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10/08/02 18:56

Rezension des neuen FFM - Heftes zu Italien

10.08.2002, 18:39, stwnn

Rassismus | Italien | Albanien | Festung Europa | Roma

Azzelini, Dario; Gleitze, Judith (2002) Italien. Legalisierung von Flüchtlingen - Militarisierung der Grenzen? Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) Reihe: Gegen die Festung Europa Heft 8. Assoziation A. 251 Seiten, 9 Euro.



"Europa kann sich, sooft es will, zur Festung machen. Solange Italien dazugehört, werden wir reinkommen".

Diese Bemerkung eines süditalienischen Flüchtlingshelfers steht exemplarisch für ein gängiges Italienbild: Das allgegenwärtige staatliche Chaos und die kaum zu sichernden Meeresgrenzen in Italien machen es Flüchtlingen und MigrantInnen leicht, die Grenzen der Festung Europa zu umgehen. Der neue Band "Italien. Legalisierung von Flüchtlingen. Militarisierung der Grenzen?" der Berliner Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) stellt diese Grundannahme in Frage.

Die AutorInnen untersuchen Italiens Wandel vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland bis hin zum neuen Verwertungsrassismus, wobei sie vor allem die Entwicklungen der 90er Jahre im Auge haben.

Zu Beginn der 90er Jahre, also während und nach der ersten Massenflucht der AlbanerInnen 1991/92 verfügte Italien offenbar noch über kein allzugut funktionierendes System der Flüchtlingsabwehr bzw. -aufnahme. Ende der 90er Jahre hat sich dies grundlegend geändert. Die Erfahrungen mit großen Migrationsbewegungen zu Beginn der 90er Jahre und nach dem Zusammenbruch Albaniens 1997 wurden zum Anlaß für neue restriktivere Flüchtlingsgesetzgebungen, die Einrichtung eines Systems von Auffanglagern und Abschiebeknästen und die Militarisierung der Adria zum Zweck der Flüchtlingsabwehr genommen. Seit 1998 sind Rückübernahmeabkommen mit Albanien, Marokko und Tunesien in Kraft, so daß Flüchtlinge z.B. direkt an der Grenze zurückgewiesen werden können. Fluchthilfe ist kriminalisiert. Hunderte Tote bei dem Versuch nach Italien zu fliehen sind die mörderische Konsequenz dieser Entwicklung und drei Artikel des Italienheftes beschäftigen sich daher ausführlich mit den Schiffskatastrophen in der Adria.

Daneben machen einzelne Beiträge deutlich, wie auch oder gerade unter den Mitte-Links - Regierungen von Prodi, D’Allema oder Dini mittels politischer und medialer Kampagnen neue Feindbilder, nämlich die der AlbanerInnen und der „Illegalen“ geschaffen wurden. Lega Nord und die neue Berlusconi / Fini Regierung konnten daher an der restriktiven AusländerInnenpolitik der Vorgängerregierungen nahtlos anknüpfen.

Der Band ist in drei große inhaltliche Blöcke geteilt, die sich in 12 einzelnen Artikeln mit der italienischen Flüchtlingspolitik, dem italienischen Asylrecht und dem antirassistischen Widerstand auseinandersetzen.

Aus der Fülle der in diesem umfangreichen Heft dargebotenen Informationen sollen hier drei wichtige Momente der italienischen Migrationspolitik und deren praktischen Umsetzungen in aller Kürze wiedergegeben werden: das italienische Lagersystem, die diskriminierende Behandlung der Roma sowie die Widersprüchlichkeit der Legalisierungskampagnen.

Mehrere Artikel widmen sich den Besonderheiten des italienischen Lagersystems: Mittlerweile gibt es in Italien zahlreiche Erstaufnahme-, Zweitaufnahme- und Abschiebelager. In letzteren leben etwa 10.000 Flüchtlinge die bis zu 30 Tage oder eben der Durchführung der Abschiebung interniert werden. 60% der dort internierten Flüchtlinge werden nach dieser Frist mit der Auflage, das Land zu verlassen, freigelassen. Nach den massiven Protesten gegen Abschiebelager 1998 in Norditalien kam es dort zur Schließung einiger der schlimmsten Lager, von denen später einige unter angeblich „humanitäreren“ Bedingungen wiedereröffnet wurden. Besuche in diesen Lagern zeigten den AutorInnen aber, wo auch heute noch alles im argen liegt: Vollverpflegung mit Nahrungsmittel, kein Taschengeld, keine Chance auf Rechtshilfe oder Dolmetscher sowie Kontrolle und militärische Bewachung gehören zum Alltag.

Eines der eindrücklichsten Kapitel zu der italienischen Ausgrenzungspolitik handelt von der rassistischen Diskriminierung der vielleicht 100.000 in Italien lebenden Roma. Viele Roma sind erst nach den NATO-Bombardements im Kosovo (1999) und den darauf folgenden „ethnischen Säuberungen“ und aufgrund der Präsenz des serbischen Militärs nach Italien geflohen. Sie unterliegen dort jedoch einem landesweiten System der Segregation und Gettoisierung und leben in größter Armut in teils genehmigten, teils ungenehmigten Lagern. In diesen Lagern finden immer wieder Räumungen und nächtliche Razzien statt, begleitet von aggressiven, gewalttätigen und rassistischen Beleidigungen, widerrechtlichem Zerstören von Eigentum der BewohnerInnen und nicht selten von Schußwaffengebrauch.

Insbesondere die Legalisierungskampagnen haben zu dem Mythos von einem nicht ganz so flüchtlingsfeindlichen Italien beigetragen, obwohl es sich dabei um ein sehr ambivalentes Regualtionsinstrument für Flüchtlinge handelt: oftmals gingen diese Legalisierungskampagnen mit der Durchsetzung von repressiveren Gesetzen einher, die Legalisierungsbedingungen waren teilweise absurd und unerfüllbar oder die, die sich beteiligten, fielen oft in der Folgezeit wieder aus dem legalisierten Status heraus. Aus dem gleichen Grund ist die staatliche Zahl von 800.000 Legalisierten in den 90er Jahren mit Vorsicht zu genießen: unter ihnen befinden sich auch mehrfach oder nur zeitweilig Legalisierte.

Fazit

Seit 1995 publiziert die FFM in ihrer Reihe zur Festung Europa Berichte und Analysen vor allem zu den ost- und mitteleuropäischen EU-Anwärterstaaten. Ihre genauen Analysen antizipierten Leitkonzepte der europäischen Flüchtlingspolitik oft lange bevor deren Umsetzung spürbar wurde und haben so der antirassistischen Bewegung wichtige theoretische Impulse gegeben.

Mit dem achten Band hat die FFM nun den Fokus auf die südlichen Außengrenzen zwischen Adria und tyrhennischem Meer erweitert. Das Italien Heft liefert nicht nur wichtige Informationen zu Italien und Albanien, sondern spricht darüber hinaus Themen an, zu denen antirassistische Bewegungen anderer Länder demnächst auch Stellung beziehen müssen (Stichwort: Legalisierungskampagne).

Es zeigt auf, in welche Richtung sich die Festung Europa weiterentwickeln wird und wie sie künftig zwischen Abschottungspolitik und vermeintlicher "Integration" durch "Legalisierung" MigrantInnen hinsichtlich ihrer ökonomischen Verwertbarkeit selektieren wird.

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