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BESETZUNG SULZERHOCHHAUS; Communiqué und Hintergrundbericht

06.03.2004, 08:28, Urbane Revolte

Squatting | Winterthur

Sauvage im Sulzerhochhaus


Während den letzten drei Tagen fanden im Hochhaus Konzerte, Parties, Diskussionen und Veranstaltungen statt. Nichtkommerzielle Kultur –und Lebensräume sind offensichtlich ein Bedürfnis. Viele Menschen haben in diesen drei Tagen die wahrscheinlich einmalige Gelegenheit genutzt, um das einstige Wahrzeichen der Stadt zu besichtigen. Wir haben das Sulzerhochhaus, ehemals Symbol wirtschaftlichen Potenz dieser Stadt, besetzt, um zu manifestieren, dass wir mit der derzeitig angewandten Politik betreffend der Stadtentwicklung und deren Auswirkungen nicht einverstanden sind. Der Stadtrat, das Stadtmarketing, ebenso die Firma Sulzer und andere Unternehmen verfolgen mit ihrer Politik eine Entwicklung im rein kapitalistischen Sinne: Mit der Verlagerung und Schliessung der Industrieproduktionsstätten ist viel Raum frei geworden, aus welchem die BesitzerInnen so viel Profit wie möglich erwirtschaften wollen, anstatt ihn auch finanziell schlechter gestellten Personen zugänglich zu machen. Diejenigen, die nicht zum Zielpublikum des Stadtrates gehören /passen werden aus ihrem Lebensraum vertrieben (Beispiel Tössfeld).

Diese Besetzung ist eine Politische Aktion. Stadtrat und Polizei versuchen wie allgemein üblich, den politischen Inhalt und die an sie gerichtete Kritik auszuklammern und diese Aktion auf den entstandenen Sachschaden zu reduzieren.

Im Vergleich zu den durch die aktuelle Politik entstehenden immateriellen Schäden sind die im Hochhaus entstandenen Sachschäden irrelevant. Es handelt sich im Gegensatz, zu den aus der Vertreibungs- und Ausgrenzungspolitik resultierenden Konsequenzen um Gegenstände, die ersetzt werden können. Das Sulzerhochhaus ist bekanntlich dringend renovationsbedürftig.

Nach den Verhandlungen am Samstag zwischen den Kontaktpersonen der Besetzenden und Bruno Steffanini (Vertreter der inhabenden Stiftung), wurden von Polizei von über 80 Personen die Personalien aufgenommen. Dies obwohl sie laut Abmachung bis am Sonntag um 15 Uhr Zurückhaltung garantierte.

Die Stadt sind wir..wir bleiben hier..ihr werdet uns nicht los

Sulzemer Chindä





Urbane Revolte

Hintergrund Industrialisierung

Die Stadt Winterthur entwickelt sich im Zuge der Industrialisierung zu einem bedeutenden Industriestandort. Mitte des 19. Jahrhunderts ist ein Grossteil der Bevölkerung in der Industrie tätig.
Die Produktion wird bis in die 1980er Jahre (abgesehen von der Wirtschaftskrise 1930-1937) stetig gesteigert.
Die Angestellten identifizieren sich mit der Industrie und deren Erzeugnissen. Zeitweise sind über 50 Prozent der EinwohnerInnen Winterthurs im industriellen Sektor tätig.
In den letzten Jahren haben einschneidende Veränderungen stattgefunden. Annähernd die gesamte industrielle Produktion ist eingestellt worden. Anfang der neunziger Jahre gibt die Firma Sulzer und die SLM (Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik) den Produktionsstandort auf dem Gründerareal, an der Zürcherstrasse, auf. Die Bekanntmachung der Schliessung der Werke wird als eine Art Naturkatastrophe wahrgenommen. Massenentlassungen sind die Folge.
Dadurch entsteht in der Stadtmitte, angrenzend an den Bahnhof, ein neu nutzbarer Raum von über 200'000 Quadratmetern Grösse. Die Besitzerin des Werkgeländes, die Firma Sulzer, plant erst das gesamte Areal zu schleifen und neu zu bebauen. Projekte wie Winti Nova& und Megalou werden präsentiert. Das Grossprojekt der Pariser Architekten Jean Nouvel und Emmanuel Cantani, dass als bester Vorschlag aus einem Studienauftrag der Firma Sulzer hervorgeht, ist nicht finanzierbar.
Die Hallen werden nun einzeln vermietet, verkauft und/oder umgenutzt.
Die Gemeinsamkeit zu den früheren Projekten besteht darin, dass die angrenzenden Wohnquartiere und die darin lebenden Leute (bewusst?) nicht in die Umstrukturierungsprozesse einbezogen werden. Über Jahre gewachsene soziale Strukturen werden ignoriert/missachtet. Sie zu erhalten, ist in den Augen der Bestimmenden anscheinend weder nötig noch wünschenswert.

Beispiel Jägerstrasse

Einige der BewohnerInnen der Jägerstrasse haben versucht, in den ehemals betriebseigenen Wohnhäusern ein gemeinschaftliches Projekt zu realisieren. Die erste Zeile zwischen Tössfeld- und Agnesstrasse wurde Mitte der neunziger Jahre renoviert und ausgezeichnet. Die Häuser werden heute zimmerweise an StudentInnen vermietet. Vor der Renovation war ein Haus günstiger zu mieten als heute ein einzelnes Zimmer. Die zweite Zeile zwischen Agnes- und Zürcherstrasse wird momentan umgebaut. In beiden Fällen haben die MieterInnen sich organisiert, um die Häuser zwecks Eigennutzung zu erwerben. Die Firma Sulzer hat es offensichtlich vorgezogen, die teilweise seit Jahrzenten ansässigen Leute im einen fall durch zukünftige Angehörige der Elite zu ersetzen, im andern die gesamte Häuserzeile dem einschlägig bekannten Spekulantenduo Meier/Sobel, das heisst einer deren diversen Firmen, zu verkaufen.
Diese Menschen stellen wie die von der industriellen Produktion übrig gebliebenen Hallen eine Altlast dar, die man, falls lukrativere Projekte anstehen, entfernen kann. Oder sie dienen dazu, Zitat eines Chief Financial Officer, wohnhaft in einer Loft im Sulzerareal, einen Hauch von domestizierter Anarchie zu vermitteln (Winterthurer Stadtführer, 2002, S. 54).

Diverse Hallen stehen seit nun bald 15 Jahren leer. Die Firma Sulzer zieht es jedoch vor, diese weiterhin ungenutzt zu belassen oder wie die Holzbauhallen in Parkhäuser umzufunktionieren oder erst mal wegen angeblicher Einsturzgefahr abzubrechen, statt sie günstig zu vermieten.
Eine (Zwischen-)Nutzung durch weniger finanzkräftige, aber möglicherweise etwas einfallsreichere und im Umfeld eingebundene Personen, Gruppen oder Projekte wird so verunmöglicht oder zumindest erheblich erschwert.



Leben in Winterthur heute

Die offizielle Leerwohnungsziffer beträgt 2002 in Winterthur 0,36%; 2003 sind es 0,22% (Winterthur in Zahlen 2003)
Der (‚links’-liberale) Winterthurer Stadtrat unter SP-Stadtpräsident Ernst Wohlwend ist nach eigenen Angaben bemüht, diesen Missstand zu beheben, möchte aber nicht von Wohnungsnot sprechen. Er fördert den Wohnungsbau (vor allem 3- bis 4-Zimmer-Wohnungen), indem er stadteigene Landreserven an private Investoren verkauft. Diese haben vor, beispielsweise auf dem Archareal anstelle des Volkshauses und des Parkhausprovisoriums ein dringend benötigtes Einkaufszentrum der Luxusklasse mit wenigen, teuren Wohnungen zu erstellen.
Das Volkshaus ist aus denkmalpflegerischer sicht von nationaler Bedeutung, und viele Verkehrsfragen rund um das Areal und den Bahnhof sind bis heute ungelöst. Das jedoch sind Nebensächlichkeiten, für die später eine Lösung gefunden werden wird, Hauptsache, der Profit stimmt.

An andern Orten entstehen ebenfalls Wohnungen und Lofts im oberen Preissegment (Sulzerareal, Rudolfstrasse, Fehlmannareal). So können, auch dies der Wunsch des Winterthurer Stadtrates und des Stadtmarketings, einkommensstarke Mieterinnen und Mieter angelockt werden. Deren Wohnstandort, fällt er auf Winterthur, mit einem persönlichen Brief des Stadtpräsidenten Wohlwend verdankt wird. Die weniger finanzkräftigen WinterthurerInnen kommen in den Plänen der Stadtentwicklung nicht vor und haben anscheinend keinen Wert für diese Stadt. Sie werden höchstens erwähnt, wenn von Problemfällen und Problemquartieren die Rede ist. Die vonseiten der Stadt und des Stadtmarketings so hochgehaltene Tradition von Weltoffenheit und Toleranz gilt anscheinend nur für Wirtschaftskreise und Gutbetuchte.
Häufig müssen wertvolle Häuser Neubauten weichen (Rudolfstrasse, Volkshaus, Villendreieck, Kantonalbank, Delphin, Coop City). Die Nutzbarkeit bestehender Gebäude, soziale, historische, kulturelle und architektonische Werte spielen nur sehr beschränkt eine Rolle; die in andern Zusammenhängen so hoch gelobte Nachhaltigkeit ist hier ein Fremdwort.
Gebäude werden in erster Linie dann erhalten, wenn sie als touristische Attraktion vermarktet werden können, allenfalls lässt man einige Grundmauern in Erinnerung der einstigen Funktion stehen.
Durch diese dem Wirtschaftswachstum förderlichen Aktivitäten steigen Mieten und Lebenshaltungskosten. Spekulationen, Wohnungsnot und Rendite/Profit-Anspruch sind fester Bestandteil dieses Systems.
Eine gewisse Veränderung ist positiv und wünschenswert. Aber bedeutende Errungenschaften sollten nicht aufgrund kurzfristigen Profitdenkens mangelhaftem Ersatz weichen müssen. Wohnungsbau soll gefördert und betrieben werden. Das Bauen soll nach ökologischen und sozialen Grundsätzen geschehen.
Wenn neu gebaut wird, dann soll in jeder Hinsicht eine qualitative Verbesserung angestrebt werden, und der Neubau soll für alle Platz bieten.



Folgen

Menschen, die diesen Ansprüchen (finanziell, Anpassung) nicht genügen, werden ausgegrenzt, zu Randständigen gemacht.
ArbeiterInnen, die zur wirtschaftlichen Entwicklung gebraucht wurden, sind heute überflüssig und werden verdrängt.
Andere Lebensmodelle sind schwer realisierbar.
Industrieareale werden zwar umgenutzt, leider allergrösstenteils zu
rein kommerziellen Zwecken, nur der so genannte Gewinn im finanziellen Sinn
zählt, die Chance, Neues zu versuchen, wird verpasst.
Die Stadt verliert an Farbe, an Ecken und Kanten.
Die Lebensqualität sinkt.


Kritik

Die momentan stattfindenden Veränderungen bezüglich der Wohn- und Arbeitssituation, die Industrialisierung wie auch die Desindustrialisierung und der Niedergang der Schwerindustrie in Winterthur müssen als logische Folge des kapitalistischen Systems angesehen werden. Die Produktionsstätten werden in die Länder der Dritten Welt verlegt, dorthin, wo die Arbeitskräfte billiger sind, dorthin, wo die Arbeitnehmenden keine Rechte besitzen und ausgebeutet werden können. Eine Art Neokolonialismus hat stattgefunden, das kapitalistische System zeigt sich in seiner vollen Entfaltung.
Die Gesellschaftsform des Kapitalismus treibt die Menschen zum Funktionieren an, zeigt ihre Wertlosigkeit/Austauschbarkeit. Die Märkte werden dereguliert und sind keinen Grenzen unterworfen. Die Menschen schon.
Hat der Mensch einmal den Wert für das kapitalistische System verloren, interessiert sich niemand mehr für ihn. Arbeitslose, Kranke, Behinderte, MigrantInnen und all jene, die ihr Leben nach eigenen Vorstellungen leben, werden an den Rand der Gesellschaft verdrängt.
Wir wollen in diesem System nicht mitmachen, werden aber (bis zu einem gewissen Grad) dazu gezwungen. Es wird uns vorgemacht, wir hätten die Freiheit, über unser Leben zu bestimmen. Diese Freiheit besteht jedoch je länger je mehr darin, sich zu entscheiden, ob man das verdiente Geld für Nestlé, Coca-Cola oder eventuell doch ... ausgeben will.
Protest und Projekte gegen dieses System werden durch Repression bekämpft.
Die Stadt wird zu einem Einkaufszentrum umfunktioniert, mit freundlicher Unterstützung des Stadtrates. Spontaneität und Eigeninitiative werden untergraben oder gelten nur noch (wenn überhaupt) als Nutzung für deine Arbeit.
Alles muss geregelt verlaufen; bewilligt werden.
Geld wird zur Bedingung für alles gemacht.
Geld bestimmt, wer wo wohnt, sich wo aufhält, soziale Kontakte, Bildung.
Geld bestimmt, wer wann welchen Raum nutzen und darüber bestimmen darf.
Keine Freizeit ohne Geld.
Die Menschen werden auf das Geld reduziert, das sie in ihren Taschen haben.
Dieser Entwicklung wollen wir Einhalt gebieten.
Der Grossteil der Bevölkerung von Winterthur wie auch wir sind nicht die soo gewünschten steuer- und finanzkräftigen Menschen, die der Stadtrat dringend sucht. Und doch gehören wir genauso zu dieser Stadt, sind ein Teil von ihr.
Unser Leben soll und darf nicht nach kapitalistischen Werten gemessen werden.



Gegenentwurf

Wir haben das Sulzerhochhaus besetzt.
Wir nehmen uns diesen ungenutzten leeren Raum für eine gewisse Zeit, um dort nach unseren Vorstellungen Projekte zu entwickeln und Zeit zu verbringen. Wir zeigen, dass es möglich ist, sich zu organisieren und mit Selbstinitiative nicht den gängigen Vorstellungen entsprechen zu müssen.
Dieser Raum soll für diese gewisse Zeit von all jenen genutzt werden, die sonst von den Plänen der offiziellen Politik ausgeschlossen sind. Wir laden alle Menschen ein, an diesem Projekt teilzunehmen und ihre Fantasie für die Nutzung des Hauses zu nutzen.
Wir nehmen uns den Freiraum für Lebensqualität und nicht Finanzquantität.
Wir schaffen Möglichkeiten für ein solidarisches, kollektives Zusammenleben.
Wir verwirklichen Projekte, die selbst verwaltet, non-profit und nachhaltig sind.
Wir haben genügend Ideen und Vorstellungen, diesen Raum sinnvoller zu nutzen. als das bis anhin der Fall war. Und wir beziehen die sozialen und gewachsenen Strukturen in unsere Projekte mit ein.

Wir sind die Stadt

Wir beginnen mit dem Aufbau der nachkapitalistischen Gesellschaft


Sulzermer Chindä


Kommentar

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