In China ist es das Jahr des Drachen, in Deutschland das Jahr des Kampfhundes. Kein Tag, an dem nicht "Zwischenfälle", "Angriffe", "Anschläge", "Übergriffe", "Überfälle" vermeldet werden. Es gab Tote und Verletzte. Kaum erreicht das Jahr den Zenit, wird der Kampfhund Chefsache, der Kanzler spricht von "Tötungsmaschinen". Falsch, ganz falsch, vor allem zu spät. Sogar viel zu spät, wie immer. Das Land ist radikalisiert: Es gibt nur noch Gegner und Anhänger der anrüchigen Vierbeiner, zähnefletschend stehen sich die Parteien gegenüber. Was im Kern eine gute Nachricht enthält: Wer hielt es denn noch für möglich, dass Deutschland etwas aufregen könnte?
Im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung" wunderte sich Martin Zips, dass keiner auf die Idee kommt zu fordern, Neonazis an die Leine zu legen: Diese "zweibeinigen Bestien" reißen schließlich mehr Menschen, als auf das Konto von Kampfhunden gehen. Wohl wahr. Allein, was wahr ist, was nützt es? Wir haben uns nun mal entschieden, dass es die Kampfhunde sein sollen, die das längst verloren geglaubte Protestpotenzial reanimieren und die Nation mobilisieren. Dabei ist es egal, dass niemand weiß, was ein Kampfhund eigentlich ist. Inzwischen will es auch niemand mehr wissen. Das Feindbild steht, nichts kann es erschüttern. Im Jahr des Kampfhundes erfahren wir etwas über uns. Nicht nur über eine Politik, die - gnadenlos populistisch - vor dem deutschen Schäferhund kuscht (immerhin drei Millionen Wähler), sondern auch über Leute wie du und wie ich. Was wir erfahren ist nicht sehr sympathisch: Wir haben uns nicht geändert. Wir lassen uns immer noch scharf machen, sobald man uns ein Feindbild bietet.
Christina Matte (gekürzt aus ND) 15.7.2000)
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