Seeblättle <<  >>  Quelle:  Seeblättle  Jg. 2001  Nr.2


Ein Plädoyer

Für eine Hilfe zum Leben statt "aktiver" Sterbehilfe

Eins

Seit den 70er Jahren gab es in kritischen gesundheitspolitischen Arbeitsgemeinschaften von Angehörigen medizinischer Berufe, in Selbsthilfe-Initiativen und in Angehörigengruppen immer wieder erregte Diskussionen über das Für und Wider von "Sterbehilfe". Durch Veröffentlichungen von J. Hackethal, R. Kautzky, Ch. Meves, J. Issels, M. Köhnlechner, K. Dörner und F. Vester wurde das Thema auch in den Medien verbreitet und teilweise reichlich breitgetreten. Alle paar Jahre wird es, je nach politischer "Wetterlage", immer mal wieder aufgekocht. Auch heute wird wieder laut darüber nachgedacht, ob professionelle Sterbehelfer in Kliniken und Plegeheimen ihre Dienste anbieten dürfen. Beschönigend und mit milden Worten wird das "Recht auf das ureigene Sterben" angemahnt.

Die Durchsetzung mancher "Rechte" ist ja durchaus erstrebenswert; mir erscheint diese Diskussion jedoch reichlich verlogen. Jeder Tod, und fände er unter noch so unwürdigen Umständen statt, ist ein ganz persönlicher Tod. Doch, so wie das vorherige Lebensumfeld des Menschen von den gesellschaftlichen Bedingungen bestimmt wurde, so wird auch sein Sterben von diesen beherrscht. "Wenn du arm bist mußt du früher sterben" - und vermutlich auch unter mieseren Bedingungen! Zum Glück gibt es heute mehr kleinere Patientenzimmer, deshalb ist das Lebensende im Krankenhaus-Badezimmer nicht mehr ganz so "normal", wie es früher einmal war. Doch alleingelassen ist der sterbende Mensch heutzutage immer noch. Egal ob er in seinen eigenen vier Wänden, vielleicht erst Tage nach seinem Tod, aufgefunden wird, oder ob er von einer überlasteten Nachtschwester im Pflegeheim versorgt wird oder zuhause von erschöpften Angehörigen; der Tod hat in unserem Leben nix zu suchen und wird möglichst zügig verdrängt.

Zwei

Wie erschreckt dann aufgeschrieen wird, wenn wieder mal so eine "Todesschwester" ausfindig gemacht wurde, die aus Überforderung und Verbitterung das Leben von Sterbenden mit "der Spritze" beendet hat? Nicht, daß ich eine solche Handlung irgendwie rechtfertigen möchte, aber ich kenne die Umstände, die zu einer derartigen Aktion führen können, nur zu gut Man braucht sich ja nur die eine und einzige Pflegekraft vorzustellen, die versucht, nachts allen 40 Schwerkranken auf ihrer Station gerecht zu werden, - in manchen Häusern "betreut" sie auch zwei Abteilungen! Die Öffentlichkeit ereifert sich über die Untaten der "Todesengel", will aber doch lieber gar nichts Genaueres über die Pflegesituation wissen, die sowas hervorbringt; es sei denn, daß es sie selbst oder ihre Angehörigen betrifft.

In den letzten Jahren hat, trotz hoher Jugendarbeitslosigkeit, das Interesse am Erlernen eines Pflegeberufes rapide abgenommen. Während es früher an den Pflegeschulen Wartelisten gab, werden heute die Kurse nicht mehr voll. Das gilt besonders für die Altenpflegeschulen. Ein Jahr nach dem Examen wechseln viele Pflegerinnen (es gibt kaum noch männliche Auszubildende) in einen anderen Beruf, weil sie erkennen müssen, daß das, was sie in der Pflege für den kranken Menschen erreichen wollten, aufgrund der ständigen Personalengpässe überhaupt nicht machbar ist. Hinzu kommt 3-Schicht-Dienst, Überstundenzwang, ständige Arbeitshetze und eine enorme Verantwortung bei geringem gesellschaftlichem Ansehen und einem dementsprechend niedrigen Gehalt. Vor allem das Gefühl, nie ausreichend Zeit für die Patienten zu haben, läßt viele bald resignieren. Auch die Konstanzer Spitalstiftung bekommt die Folgen der Gesundheitspolitik jetzt zu spüren, sie kann einen Teil ihrer neuen Pflegebetten derzeit nicht belegen, weil qualifiziertes Personal fehlt.

Drei

Ich selber habe von 1965-98 in der Kranken- und Altenpflege gearbeitet. Hin und Wieder kam es vor, daß ein schwerkranker Mensch sagte: "Schwester, ich will nicht mehr leben!" Wenn man genauer nachfragte, erfuhr man, daß der oder die Kranke meinte: Ich will SO nicht mehr leben! Auf weitere Nachfragen hin erfuhr man: "Ich bin so allein". "Ich habe unerträgliche Schmerzen". "Ich habe Angst vor dem Ende". "Ich kann nicht schlafen". "Ich hätte noch so viel zu erledigen". "Ich kriege so schlecht Luft". Und da beginnt eigentlich die Aufgabe (der Auftrag) für die Pflegekraft und den Arzt: Wie kann ich Beschwerden lindern; wie kann ich Wohlbefinden und Ruhe schaffen; wie kann ich ordnen und regeln helfen; wie kann ich den Sterbenden begleiten und Geborgenheit herstellen?

Ich habe viele Menschen sterben sehen: Neugeborene, Kinder, Erwachsene und Alte. Jedes Sterben ist einzigartig und bewegend und manchmal auch schrecklich. Nicht alle dieser Patienten konnten "in Frieden" sterben, aus den verschiedensten Gründen, die sowohl in ihnen selbst als auch an den gesellschaftlichen Bedingungen lagen. Nicht alle Probleme können von den Angehörigen und Pflegenden gelöst werden, aber Begleiten und Hinhören und Lindern ist möglich, wenn man das Menschsein ernst nimmt. Ab 1973 war ich auf einer Palliativ-Station für hauptsächlich "aus-therapierte" Krebspatientinnen tätig. Auf einer Station wo keine invasive (eingreifende) Behandlung und Diagnostik mehr vorgenommen wurde, sondern "nur" noch versucht wurde, den Todkranken das Leben so "schön" und so leicht wie möglich zu machen. Man kannte dort "Sterbehilfe" schon lange und praktizierte sie. Sterbehilfe war sowohl, jeder Patientin ihr Wunsch-Essen zu bereiten, als auch ihr mehrfach täglich den Wunsch nach einem kurzen Sitzbad, gegen ihre Schmerzen und den Wundgeruch,zu ermöglichen. Was die Ernährung angeht, so glaubt man kaum, wie wichtig gerade kleine Schmankerln für Menschen mit Appetitmangel sein können! So gab es um 10 Uhr auf Wunsch Bohnenkaffee, Rotwein-mit-Ei-und-Zucker (eine wohltuende und kräftigende Droge!), oder Milchbreie und Suppen in allen Variationen und für Andere Rührei-mit-Tomaten oder Obst- und Gemüsepürees. Ich gehe bewußt so ins Detail, um aufzuzeigen, daß man natürlich genügend Personal braucht, um die Schwerkranken ein wenig zu verwöhnen. Auf dieser Station (einer städtischen Frauenklinik in Niedersachsen) herrschte eine heitere und offene Stimmung und man spürte eine Zufriedenheit beim medizinischen Personal, bei den Hauswirtschaftskräften, bei den Patienten und ihren Angehörigen, die quasi 24 Stunden am Tag Besuchszeit hatten (während in anderen Häusern nur an Mittwoch- und Wochenendnachmittagen 3 Stunden Besuch erlaubt war). Nie wieder in meinem Berufsleben ist mir so viel Dankbarkeit begegnet, wie auf dieser, doch sehr schwierigen, Station. Schon damals gab es Opium-Tropfen und Morphium-Spritzen bei Bedarf. Die Ärzte haben gemeinsam mit dem Pflegepersonal, den Patienten und ihren Angehörigen bestmöglichst die Risiken und den Nutzen der Medikamente erörtert. Kein Mensch mußte in Schmerzen die Welt verlassen.

Vier

Heute hat man durch moderne Morphin-Abkömmlinge und Schmerzpumpen, welche dem Patienten stetig eine bestimmte Menge Morphium injizieren, noch weitaus bessere Möglichkeiten die Schmerzen zu lindern. Viele starke Schmerzmittel verkürzen das Leben (oder das Sterben), da ihre "Nebenwirkungen" auf die Atmungs- und Verdauungsorgane suppressiv wirken, ebenso auf Herz, Nieren, Leber und Stoffwechsel. Je nach Höhe der Dosierung ist der Schwerkranke davon etwas euphorisch oder eher schläfrig. dasselbe gilt für Schlaf- und Beruhigungsmittel, die natürlich ebenso Auswirkungen auf die Vitalfunktionen haben, was jedoch in kauf genommen wird, um dem Kranken die Möglichkeit zu geben, sein Sterben angstfrei und in Würde zu durchstehen. Hier sind Arzt und Pflegekraft gefordert, verantwortungsvoll ihr Wissen einzusetzen. Dazu gehört auch, daß der "Letzte Wille" (die Patientenverfügung) bezüglich Intensivpflege, Beatmung, künstliche Ernährung, sowie Organentnahme ernst genommen wird. Doch auch, heraushören-zu- können, ob der Lebenswille eines Menschen vielleicht nur wegen der derzeitigen Umstände zeitweilig erloschen ist und eine andere Therapie ihm helfen könnte. So hatte ein 24-Jähriger sich bei einem Kopfsprung die Halswirbel gebrochen und war vom Kopf abwärts gelähmt. Er hatte mehrfach "Sterbehelfer" kontaktiert, damit sie seinem vermeintlich sinnlosen Leben ein Ende setzen. Die Ärzte konnten ihn überzeugen, die Entwicklung seines Befindens abzuwarten. Innerhalb eines Jahres konnte eine neu entwickelte Operationstechnik ihn soweit heilen, daß er sich sitzend im Rollstuhl fortbewegen und immer mehr Tätigkeiten selbst verrichten kann. Er möchte an seinen Sterbewunsch vom Vorjahr nicht mehr gerne erinnert werden. Diese Erfahrung kann man in Reha-Kliniken bei der Behandlung von Unfallopfern und bei anderen plötzlich schwer Erkrankten oft machen: Wenn wieder Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben besteht, kommt auch der Lebenswille zurück.

Schaffen wir also ein neues und soziales Gesundheitssystem in einem neuen und sozialen Gesellschaftssystem, wo die Würde und die Rechte eines Menschen weder vom Geldbeutel, noch von der Herkunft, noch vom Alter oder dem Behinderungsgrad abhängig sind. Wir dürfen uns nicht als Objekte der Politik sehen, sondern als das was wir sein können: Subjekte des politischen Handelns.

Alle Gesetze sind von Menschen gemacht und können von Menschen beseitigt oder geändert werden! Auch unsere Gesundheitsgesetzgebung. Die gesellschaftlichen Mißstände sind es, die den Ruf nach aktiven Sterbehelfern laut werden lassen. Rufen wir doch lieber nach aktiver Lebenshilfe durch ein Gesundheitswesen, an dem sich nicht Pharmakonzerne, eine "Gesundheits-Mafia", Chefärzte und Klinikchefs bereichern. Ein Gesundheitssystem, das nicht nach profitlichen Gesichtspunkten ausgrichtet wird und nicht den marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen. Unsere Vergangenheit hat uns gelehrt, daß wir wachsam sein müssen , auch wenn es um "Tötung auf Verlangen" geht. Es ist ein kleiner Schritt zur Tötung aus "Vernunft", wie ja die Euthanasie an Behinderten gewissermaßen begründet wurde, nämlich "lebensunwertes" Leben zu beseitigen. Die Menschen die nicht "nützen" sondern nur "kosten"! (Und nun erzähle keiner, daß es sowas nicht mehr gibt: Alle Kliniken sind organisiert nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten.)

Deshalb bin ich gegen "aktive" Sterbehilfe, weil sie dem Mißbrauch Tür und Tor öffnet.

Fünf

Das letzte Wort gebe ich Fredi Saal, geb.1935, der aufgrund schwerer spastischer Lähmungen seine Kindheit in einer "Irrenanstalt" verbringen mußte. Er war mehrfach drauf und dran, sich aus Verzweiflung und Erschöpfung "das Leben zu nehmen". Er engagierte sich in der 80ern in der "Krüppeloffensive" und veröffentlichte von 1950 bis 94 zahlreiche Texte zum Thema: Selbstbestimmtes Leben.

Der Text ist Klaus Dörners Buch "Tödliches Mitleid" entnommen:
"Es ist schon ein unerträglicher Zynismus, erst für den Behinderten unzumutbare Lebensbedingungen zu schaffen, und dann daraus die Konsequenz einer Notwendigkeit für eine "humane" Sterbehilfe zu ziehen. Das nenne ich unterlassene Hilfeleistung, für die jeder zur Rechenschaft gezogen werden müßte. Statt für Sterbehilfe zu plädieren, gilt es für bessere Lebensbedingungen der Lebensmüden auf die Barrikaden zu gehen.
- bleibt es die Pflicht, ihnen beim Leben, nicht beim Sterben zu helfen es sei denn, man begleitet sie in der aktuellen Sterbesituation (eine sehr schmerzliche Erfahrung, der gerne aus dem Wege gegangen wird; den Giftbecher zu reichen ist sehr viel einfacher).
- es klappt recht gut, wenn es darum geht, das Leiden eines Menschen für so groß zu halten, daß man nicht mehr von einem menschenwürdigen und lebenswerten Leben sprechen könne.
- Man will es gar nicht erst wissen, ob es das vermutete Leid auch wirklich gibt; es wird einfach vorausgesetzt und über seine endgültige Beseitigung nachgedacht. Daß wir gar nicht das Leid des Anderen meinen, sondern unser eigenes beim Anblick des vermuteten, das lassen wir gar nicht erst in unser Bewußtsein (F. Saal, 1988)

lir


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linksrheincm17.04.2001