linksrhein Quelle: AZW Nummer 12, erschienen am 26.10.1995
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Brennpunkt Chiapas

Auf der Suche nach guten mexikanischen Produktionen für ihr Video-Forum war die Freiburger Video-Werkstatt auf das "Kollektiv Stadt-Profil" (colectivo perfil urbano) in Mexiko- Stadt gestoßen. Begeistert erstanden und synchronsierten sie zwei der neuesten Videos von "Profil" zu den Ereignissen in Chiapas. Seit Anfang September waren nun Maria del Carmen und Jos‚ Luis von "Profil" mit ihren beiden Videos 6 Wochen lang auf Tour durch die BRD, Österreich und Italien. Ihr Ziel: eine autentische Darstellung des "Brennpunktes Chiapas", Hintergründe und den Verlauf der nun beinahe andauernden Auseinandersetzungen um einen "gerechten und würdigen Frieden" zu vermitteln. Letzte Station vor ihrem Abflug war Konstanz, wo sie als Gäste in der Infokneipe am 10.Oktober ihr Video "Aguascalientes, la Patria vive" vorführten.

Der Videofilm zeigt chronologisch die Entwicklung in Chiapas seit Mitte 94 bis in den März dieses Jahres. Größtenteils Bilder und Szenen, die hier nie im Fernsehen zu sehen waren. Nicht militärische Auseinandersetzungen, sondern politische Arbeit der EZLN, Erläuterungen zu ihren 16 Punkte umfassenden Forderungskatalog, der "Kampf um die Zivilgesellschaft".

Das Kollektiv "Profil" hatte bis zum bereits historischen 1.1.94, dem Tag an dem das EZLN, das "zapatistische Heer für die nationale Befreiung", durch ihren bewaffnenten Aufstand alle Welt in Atem hielt, über 12 Jahre lang die wachsenden zivilen Protest-Aktionen in allen sozialen Bewegungen des Landes mit der Kamera dokumentiert. "Perfil" hatte in Mexiko-City den Ruf von hervorragenden und engagierten DokumentarfilmerInnen - bis zu besagtem 1.1. Danach waren sie auch mehr und mehr unter dem EZLN ein Begriff. Sie filmten bei allen Schlüsselereignissen im 1.500 km entfernten Chiapas und ebenso bei Demos in der Hauptstadt, wo immer wieder Hundertausende von Sympathisanten ihre Unterstützung manifestierten. Staunend erlebte die vornehmlich indigene Guerilla auf diese Weise mittels eines winzigen, generator- getriebenen Fernsehgeräts die Massendemonstrationen in Mexikos Landeshauptstadt. Und dieselben Menschenmengen konnten in riesiger Bildprojektion die Ansprache den "Subte Marcos" in seiner pasamontanas (Bommelmütze) erleben - durch Video-Kasette von "Profil" bei einer Großkundgebung auf dem Socalo, dem historischen Rathausplatz von Mexiko-City! Dieser Austausch trug nicht unwesentlich zur gegenseitigen Unterstützung von Gerilla und Zivilgesellschaft bei.

Weshalb der Filmtitel "Aguascalentes, das Vaterland lebt"? Einige der Hauptforderungen der EZLN beinhalten Änderungen in der mexikanischen Verfassung. Diese ist 78 Jahre alt und wurde von der seitdem ununterbrochen regierenden Staatspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) in der mexikanischen Stadt Aguascalientes im Jahr 1913! ausgearbeitet. Im Video erleben die Zuschauer ein neues Aguacalientes - sein Entstehen, wie es mit Leben erfüllt wird und seine Zerstörung. Mitten im lacandonischen Urwald wurde es in tausenden von Arbeitsstunden von dem EZLN und seinen UnterstützerInnen aus den Indio-Gemeinden als riesiges Zentrum für Begegnungen erbaut. Am 4.August 94 konnte es von 6000 zivilen, von der Basis gewählten Delegierten, der CND, (Nationalen Demokratischen Konvention) aus allen Regionen Mexikos in Besitz genommen werden - als Geschenk der Guerilla, um es mit Leben zu füllen. In endlosen Fahrzeug-Karawanen waren sie angereist, mußten sich durch den Gürtel des Regierungsheeres durchschleusen und streckenweise im Schlamm waten, um zum gemeinsamen Feiern und Ideenaustausch mit den Aufständischen zu kommen. Insgesamt noch dreimal versammelte sich Delegierte des CND in Aguacalientes, aber jedesmal waren es weniger. Nicht nur hier ist Uneinigkeit in linken Gruppierungen. Am 9.2.95 filmt dann Maria del Carmen Militärstiefel und die totale Zerstörung dessen, was einmal das neue Aguascalientes war...
Mit einer neuerlichen Besetzung des Geländes durch eine kleine Abordnung der CND endet der Film. Die anschließende rege Diskussion brachte eine Menge Zusatzinformation.

Diese neuartige Guerilla, der es nicht um Regierungsmacht geht, ist nicht so einfach kleinzukriegen. Zum 4. August dieses Jahres machten neue zivile Aktionen Schlagzeilen. Die Planung (und dann am 27.8 ausgeführte) "Nationale Befragung für die Demokratie und den Frieden", eine bisher noch nie in Mexiko dagewesene Art Plebizit, das nur von der Zivilgesellschaft und ihren Organisationen vorbereitet und durchgeführt worden war.

Und "Profil" filmt bereits wieder in Chiapas, wie wir erfahren haben. Auf Initiative der EZLN wurde für den nationalen Dialog erneut eine innovative Form gefunden: ungefähr 150 BeraterInnen von beiden Lagern und zusätzlich Eingeladene diskutieren an den verschiedensten Orten Chiapas zu fünf Themen, Rechte der mexikanischen IndĄgenas betreffend - nicht nur der aus Chiapas - alternative Lösungen für regionale und überregionale Probleme und mögliche Verfassungsänderungen. Zunächst wieder nur eine erste Runde, um im Dialog Konsens zu finden, worüber am sinnvollsten weiterverhandelt werden kann...

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linksrhein,cm, 29.5.00