vor allem Klassenkampf machen, nicht nur drüber reden.") Es ist aber nicht das rausgekommen, was wir wollten. Wir haben uns jeweils nicht erst was überlegt, und dann was gemacht. Es gab Reflexion, Rumprobieren einzelner, aber keine gemeinsame Position, auch keine theoretische Diskussion, aus der dann eine Praxis hervorging. Es gab praktische Anforderungen ausgehend von den Konflikten, dann wurde gemacht.
In erster Linie ging es um die Unterstützung. Das war das zentrale Wort in Bezug auf die Kämpfe. Bei Hotline GmbH war zum Beispiel klar, dass die Leute das selber organisieren, wir aber bei der Öffentlichkeit helfen können. Der Einfluss von uns war nicht groß. Wir nahmen an den Diskussionen teil (einzeln). Die nahmen uns wahr als Unterstützer, die Infos beisteuern, und haben uns nicht kritisiert. Allerdings hatten die auch ein gewisses Unverständnis uns gegenüber, weil sich einige von denen unter radikaler Politik nur Antifa vorstellen konnten und kaum wussten, wie mensch sich politisch auf solche Auseinandersetzungen (bei der Arbeit) beziehen kann. Ansonsten haben sie sich auch an die Gewerkschaft gewendet. ("Die dachten auch, dass das was Karitatives ist, und hatten die Befürchtung, das wir denen Entscheidungen abnehmen und ihnen was aufdrücken.")
Bei Emnid war das anders: Wir wollten aus den Erfahrungen bei Audioservice und Hotline GmbH lernen, wo sich Leute zusammenfanden, die Konflikte schnell eskalierten und zu Rausschmissen führten - und damit zum Ende des Kampfes. Wir wollten uns also zusammensetzen und gemeinsam bestimmen, was wir machen. Einige von uns arbeiteten dort. Die Einschätzung war, dass da nichts geht. Wir nahmen uns vor, erstmal zu beobachten und Gespräche anzuleiern. Wir wollten auch nur kommentieren, nichts fordern. Das hat dann aber nicht funktioniert, weil wir diese Absprache unterschiedlich interpretiert haben: Es wurde gleich ein Flugblatt geschrieben, was die miesen Bedingungen anprangerte (wegen der Auseinandersetzungen bei Emnid Bielefeld) und zum Kampf aufforderte. Das mit "kommentieren, begleiten, abwarten" lief nicht. Bei Emnid ging es dann auch nicht weiter, weil die Fluktuation dort sehr hoch ist und nach wenigen Monaten da schon wieder andere Leute arbeiten. Emnid war die einzige Initiative, wo das von der Call Center Offensive ausging (was machen, wo vorher nichts lief), ansonsten kam es von den ArbeiterInnen.
In ihren Flugblättern und Veranstaltungen wies die Call Center Offensive immer wieder auf die Notwendigkeit des Austausches von Informationen über die Möglichkeiten hin, sich gegen Maßnahmen der Unternehmer zu wehren ("Kommunikation ohne Management und Telefon", "Verhaltet euch solidarisch - Organisiert und vernetzt euch - Tauscht Telefonnummern und Email-Adressen"). In dem Rahmen erstellte sie auch eine Liste von Berichten über Berliner Call Center mit Angaben zu den Bedingungen dort.
Daneben gaben sie in Flugblättern Infos über die gesetzlichen Bedingungen ("Gekündigt, gekickt, gefeuert? Tipps für den Fall der Kündigung", "Warum man sich auf keinen Fall auf Abfindungen von 300 DM einlassen sollte", "Die meisten Forderungen sind übrigens nur die gesetzlichen Mindeststandards für Arbeitsplätze: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsanspruch und ein Betriebsrat", "Grenzen und Möglichkeiten von Betriebsratsarbeit in Call Centern mit überwiegend prekär Beschäftigten"). Wieder aus dem Verlaufsprotokoll der Diskussion:
Wir sehen den Sozialstaat nicht nur als befriedende Maßnahme von oben, sondern auch als erkämpfte Errungenschaft. Wir wollen zumindest die ArbeiterInnen auf die Mindeststandards hinweisen. Dabei sind die Flugblätter, die wir schreiben, quasi Diskussionsangebote. Sie stellen keine Forderungen, sondern sollen informieren: Die staatliche Regulation läuft so und so, das sind die festgelegten Standards... Wir geben dabei keinen Mindeststandard vor, also zum Beispiel einen Mindestlohn. Wir weisen lediglich auf die Gegebenheiten hin. Das allein führt dann oft schon zu Diskussionen. Ein Problem ist aber, dass wir dann mit den Leuten schnell dahin kommen, dass die sich an den Mindeststandards orientieren und dazu Forderungen stellen (siehe bei Hotline GmbH mit ihrer Forderung nach einem Betriebsrat, obwohl das ja Leute sind, die sich "revolutionär" geben). Die Leute denken dann, das seien erreichbare Dinge, anders als wenn wir die Übernahme der Produktionsmittel fordern würden. Der entlohnte Urlaub oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verspricht einen unmittelbaren Vorteil, weil das individuell den Lohn erhöht. Außerdem wissen sie den Staat im Rücken.
Es geht (aber) nicht um "Aufklärung", sondern um den Anfang einer Diskussion. Es geht um was Konkretes, Erreichbares. Wir wollen ein Stück Bewegung herstellen, fördern, eine Organisierung anschieben - keine fertige Organisation, aber auch kein Stillhalten. Wir wollen eine Selbstreflexion anschieben, auch da, wo die ArbeiterInnen die Scheiße oft rechtfertigen (schön flexible Arbeitszeiten und so). So löste die Auseinandersetzung um die Mindeststandards bei Audioservice und Hotline GmbH ja auch gleich massive Reaktionen des Managements aus (Kündigungen...), und es kam zu Auseinandersetzungen, auf die wir bauen. Kämpfe brechen ja oft an Vorstellungen von "Recht" (Gerechtigkeit) auf, an der Frage, dass einer/einem was "zusteht", weil mensch gut gearbeitet hat usw. Das lösen aber nicht wir aus, das passiert sowieso. Die Leute lernen in den Auseinandersetzungen dann, dass das ein Kampfverhältnis ist. Sie lösen sich von dem Verständnis, dass es "gute" und "schlechte" Kapitalisten gibt.
Wir wollen aber in den stattfindenden Auseinandersetzungen auch die konkreten Bedingungen verbessern. Hier ist wichtig, dass die Call Center Offensive ein Bündnis ist von Leuten aus verschiedenen Gruppen, mit unterschiedlichem Hintergrund. Wir haben auch unterschiedliche Vorstellungen von dem, was über die Unterstützung der Kämpfe hinausgeht. Wir sind uns nur einig, dass Kämpfe her müssen... Es um die Kämpfe, was mit den Leuten darin passiert, was für Erfahrungen sie auch in der Niederlage machen. Wir spielen darin erstmal keine große Rolle, auch wenn wir mehr Ahnung von der Situation und Entwicklung in Call Centern haben. Wir können unterstützen, aber uns kommt nicht die Rolle zu, zu sagen, wo es lang geht. Wir können Erfahrungen beitragen aus verschiedenen anderen Kämpfen, können jetzt zum Beispiel von der Betriebsratsgründung abraten (nach den Erfahrungen bei Hotline).
Die dargestellten Positionen und Erfahrungen werfen einige Fragen auf:[144]
* Ihr Ausgangspunkt war die Prekarisierung, sprich die Aufweichung der bisherigen Normalarbeitsverhältnisse (35- oder 40-Stunden-Woche, unbefristet) und die Schaffung sogenannter "atypischer" Arbeitsverträge (Zeitarbeit, befristete Anstellung, Teilzeit, Praktikantenverträge, Scheinselbständigkeit...). Auch wenn diese Arbeitsverhältnisse in den letzten Jahren ausgeweitet wurden, so führt der "Kampf gegen die Prekarisierung" doch zur Forderung nach "fester Arbeit" (sprich: normaler Ausbeutung). Dabei kann das eigentliche Ziel, der Kampf gegen die Ausbeutung, aus den Augen geraten.[145]
* Erstmal verständlich, wenn eine Gruppe sich an die Sachen ran macht, ausprobiert, versucht... und nicht in grundsätzlichen Diskussionen hängen bleibt, wo letztendlich dann wenig bei rauskommt. Andererseits verhangelt mensch sich aber ohne genauere Diskussion in den vielen Schlingen, an denen wir uns bei den Versuchen vorbei kommen wollen: Verbesserung der Arbeitsbedingungen über Betriebsrat oder Gewerkschaft; Bezug auf den Staat als Garant von bestimmten "Standards" bei Löhnen, Urlaub... Wenn wir die Klassenrealität verstehen und die revolutionären Tendenzen mitkriegen wollen, brauchen wir immer wieder eine Diskussion der damit zusammenhängenden theoretischen Fragen. Die Call Center Offensive ist ein Bündnis von Leuten aus verschiedenen Zusammenhängen - und nicht alle wollen überhaupt die Möglichkeit der Revolution diskutieren. Insofern war ihre "sprunghafte" Praxis ein Ergebnis dieser Uneinigkeit und problematischen inhaltlichen Bestimmung der Versuche.[146] Gleichzeitig ermöglichte das Stehenlassen der grundlegenden Differenzen überhaupt erst den gemeinsamen Versuch von Praxis.
* Bei Fragen nach Betriebsrat und Orientierung an gesetzlichen Rahmenbedingungen oder "Mindeststandards" war die Position der Call Center Offensive oft nicht klar, was wiederum an der Zusammensetzung und unterschiedlichen politischen Einschätzungen lag. Einige wollten diese Orientierung, andere hatten deutliche Kritik. Interessant ist, dass die Erfahrung mit der Betriebsratsgründung bei der Hotline GmbH dazu führte, dass die Call Center Offensive insgesamt Betriebsräte nachher wesentlich kritischer diskutierte.[147]
* Es ist immer ein Dilemma, quasi von "außen" eine politische Auseinandersetzung um Konflikte und Kämpfe in einem bestimmten Bereich zu führen. Das kann dazu führen, dass die beteiligten ArbeiterInnen das als "Einflussnahme" oder "Funktionalisierung" begreifen, oder eben als "karitativ". Die Frage ist hier, wie wir unsere eigene Ausbeutungssituation als Ausgangspunkt nehmen und die konkreten Auseinandersetzungen als gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeutung begreifen und darstellen können. Die belebenden Impulse im Rahmen der Call Center Offensive kamen denn auch von den "Call Center-Agents", die im Laufe der Auseinandersetzungen bei Audioservice, Hotline GmbH, ADM und Emnid dazustießen. Das waren jeweils einzelne, oft politisch aktive GenossInnen, die - meist als StudentInnen mit Teilzeitjob - in den Call Centern ihre Brötchen verdienten. Sie kamen bis auf wenige Ausnahmen nur solange auf Treffen, wie der Konflikt in "ihrem" Laden akut war. Das kennen wir aus anderen Versuchen.[148]
Selbstorganisierung
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Wir haben in den Flugblättern mehrmals darauf hingewiesen, dass wir Vertretungsstrukturen ablehnen, weil sie die Selbstaktivität und die Entwicklung von ArbeiterInnenmacht behindern und dafür sorgen, dass die Kämpfe gespalten, befriedet oder integriert werden. Dagegen haben wir den Begriff der Selbstorganisierung gesetzt, um auszudrücken, dass nur direkte Aktionen und unmittelbare Organisierungsformen den Raum für die Entwicklung einer neuen Bewegung gegen das Ausbeutungsverhältnis eröffnen.
Es geht darum, gemeinsam gegen Arbeitshetze und Arbeitszwang vorzugehen. Das können wir nur, wenn wir uns selber organisieren und mit anderen ArbeiterInnen Mittel und Wege finden, auf Maßnahmen der Geschäftsleitungen zu reagieren und eigene Interessen durchzusetzen. Unsere Stärke liegt darin, dass wir uns mit anderen ArbeiterInnen schnell und direkt absprechen können und zum Beispiel Überstunden verweigern, Arbeitsanweisungen ignorieren oder den Anruf-Akkord runtersetzen. Ohne dass die Chefs darauf vorbereitet sind und ohne Vermittlung und Kontrolle durch Betriebsrat und Gewerkschaften. Wenn wir diese Stärke entwickeln und einsetzen, kann das ein Schritt sein, die Lohnsklaverei insgesamt zu überwinden. [hotlines Nr.2, Dezember 2001]
Dieser Prozess kann ein solcher Schritt sein, muss aber nicht. Die ArbeiterInnen kommen bei der Arbeit mit anderen zusammen und organisieren gerade auch in Call Centern einen Teil des Arbeitsprozesses selber. Sie diskutieren die Probleme mit der Maschinerie, den KundInnen, den Vorgesetzten, untereinander. Darin liegt aber noch nichts Subversives. Auch wenn die Konfrontation an Schärfe zunehmen und Kämpfe ausbrechen, bedeutet das nicht, dass damit gleichzeitig eine Radikalisierung einhergeht oder mehr als nur die eigenen Arbeitsbedingungen oder die Situation in der Firma thematisiert werden. Vielmehr haben wir erfahren, dass Versuche der Selbstorganisierung von ArbeiterInnen auf der Ebene des Protestes stehen bleiben oder sich - auch ohne Drängen der Gewerkschaften - auf sozialpartnerschaftliche Versuche beschränken, die Bedingungen zu verbessern. Das sahen wir an den schon beschriebenen Versuchen in Berliner Call Centern[149] ebenso, wie bei Düsseldorfer Call Center-ArbeiterInnen, die nach ihrem Rausschmiss die gemeinsame Arbeitssuche organisieren wollten...
Einen Versuch der Selbstorganisierung wollen wir genauer dokumentieren. Hier der Bericht eineR TeilnehmerIn:
Das Call Center ist eine Computer-Hotline. Der Hotline-Bereich dieses Call Centers unterteilt sich in ersten und zweiten Level. Der erste Level ist in zwei Schichten aufgeteilt, die immer in der gleichen Besetzung zusammen sind. Die meisten sind fest eingestellt, aber es gibt da auch ein paar Teilzeitarbeiter, meistens Studenten. Man könnte unsere Arbeit Saisonarbeit nennen: Es ist viel zu tun, wenn sie neue Computer anbieten und nicht so viel, wenn sie das nicht tun.
Die neue Verkaufsaktion stand an und alle hatte einen Haufen Arbeit. Als danach das Call-Aufkommen wieder sank, fingen einige an zusammenzurutschen und miteinander zu reden. Nicht mehr wie vorher in Einzelgesprächen, sondern in größeren Gruppen. Das hatte einen offenen Charakter, wer wollte, konnte daran teilnehmen. Einmal hatten einige Probleme mit einem Teamleiter. Nachdem es untereinander besprochen worden war, wurde er in die Mitte gerufen und alle konnten sagen, was ihnen an ihm nicht gefällt. Alle sahen das neue Arbeitsklima als Erfolg an, was es auch zu bewahren galt. Aus der Runde mit dem Teamleiter entwickelte sich dann die Idee, regelmäßigere Treffen zu organisieren. Diese Idee stammte eher von dem Gefühl, endlich eine andere Umgangsweise miteinander gefunden zu haben, als wirklich dem Bedürfnis nach Organisiertheit.
Das erste Treffen fand in einem Restaurant statt. Von achtzehn waren zwölf gekommen, vier waren krank gemeldet. Wir waren zusammen gleich nach der Schicht dorthin gefahren und hatten uns für die Diskussion eine Stunde Zeit gegeben, aus der aber natürlich zwei wurden. Die Tage vorher war eine Liste rumgegangen, in die jede/r eintragen konnte, was er/sie diskutieren möchte. Diese Liste war erstaunlich lang: das Klima und Vertrauen untereinander, die anstehenden Betriebsratswahlen, die Arbeitsanweisungen, Kommunikation zu anderen Abteilungen, mangelnde Produktinformation, Gesprächsführung am Telefon, Urlaub, Gehaltsabrechnung, externe Telefonate.
Einer las die Tagesordnungspunkte vor und der/diejenige, der/die sie aufgeschrieben hatte, sollte erklären, was damit gemeint war. Danach klärten wir kurz, ob es ein wichtiger Punkt war, ob wir ihn schnell klären konnten oder ob wir ihn andiskutieren und vertagen oder ganz fallen lassen mussten. Es hat uns alle überrascht, wie diszipliniert wir waren. Wir haben weder einen Moderator noch eine Rednerliste gebraucht. Es wurde zwar gelegentlich lauter und auch chaotisch, aber längst nicht so emotional wie bei den Diskussionen während der Arbeit.
Das größte Problem war die Frage der Durchsetzung. Die einen meinten, man sollte erst etwas leisten, bevor man Forderungen stellen könnte. Einer brachte sogar den Vorschlag, wir bräuchten eine schriftliche Ausarbeitung, wie wir besser arbeiten könnten. Darin müssten dann unsere Verbesserungsvorschläge zum Tragen kommen. Dagegen wurde argumentiert, dass der Arbeitsalltag ganz anders aussieht. Wir würden weit mehr machen, als unsere Arbeitsanweisungen von uns verlangen und noch mehr, als sie uns in den Schulungen beigebracht haben. Was sei denn mit unseren sozialen und kommunikativen Fähigkeiten, den verschiedene Sprachen, die wir sprechen? Diese "Skills" tauchten weder in der Lohnabrechnung noch in irgendeiner andern Form von Anerkennung auf, aber ohne sie würde die Arbeit nicht funktionieren. Natürlich wüsste die Geschäftsleitung das und es ist auch klar, dass wir den Laden besser schmeißen könnten, würden sie uns lassen. Aber glücklicherweise will das ja niemand.
Es gab im Prinzip drei Fraktionen: diejenigen, die eine Managementposition einnehmen, diejenigen, die dagegen halten und eher einen ArbeiterInnenstandpunkt vertreten, und die Unentschlossenen, die mal nach da, mal nach da tendieren. Wenn die "Manager" das Wort haben, geht es darum, etwas zu leisten, die Arbeit besser zu organisieren, keine Forderungen zu stellen, ohne vorher bessere Arbeit zu leisten; den Teamleiter zu entlasten; sich gegenseitig zu helfen aber auch zu kontrollieren; doch auch einmal etwas zu opfern, zum Beispiel die Pause, um die News im Intranet zu lesen, und so was eben. Die "Arbeiterinnen" (auffällig: nur Frauen) wollen sich die Arbeit erleichtern, mehr Urlaub, unbedingt externe Telefonate machen dürfen, sehen nicht ein, warum sie plötzlich anders arbeiten sollen, um irgendjemandem etwas zu beweisen. Sie haben das eindeutige Gefühl, dass sie da ganz unten in der Hierarchie stehen, und vergleichen auch oft diesen Job mit denen, die sie vorher gemacht haben. Die Frauen haben keinerlei Ambitionen irgendeine Karriere zu machen, sie wollen nicht in den zweiten Level. Sie wollen einfach eine ruhige Kugel schieben. Ihre FreundInnen um sich wissen und möglichst viel Spaß haben, bis etwas Neues kommt.
Beim zweiten Treffen sind dann auch nur noch acht Leute gekommen. Die Diskussion verlief sich in allgemeine Statements zur Betriebsratswahl und neue Informationen über Produkte. Die Power war raus. Es war nicht möglich, die Diskussionen auf eine praktische Stufe zu stellen, uns etwas Konkretes vorzunehmen, was wir zusammen in Angriff hätten nehmen können. Und beim dritten Treffen waren sogar nur noch drei Leute da. So, wie es im Moment aussieht, sind die Treffen vorerst gestorben. Und tatsächlich haben sie so in der Form auch keine Bedeutung mehr. Wir werden also wieder zu unseren Runden während der Arbeit zurückkehren. Und vielleicht überlebt das Gefühl, dass wir die Möglichkeit haben, uns außerhalb zusammenzusetzen, auch so ganz ohne Teamleiter und Organisation.
Nach all den Treffen stellt sich die Frage, ob es wirklich so sinnvoll war, die gesamte Schicht zusammenzuhalten. Möglicherweise wäre es aufregender geworden, wenn die "Arbeiterinnen" sich zusammengesetzt hätten und einfach eine kleine Aktion gestartet hätten. Das hätte von allen eine eindeutige Position gefordert und den "Managern" vielleicht jegliche Basis geraubt.
Hier wird deutlich, wie - selbstorganisiert hin oder her - anhand der täglichen Konflikte lediglich über die "Probleme der Arbeit" diskutiert wurde. Ohne klare Konfrontation mit den Chefs, ohne Thematisierung der täglichen Arbeit als Ausbeutung, ohne Bezug auf die Krise oder die Situation in anderen Betrieben/Bereichen gab es keine Radikalisierung.[150] Die verschiedenen Fraktionen - "Manager", "ArbeitsverweigerInnen"... - neutralisierten sich. Dabei versuchten die "Manager" die Treffen immer wieder zu ordnen und auf die Verbesserung der Arbeit zu richten.
In einer solchen Situation - Konflikte, Wut, Diskussionen - scheint es sinnvoller, dass sich diejenigen zusammentun, die was gegen die Arbeit, die Chefs, die Ausbeutung machen wollen, ohne sich von denen, die "Managerpositionen" vertreten, davon abhalten zu lassen. Dabei ist auch die Frage, ob nicht eine Eskalation der Konflikte "auf Arbeit" mehr bringt, als eine organisierte Verlagerung der Diskussion "nach draußen".
Problematisch dabei ist, wie mensch die Entschlossenen zusammenbekommt, ohne dass es danach bei isolierten Aktionen bleibt. Wir können schauen, welche anderen ArbeiterInnen den Arbeitsstress nicht mitmachen, rummotzen, sabotieren, solidarisch mit andern ArbeiterInnen umgehen. Wir können sie ansprechen, mit ihnen diskutieren, Aktionen starten. Aber wir können die Schwäche nicht ausgleichen, die sich in der oben beschriebenen Situation darstellte: Offensichtlich war die entschlossenen ArbeiterInnen nicht zahlreich und entschlossen genug, die Situation in die Hand zu nehmen, um einen Kampf gegen die - in dem Laden mehr als beschissenen - Bedingungen vom Zaune zu brechen.
6.4 Fazit
[top]
Wir haben euch Dynamiken und Begrenzungen in Bezug auf Betriebsräte, Gewerkschaften, Unterstützungsinitiativen und Selbstorganisierungsversuche geschildert. In den Kämpfen bilden sie den Rahmen, in denen - besser: denen zum Trotz - ArbeiterInnen auf die Barrikaden gehen.
Die beschriebenen Organisierungsversuche selbst sind Ausdruck der Versuche von ArbeiterInnen, sich gegen die Ausbeutung zu wehren und dabei eine Perspektive für ein besseres Leben zu entwickeln. Solange sie in ihren täglichen Auseinandersetzungen diese Perspektive nur in "kleinen" Verbesserungen sehen und ihre Versuche keine Erfahrungen kollektiver Macht mit sich bringen, die das sprengen kann, bleiben sie bei "gewerkschaftlichen" Mechanismen hängen. Klar, dass es auch Leute gibt, die daran ein Interesse haben, weil ihre Stellung als bezahlter Funktionär oder Politiker sonst gefährdet ist...
Für uns steht im Mittelpunkt, wie die Auseinandersetzungen diesen Punkt überspringen und die Begrenzungen sprengen können. Die Fähigkeit zur Selbsttätigkeit und "spontanen" Aktion entwickelt sich oft in der direkten Konfrontation mit den Team- und Abteilungsleitern. Meist hängt das nicht an "rationalen" Überlegungen, ob jetzt diese und jene Reaktion auf die Maßnahmen der Büttel irgendeine konkrete Verbesserung bringt. Vielmehr bringt oft eine Kleinigkeit die Sachen ins Rollen. Wir wollen wissen, ob und wie ArbeiterInnen die Ausbeutung als grundlegenden Widerspruch erleben, ob und wie sie ihre tägliche Zusammenarbeit unter dem Kommando des Kapitals "umdrehen" können, indem sie diesen Zusammenhang subversiv nutzen.
In dieser Situation ist es wichtig rauszustreichen, welche Formen des Kampfes gemeinsame Erfahrungen von Macht ermöglichen, die schwachen Punkte des Kapitals offen legen und da zuschlagen können, wo es weh tut. In einer Schwarzarbeits-Klitsche mit drei Telefon-ArbeiterInnen, die einfache Bestellannahme machen, ist unsere Lage prekär. Wenn du aufmuckst, bist du schnell gefeuert und durch andere ProletarierInnen ersetzt. Wenn du die Kohle brauchst, um dich und deine Kinder durchzubringen, bist du leicht unter Druck zu setzen. Wenn du in einem größeren Laden eine außerordentliche ArbeiterInnen-Versammlung organisierst, während kaum Calls auflaufen, wird das weniger Druck erzeugen, als wenn die rote Lampe glüht und die lieben KollegInnen sich ganz zufällig gemeinsam auf dem Klo treffen. Wenn du bei der Telekom im Call Center malochst und die ganze Abteilung streikt, kann es dir passieren, dass die Calls einfach in eine andere Abteilung oder ein anderes Call Center umgeleitet werden und Pustekuchen. Wenn du in einer anderen Bude mit dem gesamten ersten Level die Arbeit verweigerst, ist dagegen der Laden schnell dicht, weil die Calls nicht mehr angenommen werden. Wenn du die FirmentechnikerInnen überzeugst, die ACD-Anlage mal vollaufen zu lassen, stürzt gleich alles ab...
Die Perspektive von Kämpfen im Call Center hängt von den Erfahrungen und dem Zusammenhalt der ArbeiterInnen - ihrer Fähigkeit, die Spaltungen untereinander in den Aktionen zu überwinden - ab, aber auch von:
* der Stellung des Call Centers innerhalb des Unternehmens: Gibt es noch andere Call Center, welche die Anrufe annehmen oder machen können? Welche Bedeutung haben die Anrufe für die Firma? Hier entscheidet sich, ob die Bosse die Anrufe im Falle von Aktionen umrouten oder ganz auf ihre Bearbeitung verzichten können.
* der Stellung des Call Centers im Verwertungsprozess: Wenn es die Fahrzeugflotte einer Spedition koordiniert, kann die Unterbrechung zum Zusammenbruch des Transports führen, was auch andere Bereiche betrifft. Dadurch steigt die Durchsetzungsfähigkeit eines Streiks erheblich. Wenn es nur um die Betreuung von Kunden eines Unternehmens geht, betrifft es nur dieses.
* dem Zusammenkommen der einzelnen Kämpfe: Die Frage ist, ob und wie sich die Kämpfenden unmittelbar austauschen und aufeinander beziehen. Wenn Kämpfe nur über Medienberichte oder gewerkschaftliche Überbauten miteinander verbunden sind, kann sich die gemeinsame Macht kaum entwickeln. Wenn aber die kämpfenden Call Center-ArbeiterInnen durch andere Betriebe ziehen und die SchülerInnen der angrenzenden Berufschule zu einer Diskussion einladen, kann die Begrenzung und Isolation der Kämpfe überwunden werden, was auch neue Perspektiven auf das gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnis öffnet.
Die Diskussion über die Organisierung der ArbeiterInnen bringt ohne Kämpfe, welche die beschriebenen Grenzen sprengen, wenig. Versuche, sie mittels Basisgewerkschaften, Betriebsgruppen oder über Unterstützungskomitees zusammenzubringen, bleiben auf kurze Mobilisierungen beschränkt und an den "kleinen" Konflikten hängen.
In dieser Situation - angesichts des weitgehenden Fehlens von militanten Kämpfen in den Call Centern, auf die wir uns beziehen können - brauchen wir eine Diskussion über die Entstehung von ArbeiterInnenmacht, die nicht bei Appellen stehen bleibt oder an der Interessenvertretung scheitert. Die ArbeiterInnen in den Call Centern haben bisher keine Formen des Kampfes gefunden, die sich aus den konkreten Möglichkeiten im Call Center als Zentren der Kommunikation ergeben. Andere ArbeiterInnen - zum Beispiel in den Autofabriken - haben dafür auch eine Generation gebraucht, um das Fließband zur Streik- und Sabotagekoordination zu benutzen. Wollen wir so lange warten?... Hier stellen sich Fragen:
* Wie schaffen wir, die Formen klandestiner Militanz weiter zu entwickeln, die ohne "öffentliche Auftritte" von AktivistInnen auskommen? Dies ist notwendig, weil die aktiven ArbeiterInnen angesichts der prekären Arbeitsverhältnisse sonst gleich entlassen werden. Absprachen zum Langsamarbeiten "unter der Hand" sind da wirksamer.
* Wie können die Erfahrungen in eine kollektive Perspektive münden, bei der ArbeiterInnen ihre tägliche Kooperation zum Ausgangspunkt nehmen und die Kapitalisten vor Ort unter Druck bringen. Reicht es, den Austausch der Erfahrungen über Flugblätter und andere Medien zu organisieren?
* Das wirft auch andere Fragen auf, die unsere eigene Rolle betreffen: Wie können wir uns auf die Streiks und Konflikte beziehen, als Beitrag zum Lernprozess? Welche Methoden brauchen wir, um die wichtigen Prozesse mitzukriegen? Was können wir in den Streiks und andern Kämpfen lernen? Wie nehmen wir an der Diskussion der ArbeiterInnen teil?...
Das können wir diskutieren, vorbereiten, vorschlagen. Letztendlich brauchen wir einen breiten Austausch über diese Versuche mit anderen Leuten und Gruppen, die ähnliche Sachen versuchen (wollen).
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