Vorwort

 

 

Die Rolle von Staat und Kapital, das politische und soziale Leben, das Denken und Handeln wurde in den großen Industrienationen seit Beginn der industriellen Revolution (in Westeuropa vor etwa 170 Jahren) bis vor kurzem stark von der Welt der "Fabrik" und der "Nation" geprägt. Ob es um die Einteilung der Gesellschaft in Klassen und Schichten, um den Begriff "Lohnarbeit", die Strukturierung des Alltagslebens, die gesellschaftliche Rolle von Mann und Frau und die Arbeitsteilung zwischen ihnen, um das Sozialsystem (wie z.B. Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Pension und Rente), um das Bildungssystem, um die Rolle und die Organisationsformen von Gewerkschaften und Parteien oder um die kolonialen und imperialistischen Expansionsbestrebungen ging.

Seit neuerer Zeit, besonders aber nach dem Ende des „Kalten Krieges“, der Blockkonfrontation und Systemkonkurrenz (1989), der Auflösung der Sowjetunion, des Warschauer Vertrages und des Rats für gegen seitige Wirtschaftshilfe (RGW) und durch die damit verbundene fast uneingeschränkte Entfesselung des Kapitalismus, wird die Welt wieder neu geordnet ("Neue Weltordnung").

Obwohl mir an den ehemaligen realsozialistischen Verhältnissen nur wenig Verteidigungswürdiges zu sein scheint, gab es dennoch im Schatten der beiden Machtblöcke manchen Freiraum, in dem sich emanzipatorische Politik entwickeln konnte (z. B. StudentInnenbewegungen, außerparlamentarische Linke, Befreiungs bewegungen). Selbst Begriffe/Vorstellungen von „Sozialer Marktwirtschaft“ und „Solidargemeinschaft“ und auch die objektive Rolle der Sozialdemokratie für das Kapital als Alternative zum „Kommunismus“ haben ausgedient. Die Sozialdemokratie präsentiert sich jetzt, im Rahmen einer ideologisch allparteienübergreifen den großen Koalition, als Modernisierer („Reformen!“) im Dienste des Kapitals in Richtung Hegemonial streben, Kriegsbeteiligung, Liberalisierung und Sozialabbau.

In der BRD-Linken war die Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus weitgehend tabuisiert – aus Angst, in die antikommunistische Ecke gedrängt zu werden, mit den falschen Partnern identifiziert zu werden, oder aus einer Einstellung heraus, der das Motto zugrunde liegt:“ der Feind meines Feindes ist mein Freund“, oder auch, weil sie das „sozialistische Projekt“ als eine realpolitische Möglichkeit akzeptierten.

Das ist auch eine Erklärung dafür, daß die Linke nach dem Ende der Blockkonfrontation völlig konzeptlos und bedeutungslos dastand.

 

Aber »diese "Neue Weltordnung" hat sich nicht plötzlich, an einem bestimmten historischen Zeitpunkt, durch einen qualitativen Sprung in der Geschichte der kapitalistischen Entwicklung und des Weltmarktes herausgebildet. Sondern sie vollzieht sich seit Jahrzehnten schleichend, zwar in Brüchen, bedingt durch die immer wieder mit Notwendigkeit auftretenden Krisen im kapitalistischen Akkumulationsprozess. Dieser Prozess wurde auf Betreiben der USA am Ende des 2. Weltkrieges (Juli 1944) durch die neue Ordnung von Bretton-Woods (Gründung der Weltbank und des Interna tionalen Währungsfonds) eingeleitet, als die alten Währungsräume der ehemali gen Kolonialreiche Frankreich und England beseitigt und der Dollar zur neuen Weltwährung wurde. Zugleich wurden wichtige Zoll- und HandelsSchranken abgebaut. Alles, was wir heute unter "Neue Weltordnung" verstehen, hat hier seinen Anfang.«[1]

 

 

Die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung – allgemein mit Neoliberalismus und Globalisierung bezeich net – ist eine kapitalistische Offensive, die alle Lebensbereiche, selbst den menschlichen Körper, zunehmend privatisiert und kommerzialisiert und die ganze Welt zu einem einzigen Markt vereinigt –  und das unter der Dominanz der mächtigen IndustrieNationen/der transnationalen Konzerne.

Im Rahmen des Profit- und WachstumsParadigma des Kapitals ist die Steigerung der Produktivität und die Erschließung neuer Märkte inhärent mit Abbau sozialer Errungenschaften, Massenarbeitslosigkeit, Vernichtung natürlicher Lebensgrundlagen, Ausschluß immer größerer Teile der Menschheit von den ökonomischen und sozialen Lebensvoraussetzungen und mit dem Abbau von Demokratie.

Der Staat baut seine Funktionen immer stärker marktkonform um: Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Kulturpolitik, Bildungspolitik, Gesundheitspolitik, usw. werden zusehends ausschließlich der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt untergeordnet.

 

Im sozialen Bereich hat diese Entwicklung auch zu verstärkter Normierung, Kategorisierung, bis zur Selektion von als „überflüssig“ betrachteten Menschen – Menschen, die über „Arbeitskraft minderer Güte“ verfü gen – geführt, und so ist die Diskussion um „lebenswert“ und „lebensunwert“, „Neue Eugenik“, „Neue Euthanasie“ wieder gesellschaftsfähig geworden.

 

 

Es geht mir in diesem Text nicht so sehr darum, die gemeinsamen globalen Agenturen/Instrumente, die Organisationen und Verträge der verschiedenen Wirtschaftsmächte[2] und deren spezielle Wirkungsweise und Wechselwirkung zu untersuchen, sondern mir geht es hier hauptsächlich um die grundsätzlichen Philosophien/Ideologien/Haltungen/Prinzipien/Interessen und Machtverhältnisse, die der aktuellen gesellschaftl chen Entwicklung in den mächtigen Industrienationen, speziell der BRD, zugrunde liegen und um die Frage, wie weit unser soziales Leben in all seinen Ausprägungen und wir als Individuen davon geprägt sind -  und auch umgekehrt, in dialektischer Wechselwirkung.

Beim Versuch, dies zu analysieren - und das wird immer auch Interpretation auf Grundlage eigener gesellschaftlicher Erfahrung/Praxis/Utopie sein - sehe ich nicht totale Brüche mit den alten Verhältnissenoder ganz neue Erscheinungen. Es geht um das Verständnis von Tendenzen/Entwicklungen/Zusammenhängen, um Veränderungen von Bedingungen im historischen Kontext.

Und gemeint ist dann nicht: Das Alte war besser, das Neue ist schlechter, also zurück zum Alten! Sondern, das Neue, als konsequente Entwicklung der herrschenden Verhältnisse, bedeutet für die meisten Menschen eine Verschlechterung der Lebensbedingungen und genau deshalb müssen wir die Ursachen für diese Entwicklung studieren, um diese so zu verändern oder abzuschaffen, dass sie in einer "anderen, menschlichen Welt" gar nicht mehr auftauchen - gemeint sind die Ursachen und nicht die bloßen Erscheinungsbilder!

Wenn wir die gesellschaftlichen Verhältnisse in Richtung einer "herrschaftsfreien", "solidarischen" Gesellschaft interpretieren und verändern wollen, werden wir uns nicht außerhalb dieser Gesellschaft begreifen können, um sie dann scheinbar objektiv und unbeteiligt zu betrachten – wie es ja durchaus im bürgerlichen Wissenschafts- und Erkenntnisverständnis  üblich ist -, und so wird es auch nicht genügen, sie über bloße äußere Machtverhältnisse zu beschreiben: Macht als staatliche Repression; hier die Herrschenden, dort die Unterdrückten - oben gegen unten. Sondern wir werden nicht umhin kommen, zu untersuchen, wieweit auch unser Menschenbild, unser Gesellschaftsbild, unsere Begrifflichkeit und unsere Denkstrukturen, und damit auch unsere praktischen Kommunikations- und Lebensformen von diesen Verhältnissen geprägt sind - und auch umgekehrt, so dass wir mehr oder weniger selbst Grundlage und Träger dieser Verhältnisse darstellen. Vernachlässigen wir diese Auseinandersetzung, werden wir vielleicht bestimmte Erscheinungsbilder oder Institutionen der Unterdrückung verändern, aber nichts am grundsätzlichen Charakter von Herrschaft und Macht. Das zeigt sich auch dort, wo sich der Widerstand auf den bloßen Kampf gegen Erscheinungsbilder oder auf ständische Interessen reduziert: immer wieder neu von vorne begonnen und doch nichts erreicht, was das Leben lebenswerter macht. Als Ergebnis: "das große Gähnen" - Resignation - sich in den Verhäl nissen arrangieren!

 

 

Um den Fluss der Argumentation leichter nachvollziehbar zu machen, habe ich oft detaillierte Ausführungen, Beispiele, Belege, Stimmen anderer in Fußnoten ausgelagert. Was aber überhaupt nicht meint, dass ich sie als nebensächlich oder unbedeutend verstehe.

 

 

(Label:F.Storim,Neoliberalismus/Globalisierung*Datei:NeoGlo010203Vorwort*Ergänzung: 11.02.05)



[1] Hauke Benner, "Die Globalisierung der Ökonomie oder die Ökonomisierung des Globus", Nov. 98,

  www.MAUS-Bremen.de (Text-Archiv).

 

[2] die Weltbank (WB), der Internationale Währungsfond (International Monetary Fond, IWF), oder das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (General Agreement on Tarifs and Trade, GATT) aus dem später die Welthandelorganisation (World Trade Organisation, WTO) hervorging, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Cooperation and Development, OECD), das Allgemeine Abkommen über Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Sercices, GATS), das Abkommen über handelsrechtlich relevante Aspekte geistiger Eigentumsrechte (Trade Related Intellectual Property Rights, TRIPs), das Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (North American Free Trade Agreement, NAFTA) wie usw.