Ein Auszug aus - kassiber 31 - Dezember 97
Wie lebst Du heute in Peru?
Delia: Ich lebe in Lima wie auch meine zwei Töchter. Eine von ihnen ist verheiratet und hat drei Kinder, die andere ist unverheiratet und geht zur Uni. In meinem Haus wohnt mit mir meine jüngere Tochter, die zur Uni geht, und mein zwölfjähriger Enkel. Er ist der älteste Sohn meiner anderen Tochter. Ich sorge dafür, daß er die Schule besuchen kann und finanziere ihm die Schulbildung. Mein Einkommen stammt von einem kleinen Laden in meinem Haus. Ein Problem ist jedoch die Wirtschaftskrise, die dazu führt, daß die Leute, die zum Einkauf kommen, oft kein Geld haben um zu bezahlen. Sie wollen anschreiben lassen und fragen, ob ich ihnen nicht Nudeln, Reis und Zucker leihen kann. Sie schlagen vor zu bezahlen, wenn sie wieder Geld haben, aber leider haben die Leute nie Geld und deswegen sieht es so aus, daß meine Vorräte zur Neige gehen ohne daß ich sie ersetzen kann. Politisch bin ich in zwei Bereichen aktiv. Zum einen bin ich Vorsitzende in unserem Nachbarschaftszusammenschluß von dem 600 Personen vertreten werden. Zum anderen arbeite ich in einer Frauengruppe in unserem Stadtteil mit. Dort setzen wir uns gegen die Mißhandlung von Frauen und Kindern zur Wehr. Die Mißhandlungen von Frauen und Kindern durch ihre Ehemänner und Väter haben im Rahmen der Wirtschaftskrise in Peru stark zugenommen. Die Männer betrinken sich und prügeln dann los.
Kannst Du uns die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftsveränderungen beschreiben so wie Du sie in Peru erlebst?
Delia: Der Neoliberalismus hat die soziale Dimension total vernachlässigt. Begriffe, die im Rahmen des Neoliberalismus immer wieder gebraucht werden, sind die Globalisierung und die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Gerade der Letztgenannte wird unter dem Vorwand der Protektionismusbekämpfung benutzt. Die vorherigen Arbeitsschutzbestimmungen oder Gewerkschaftsrechte werden als protektionistisch bezeichnet und ihr Abbau von den neoliberalen Ökonomen gelobt. Der Haupteffekt der Wirtschaftspolitik von Fujimori ist der Hunger der Leute. Ich bin nicht die einzige im Stadtteil, die einen kleinen Laden hat. Meine Nachbarin rechts gegenüber, die Nachbarin links gegenüber und die Nachbarin gegenüber alle haben einen Laden. Wir tauschen die Waren quasi zwischen uns aus. Im Rahmen der Wirtschaftspolitik Fujimoris kam es zu Fabrikschließungen im großen Umfang. Davon war nicht nur die Pharmaindustrie, in der ich lange Zeit gearbeitet habe betroffen, sondern z. B. auch die Textilindustrie. Dabei ist zu differenzieren zwischen den Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftspolitik auf die peruanischen und auf die ausländischen Firmen. Die peruanischen Fimmen mußten schließen, weil sie nach Senkung der Importzölle nicht gegen die Konkurrenz bestehen konnten. Wohingegen die ausländischen Fimmen von der Senkung der Zölle eher profitiert haben, da es für sie bedeutete, daß sie nicht mehr in jedem einzelnen lateinamerikanischen Land produzieren mußten, sondern die Produktionsstandorte konzentrieren konnten. Im Fall von Schering ist es so, daß in Argentinien jetzt für mehrere Länder produziert wird und in Peru nur noch ein Verkaufsbüro existiert. Die Schließung der Firmen führte dazu, daß es zu großer Arbeitslosigkeit kam. In Peru ist es mo-mentan so. daß 80 % der Erwerbsbevölkerung keinen festen Arbeitsplatz hat; sie sind unterbeschäftigt oder arbeitslos. Tausende von Familien leiden nun unter der Arbeitslosigkeit der Eltern. Das sieht konkret so aus, daß vor allen Dingen die Frauen für das alltägliche Überleben verantwortlich sind. Dies liegt unter anderem daran, daß die Männer in Peru mobiler sind. Sie können in einer anderen Stadt Arbeit suchen oder auf dem Land. Sie arbeiten auf einer Baustelle oder gehen ins Ausland. Das können die Frauen nicht.
Delia, Du hast geschrieben, daß Du gewerkschaftlich aktiv warst. Nun haben viele wie Du ihren Arbeitsplatz verloren. Wie organisieren sich die Leute heute politisch?
Delia: Die peruanischen Gewerkschaften waren natürlich auch dem Angriff des Neoliberalismus ausgeliefert. In erster Linie ist da die Deregulierung des Arbeitsmarktes zu nennen. Es wurden viele gewerkschaftliche Rechte abgebaut, wie z. B. der Kündigungsschutz. Zudem hat sich sehr negativ auf die Gewerkschaften ausgewirkt, daß ihnen durch die Massenentlassungen, die Fujimoris Politik wesentlich erleichtert hatte, die Basis verloren ging. Ohne Basis und ohne Rechte geht es den Gewerkschaften in Peru momentan ziemlich schlecht. Der Dachverband, der früher wichtig war, hat kaum noch Kampfkraft. Nur noch sehr wenige sind aktiv, da kaum noch wer einen Arbeitsplatz hat. Die Leute versuchen in den Stadtteilbewegungen aktiv zu werden und sich da zusammenzuschließen, wo sie wohnen. Die Frauen versuchen sich in Volksküchen zusammenzutun, um sich billiger ernähren zu können. Ihr Einkommen versuchen sie sich dadurch zu erhalten, daß sie Essen verkaufen. Allerdings stoßen sie dabei zunehmend auf die Repression der Polizei, die ihnen das Essen und die Töpfe abnimmt. Allgemein ist das Klima in Peru für politische Arbeit schwieriger geworden.
Gerade hast Du gesagt, daß die Polizei den Frauen die Töpfe und das Essen wegnimmt. Das erscheint mir unlogisch, da es der Regierung doch recht sein kann, wenn die Leute ihre Armut selbst verwalten.
Delia: Gegen die Frauen, die Essen verkaufen wollen, wurde eine neue kommunale Polizeieinheit aus jungen starken Männern gegründet, die gerade ihren Militärdienst beendet haben. Diese schlagen und mißhandeln die Straßenhändlerinnen. Als offizielle Begründung dafür dient dem gegenwärtigen Bürgermeister die Behauptung, daß das Essen gesundheitsgefährdend sei und zur Verbreitung der Cholerabeitragen würde. Von diesen brutalen Polizeiaktionen sind aber alle Straßenhändler und Straßenhändlerinnen betroffen. Aus bekannten Straßen und von einem ehemaligen Straßenhändlermarkt sind die Händler unter dem Motto 'Lima soll sauber werden' vertrieben worden. Wahrscheinlich soll Lima sauber werden, damit viele Touristen kommen. Ein anderes Motiv kann sein, daß die Fujimori Regierung den Eindruck erwecken will, daß die Wirtschaftskrise nicht so schlimm ist, wenn die Straßen immerhin sauber sind und alles schön nett aussieht.
Wie wird die Botschaftsbesetzung der MRTA in der Bevölkerung aufgenommen? Gibt es eine Linke oder Teile Sozialer Bewegung, die die Forderungen der Botschaftbesetzung mit aufnimmt?
Delia: Wenn sich die Leute auf der Straße in Peru über die Botschaftsbesetzung unterhalten, sprechen sich für eine Amnestie für die Botschaftsbesetzer aus so wie es auch eine Amnestie für die Mörder in Uniform gegeben hat, die Studenten und Arbeiter umgebracht haben. Die Leute sagen, daß es wichtig ist, daß die Besetzung ohne Blutvergießen beendet wird und sowohl die Geiselnehmer als auch die Geiseln heil rauskommen. Vorgeschlagen wird auch, daß die MRTA-Kämpfer Asyl im Ausland, speziell in Kuba, gewährt kriegen sollen. Was die Position der legalen Linken zur Botschaftsbesetzung betrifft, da gibt es in Peru derzeit keine einzige Partei, die sich trauen würde die MRTA öfflentlich zu unterstützen. Daß hängt damit zusammen, daß die Fujimori-Regierung nicht davor zurückschreckt weiterhin die Politik des 'Verschwindenlassens' zu betreiben. Es gab in letzter Zeit vor allem Fälle von politisch aktiven Studenten und Studentinnen an der staatlichen Universität, die entführt wurden und nie wieder auftauchten, obwohl ihre Familienangehörigen nach ihnen suchten. Sie sind wahrscheinlich tot. Die Linke hat zudem ihren Anteil daran, daß Fujimori jetzt an der Macht ist, da sie 1990 aufforderte ihn als kleineres Übel zu unterstützen. Es gab damals die Situation, daß Fujimori gegen Vargas Llosa zur Wahl stand. Hinterher war es ein Problem, weil die Linke nicht mehr in der Lage war zu erklären warum sie aufgerufen hatte einen Mann zu wählen, der dann eine solch reaktionäre, neoliberale Politik macht. Strom, Wasser und Benzin u.a. mit den dazugehörigen Unternehmen wurde privatisiert. Alles verteuerte sich unheimlich. Dies betrifft besonders die ganz normalen Leute, da Strom, Wasser und Benzin jeder braucht. Die Botschaftsbesetzung hat in den Augen der Leute den Verdienst, daß durch sie Gesetzesvorhaben der Regierung, wie die Privatisierung des Gesundheits- und des Bildungswesens, auf Eis gelegt wurden.
Gestern auf einer Veranstaltung hier in Bremen wurde behauptet, daß sowohl "Sendero Luminoso" als auch die MRTA in der Bevölkerung als Terroristen bezeichnet werden. Ist das Deiner Meinung nach richtig?
Delia: Die peruanische Bevölkerung unterscheidet sehr wohl zwischen Sendero Luminoso und der MRTA. Während Sendero eher als terroristische Bewegung eingestuft wird, gilt die MRTA als Guerilla-Bewegung. Sendero hat in der Bevolkerung keine Sympathie, weil sie auch Leute aus der Volksbewegung und den Gewerkschaften getötet haben, die ihrer politischen Linie nicht entsprachen. Die MRTA hingegen hat sich immer direkt mit dem Militär angelegt, was ja wohl auch der Hauptgegner sein sollte und nicht, daß sich die Linke untereinander umbringt. In der Presse und im peruanischen Radio wird zwar versucht die MRTA und Sendero in einen Topf zu werfen, aber die Bevölkerung kann sehr wohl unterscheiden.
In einem Vortrag hast Du von Unterschieden zwischen den Frauen, die sich in der Volksbewegung organisieren und denen die in NGOs aktiv sind und auf Konferenzen wie der in Peking reisen gesprochen. Wie ist das Verhä1tnis zwischen beiden? Was erwarten die Frauen aus der Volksbewegung von den Frauen in den NGO's?
Delia: Die zwei Pole in der peruanischen Frauenbewegung sind die selbstorganisierten Frauen aus der Volksbewegung und die Frauen aus den NGOs. Es gibt momentan noch eine sehr große Distanz zwischen beiden Seiten, von der ich denke, daß darüber Brücken gebaut werden müssen. Die Frauen aus den NGOs haben viele wichtige Informationen und es wäre gut einen Austausch hinzukriegen, damit die Frauen aus den Volksbewegungen auch von den Informationen profitieren können. Ein Beispiel für eine NGO, die praktische Hilfe geleistet hat, ist die Aurora Rivar. Früher hat sie Gewerkschaftlerinnen beraten und hatte sich auf Arbeitsgesetzgebung spezialisiert. Jetzt nachdem die Gewerkschaftsbewegung weitgehend am Ende ist, bietet Aurora Rivar eine elektrotechnische Ausbildung für Frauen an, damit sie bei sich zuhause die Elektrogeräte reparieren können. Dies ist in der Wirtschaftskrise sehr wichtig. Für mich ist das in doppelter Hinisicht ein positives Beispiel. Einmal ist hier ein Kontakt zwischen den Frauen der Volksbewegung und einer NGO zustande gekommen und dann hat Aurora Rivar wahrgenommen, daß sich die Organisationsformen in Peru geändert haben. Statt den Gewerkschaften haben die Volksbewegungen an Gewicht zugenommen. Die Probleme, die wir als Frauen aus den Volksbewegungen mit den Frauen aus den NGOs hatten, sahen so aus, daß die Frauen aus den NGOs immer in unserem Namen sprechen wollten. Wir konnten unsere Probleme nicht selbst vortragen, sie haben uns darüber befragt und dann versucht, für uns zu sprechen. Dieses, man kann schon sagen paternalistische, Verhalten hat uns absolut nicht gepaßt.
In Deutschland gibt es einen offenen Rassismus. Du hast gesagt, daß Du als schwarze Frau in der Gewerkschaft Probleme gehabt hast und Männer sagten, daß sie die Gewerkschaft verlassen wollen, wenn Du als Schwarze und Frau Vorsitzende wirst. Wie sieht der alltägliche Rassismus in Peru aus?
Delia: Bei dem Vorfall in der Gewerkschaft, wo die Männer mich als Vorsitzende nicht akzeptieren wollten war der Machismus wichtiger für die Diskriminierung als der Rassismus. Zur damaligen war keine einzige Frau in Peru in gewerkschaftlichen Führungspositionen. Wenn ich Briefe bekam, wurde Ich als "Herr Generalsekretär" angesprochen. Das Wort "Generalsekretärin" existierte überhaupt nicht im Sprachgebrauch meiner Gewerkschaftskollegen. Der Rassismus in Peru ist spürbar in der Schule, auf der Straße. Wenn ich z.B. auf der Straße bin, höre ich oft, wie eine ganz normale Peruanerin zu ihrem Kind sagt 'Benimm Dich gut, sonst holt Dich die schwarze Frau!'. Mit der schwarzen Frau meint sie mich. Der Präsident Velasco, der von 1968-1975 in Peru an der Macht war, hat versucht, die Diskriminierung gegenüber der indigenen Bevölkerung zu vermindern. Er wollte ihre Selbstachtung stärken, hat aber die schwarze Bevölkerung, die auch geschichtlich eine wichtige Rolle gespielt hat, vergessen. In keinem peruanischen Geschichtsbuch taucht auf, daß es Gemeinschaften von schwarzen Sklaven gegeben hat, die sich selbst befreit haben. Erst jetzt schaffen es die Schwarzen selbst ihre Geschichte etwas bekannter zu machen.
Das Interview führten Almuth Intemann und Kai Kaschinski.
Literatur: Delia Zamudio, "Frauenhaut - Eine Autobiographie"; ISP/Atlantik, 1996.
bezugsmöglichkeiten kombo(p) - 21.06.1997