Tschernobyl - 20 Jahre nach der Katastrophe
der Super-Gau 1 und die Folgen
Vor 20 Jahren ereignete sich in den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 am Rande der Kleinstadt Prypjat 2 bei Tschernobyl (Ukraine, damals Sowjetrepublik) im Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl eine Kernschmelze mit darauffogender Explosion. Das war bisher eine der folgenschwersten Katastrophen in der Geschichte der Atomenergie 3 Die Welt nach Tschernobyl ist eine andere als die, die sie vorher war!
Die Katastrophe traf Millionen von Menschen völlig unvorbereitet und Millionen von Menschen sind weiterhin von den Konsequenzen betroffen.
Vermutlich wurde die
Katastrophe durch schwere Bedienungsfehler der Betreiber der Anlage ausgelöst.
Der Standort des Reaktors ist
ca. 100 km nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew und nahe der Grenze zu
Weißrussland (Belarus) gelegen.
Große Mengen an Radioaktivität wurden durch die Explosion und den anschließenden Brand des Graphit-Moderators in die Umwelt freigesetzt.
Das Graphitfeuer, das sich nach dem Absprengen das Daches entzündete und fast 14 Tage brannte, beförderte weitere Mengen strahlendes Materials in die Luft. Die hohen Temperaturen der nuklearen Schmelze im Reaktorschlund ermöglichten durch eine Art Kamineffekt ein Aufsteigen der radioaktiven Nuklide in große Höhen (über 10.000 m). So konnten sie mit den Höhenwinden über Länder und Kontinente hinweg mehr oder weniger die gesamte Nordhalbkugel der Erde erreichen.
Radioaktive Metalle mit höherem Siedepunkt wurden vor allem in Form von Staubpartikeln freigesetzt, die sich in der Nähe des Reaktors niederschlugen.
Ein nicht unwesentlicher Teil
der in Tschernobyl freigesetzen Radioaktivität, insbesondere die Nuklide
Jod-131 (Halbwertzeit 8 Tage) und Cäsium-137 (Habwertszeit 30 Jahre), blieben
als Aerosol lange in der Atmosphäre.
Diese ”radioaktive Wolke”
erreichte auch Westeuropa. Bereits 36 Stunden nach der Explosion wurden stark
erhöhte Werte der Luftaktivität in Skandinavien gemessen. Etwa drei Tage
später, am 29. April 1986 gegen 18.00 Uhr, überquerten die ersten radioaktiven
Luftmassen die Grenze zwischen Tschechien und Bayern.
Durch Regen wurden die
radioaktiven Substanzen aus der Luft gewaschen und in den Boden eingebracht.
Dadurch wurden direkt (z.B. über Freilandgemüse) oder indirekt (z.B. über Milch
von Kühen, die belastetes Gras gefressen hatten) Lebensmittel belastet.
Von den Auswirkungen sind vor
allem die Länder Weißrussland, Ukraine und Russland betroffen. Es wurden
riesige Flächen radioaktiv verseucht und dadurch weite Gebiete unbewohnbar und
für den Ackerbau nicht mehr nutzbar.
Weißrussland war und ist am
schwersten betroffen, wo 70 % des Fallouts niedergingen. 30 % des
Staatsgebietes sind verseucht.
Aus Weißrußland mußten etwa
135.000 Menschen sofort -etwa 400.000 verloren ihre Wohnungen -, aus der
Ukraine etwa 160.000 Menschen, aus der Russischen Föderation etwa 50.000
Menschen evakuiert werden.
Viele Familien, die in
sichere Regionen evakuiert wurden, sind inzwischen, trotz anhaltender radioaktiver
Belastung, in ihre alte Heimat zurückgekehrt.
Nach wie vor kommen
Lebensmittel aus radioaktiv verseuchten Gegenden in den Nahrungskreislauf und
viele Menschen nehmen so Tag für Tag kontaminierte Nahrung zu sich und so
werden immer weiter neue Krankheiten verursacht.
In der BRD war und ist vor
allem Süddeutschland stark betroffen. Noch immer sind in weiten Teilen von
Süddeutschland, Österreich, Finnland und Schweden Pilze, Beeren oder
Wildfleisch hoch radioaktiv verstrahlt.
Die Belastung nimmt im Laufe
der Jahre nur langsam ab.
Der Versuch, die Katastrophe
einfach geheimzuhalten, verhinderte wichtige Maßnahmen, die zum Schutz der
Bevölkerung hätten getroffen werden können. Wichtige Daten über den Unfallablauf
und über die Strahlenschäden wurden nicht dokumentiert, geheimgehalten oder
frei erfunden. Die offiziellen Stellen der Sowjetunion waren erst bereit ,
diesen Unfall zuzugeben, nachdem er sich durch Messungen erhöhter
Radioaktivität in Skandinavien und dann auch in Westeuropa sowie durch
USA-Satellitenaufnahmen vom zerstörten Reaktor und vom Graphitbrand nich mehr
verheimlichen ließ.
Bis heute werden die Folgen
von offizieller Seite nicht vollständig erfaßt und dargestellt. Wichtige
internationale Gremien - wie die Internationale Atomenergieagentur (IAEA), das
wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung der
Atomstrahlung (UNSCEAR), die Organisationen der Vereinten Nationen (UN) im
sogenannten “Tschernobylforum” - verschleiern und verharmlosen die
Auswirkungen. Der Manager des Strahlenprogramms der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) Dr. M. Repacholi erklärte im September 2005 in Wien: “Die Hauptbotschaft
des Tschernobylforums ist: kein Grund zur Beunruhigung.”
Es gibt jedoch eine große
Anzahl von ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen aus den Ländern Ukraine,
Weißrußland und Rußland sowie aus den weiter von Tschernobyl entfernten europäischen
Ländern, die zu ganz anderen Ergebnissen gekommen sind.
Auf die Aussagen dieser
Menschen und Initiativen beziehen wir uns im Folgenden.
Die Zahl der Menschen, die
bisher aufgrund der Katastrophe starben oder gesundheitlich geschädigt wurden,
geht vermutlich weit in die Hunderttausende. Der Großteil der Opfer ist jedoch
erst in den nächsten Jahzehnten zu erwarten. Ein Ende der Katastrophe zeichnet
sich auch 20 Jahre danach nicht ab, von den bisherigen Opfern wurde bis heute
nur ein Teil erfasst. Epidemiologische Studien in den betroffenen Ländern
waren und sind durch unzureichende finanzielle Mittel und durch eine
mangelhafte Infrastruktur behindert.
Die Häufigkeit von Krankheit
und besonders von Krebs nimmt zu
4
- die WissenschaftlerInnen warnen vor einer Krebsepidemie in den nächsten zehn
bis zwanzig Jahren. Aus Hiroshima und Nagaski ist bekannt, daß sich die
Auswirkungen von radioaktiver Belastung oft erst nach zwei, drei oder vier
Jahrzehnten zeigen.
Die Schädigung auch von
niederen Strahlendosen ist bisher noch vollkommen unverstanden. Solange die
zeitliche und räumliche Dosisverteilung in lebendem Gewebe nicht ermittelbar
ist, können die zur Zeit verwendeten Grenzwerte kein Maß für individuelle
gesundheitliche Beinträchtigung sein (Rolf Bertram).
In verschiedenen Regionen,
wie z.B. in der BRD, konnten die Auswirkungen nur sehr schwer untersucht
werden, da kein flächendeckendes Krebsregister existierte.
Wenn ich solche Zahlen anführe, dann um auf das Ausmaß der Bedrohung durch Atomkraftwerke einerseits und auf die Skrupellosigkeit andererseits hinzuweisen, mit denen politische und wirtschaftliche Interessen durchgesetzt werden. Die letzendlichen wirklichen Auswirkungen und das Leid, die mit dieser Katastrophe ausgelöst wurden, lassen sich mit solchen Zahlen gar nicht erfassen.
Ungeachtet aller gesellschaftlichen Gegensätze hat sich in Ost und West ein stilles Einvernehmen angebahnt, um zu verhindern, daß die in Teilen der Weltöffentlichkeit zu verzeichnende Schockwirkung keinesfalls in eine grundsätzliche Diskussion um Sinn und Unsinn der Atomenergie und um die Interessen, die hinter dieser menschenfeindlichen Technologie stecken mündet. Nur so lassen sich die haarsträubenden Verharmlosungen, Vertuschungen, Desinformationen und Lügen erklären.
der Reaktor heute
Etwa 860.000 Menschen -
zumeist junge zwangsrekrutierte Männer (darunter 340.000 Wehrdienstleisende,
24.000 Berufssoldaten) - waren als sogenannte Liquidatoren an den Aufräumarbeiten
(Aufräumarbeiten am Reaktor, Bau des Sarkophags, Evakuierung der Bevölkerung
und des Viehs, Waschen von Ortschaften, usw.) nach der Katastrophe beteiligt
und wurden bei dieser Arbeit erhöhter Strahlung ausgesetzt.
Bis Ende 1999 sind
schätzungsweise bereits mehr als 50.000 davon an Strahlenschäden oder Suizid
gestorben. Ein großer Teil ist heute schwer krank.
Gleich nach der Katastrophe
wurde eine Umhüllung um den Reaktor errichtet - der sogenannte Sarkophag. Die
Frist des garantierten Betriebs des Sarkophags sollte 30 Jahre betragen, doch
bereits seit längerem schlagen ExperInnen Alarm. Die Wände des Sarkophags
haben Spalten, die Decke senkt sich herab. Bis Mitte 1999 waren bereits
ungefähr 3.000 Kubikmeter Wasser in den Sarkophag eingedrungen, die radioaktive
Stoffe aufgelöst haben und im unteren Bereich des Sarkophags einen Tümpel von
flüssigen radioaktiven Abfällen bilden.
Die ExpertInnen wissen wenig
über die Prozesse, die sich innerhalb des Reaktors abspielen. Durch die Löcher
in der Aussenwand bläst der Wind radiokativen Staub heraus und Regenwasser
dringt ein. Eindringendes Wasser könnte zu einem Wiederaufflackern der
Kettenreaktion im Brennstoff führen, radioaktiv verseuchtes Wasser könnte das
Grundwasser erreichen. Im Falle eines Einsturzes droht die Freisetzung einer
radioaktiven Staubwolke in die Umgebung.
Über die eigentliche Gefahr,
die jetzt noch von dem Reaktor ausgeht und über das noch in der Ruine
vorhandene radioaktive Potential, gibt es sehr widersprüchliche Aussagen.
Eine sachgerechte Entsorgung
vermutlich großer Mengen radioaktiver Stoffe aus dem geborstenen Reaktorblock
ist noch immer nicht in Sicht.
Mit dem Bau eines zweiten
Sarkophags ist begonnen worden. Er wird neben dem zerstörten Block (Block 4)
gebaut und soll dann über ihn geschoben werden. Es wäre die größte, je gebaute
bewegliche Struktur (20.000 Tonnen schwere Betonhülle, fast 125 m hoch). Die
geplante Betriebszeit soll 50 bis 100 Jahre betragen. Für die Kosten zur
Sicherung von Block 4, einschließlich der Errichtung des neuen Sarkophags,
werden inzwichen weit über eine Milliarden Dollar diskutiert.
Nach der Katastrophe wurden
die Reaktoren eins bis drei weiter betrieben.
Der letzte noch produzierende
Reaktor der Anlage, Block 3, wurde am 15. Dezember 2000 auf Druck der
Weltöffentlichkeit abgeschaltet - also über 14 Jahre nach der Katastrophe. Die
nuklearen Brennelemente sind aber immer noch nicht entfernt worden.
Auch aus Block 1 sind erst
die Hälfte der Brennelemente entladen.
Die Atommülldepots auf
ukrainischem Territorium sind überfüllt.
Ich will noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß es weltweit kein sicheres Endlager gibt, das keinen Zutritt der über Jahrmillionen strahlenden hochradioaktiven Abälle zur Biosphäre garantiert - und ein solches ist auch gar nicht vorstellbar. Dennoch werden diese hochradioaktiven Abfälle weltweit weiter produziert - auch in der BRD. U.a. daraus leitet die Anti-AKW-Bewegung ihre Forderung: ”Für die sofortige Stillegung aller AtomKraftwerke weltweit!” ab.
ist ein Super-GAU auch in
Deutschland möglich?
Atomkaftwerke sind komplizierte Hig-Tech-Systeme, in denen physikalische Prozesse, eine Fülle verschiedener Materialien, Ingenieurtechnik und der Faktor Mensch in einer fein abgestimmten Weise zusammenwirken müssen. Im Gegensatz zu anderen Hochtechnologien beinhaltet ein Atomkraftwerk aber ein ungeheures Schadenspotential. Gerät diese Technik außer Kontrolle - und das ist auch bei einem deutschen Atomkraftwerk nicht auszuschließen - , so sind besonders in dicht besiedelten Regionen schlagartig Millionen von Menschen in ihrer Existenz und Gesundheit bedroht.
Die Erfahrungen aus Tschernobyl haben gezeigt, daß nach einer Katastrophe in einem AKW - durch welche Ursache sie auch immer ausgelöst wurde - das Evakuierungsgebiet auch 400 km weit reichen kann, je nach Katastrophenszenario und Wetterlage.
Bei einem deutschen AKW gibt es nach einem Super-GAU auf Grund des anderen Reaktorprinzips keinen vergleichbaren Brand wie in Tschernobyl und somit keinen großen Auftrieb für die nukleare Freisetzung und großflächige Verteilung. Allerdings wäre das Freisetzungsinventar 3 bis 5 mal größer als in Tschernobyl. In Weißrussland haben etwa 400.000 Menschen ihre Heimat verlassen müssen. In Deutschand kann wegen der 7 - 10 mal höheren Besiedlungsdichte die Evakuierung von 3 - 6 Millionen Menschen notwendig sein. Eine geordnete Evakuierung und Versorgung - auch medizinische Versorgung - so vieler Menschen ist aber nicht vorstellbar. Die Menschen werden weitgehend sich selbst überlassen.
Hinweisen will ich in diesem Zusammenhang, daß es vor Tschernobyl größere Atomkatastrophen bei Kyshtym im Chemiekombinat Majak (29.09.1957, UdSSR; s. Fußnote 2), in Windscale (08.10.1957, heute Sellafield, England), in Harrisburg (27.03.79, Pensylvania, USA) im AKW Three Mile Island und in Tokaimaru (30.09.1999, Japan) gab.
Zusammengefaßt:
Es gibt weder 100%ige Sicherheit gegen technisches
Versagen, noch gegen menschliches Fehlverhalten oder gegen einen zielgerichteten
militärischen Angriff.
Und nicht zu vergessen sind die gesundheitlichen
Gefahren, die von der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie auch bei
sogenanntem „Normalbetrieb“ ausgehen.
Der Betrieb atomtechnischer Anlagen führt zu
schwerwiegenden Beeinträchtigungen von Gesundheit und Lebensraum. Auch der
Transport, die Zwischen- und Endlagerung von Atommüll sind mit hohen Risiken
verbunden. Tausende von Generationen nach uns werden an den Folgen der
Atomtechnik erkranken und sterben. Radioaktivität - einmal freigesetzt -
bleibt auch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden wirksam.
Mit jeder Kilowattstunde aus Atomenergie nimmt die
Radioaktivität in der Umwelt zu.
Und - diese Katastrophe in Tschernobyl war kein
Schicksal, sondern ist von Menschen zu verantworten.
Die Produktion von Atomenergie ist ein Verbrechen an
Mensch und Umwelt - hier und auch anderswo! Und dieses Verbrechen ist nicht
anonym oder irgendwelchen Sachzwängen geschuldet, sondern dahinter stecken
Gesichter und Interessen, die es gilt sichtbar zu machen und zur Rechenschaft
zu ziehen.
Ist nach der Katastrophe
von Tschernobyl die zivile und militärische Nutzung der Atomkraft ein
auslaufendes Modell?
Zur Zeit sind weltweit 439
Atomkraftwerke in Betrieb (Okt. 2005).
Die internationale
Atomenergiebehörde (IAEA) erwartet - nach Aussagen ihres Chefs Mohammed
al-Baradei, auf der internationalen Konferenz zur Zukunft der Atomernegie vom
21. März 2005 - einen AtomstromBoom. Bis 2020 werde der weltweite Bedarf auf
gut 427 Gigawatt hochschnellen. Dafür müßten über die bisherigen Schätzungen
hinaus 127 AKWs mit einer Leistung von je 1.000 Megawatt gebaut werden. Die VR
China wolle ihren Atomstrom von derzeit 6,5 Gigawatt bis 2020 auf 36 Gigawatt
hochfahren, Rußland von 22 Gigawatt auf 40 bis 45 Gigawatt. Die Befürchtungen
bezüglich des Treibhauseffekts überwögen die Furcht vor atomaren Unfällen. So
bringe das Kioto-Protokoll für die Atomenergie „neue Persperktiven“, sagte
al-Baradei (TAZ, 22.03.05).
Diese Liste läßt sich
ergänzen:
Es gibt eine Gesetzesvolage fürs ukrainische Parlament wonach in den nächsten 20 Jahren 34
neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen. Begründung: Nur so ist die
Energieunabhängigkeit von Rußland zu gewährleiten.
Derzeit sind in der Ukraine vier Atomkraftwerke mit 15 Reaktorblöcken in
Betrieb. Drei weitere befinden sich im Bau.
Ein eigenes Urananreicherungsprogramm ist anvisiert. Binnen zwölf Jahren soll
ein geschlossener Brennstoffkreislauf verwirklicht sein.
Präsident Viktor Juschtschenko hat vorgeschlagen, das verseuchte Gebiet um
Tschernobyl als Endlagerstätte auch für andere europäische Staaten
einzurichten.
in Finnland wird unter Mitwirkung von Siemens ein neues AKW gebaut,
neue Anlagen sind auch in den USA, in Frankreich, in Großbritanien, in den Niederlanden, in Finnland, in Lettland, in Rumänien, in Polen, im Iran, in Nord-Korea, selbst in Venezuela im Gespräch,
die Türkei will bis 2015 drei AKW bauen,
der sogenannte
„Konsensvertrag zwischen Atomindustrie und Bundesregierung zum Ausstieg aus der
Atomenergie“ hat erst einmal nichts mit Ausstieg zu tun, sondern mit dem
Bestandschutz der alten, gewinnbringenden Anlagen.
In der BRD ist die Verlängerung der Laufzeiten der alten Atomkraftwerke, ja
selbst der Neubau im Gespräch.
Abgeschriebene AKW (Abschreibungszeitraum 19 Jahre) sind unter den derzeitigen
wirtschafts- und steuerpolitischen Bedingungen Gelddruckmaschinen höchster
Ergiebigkeit.
Eine Verlängerung der Laufzeiten über das Jahr 2030 hinaus, würde für die
Energieriesen (E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall) Mehrgewinne in zweistelliger
Milliardenhöhe bedeuten. Und darum geht es! Nicht um Versorgungssicherheit und
Klimaschutz! (Rolf Bertram)
der Forschungsreaktor in München (FRM II), der mit bombenfähigem hochangereichertem Uran betrieben wird, ist 2003 in Betrieb genommen worden,
die Kapazität der Urananreicherungsanlage in Gronau soll auf das 2,5 fache erhöht werden,
Atomstrom wird aus anderen Ländern importiert, Atomtechnologie in andere Länder exportiert,
in Frankreich soll der internationale Fusionsreaktor gebaut werden.
In deutsch-französischer Kooperation ist mit dem 1.600 MW-EPR (European Pressurized Water Reactor) ein neuer Reaktortyp „der dritten Generation“ entwickelt worden.
In Flamanville ist der Bau eines solchen EPR geplant.Bulgarien will den Weiterbau des 1991 eingestellten Reaktorbaus wieder aufnehmen. Mit Finanzierung durch deutsche Banken (Deutsche Bank, HypoVereinsbank, CommerzBank, Bayerische Landesbank). Am Betrieb des AKW hat u.a. der deutsche Energieversorger E.ON Interesse bekundet.
Die USA hat der Atommacht Indien (zwölf Schwerwasser- und zwei LeichtwasserReaktoren in Betrieb mit 3.310 MegaWatt Kapazität, neun Reaktoren im Bau, darunter ein Schneller Brüter, Indien hat den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet) Uranbrennstoff und moderne AtomTechnik angeboten (Januar 2006).
Australien und China haben Uranabkommen vereinbart (April 2006). Damit kann China seinen enormen Energiebedarf in Zukunft mit vielen neuen Atomkraftwerken befriedigen.
Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und ihr Direktor Mohammed al-Baradei haben 2005 zu
gleichen Teilen den FriedensNobelPreis erhalten.
Die internationale Atomenergiebehörde kann als Tarnorganisation der
Nuklearindustrie bezeichnet werden. Denn deren Ziel ist es nach ihren eigenen
Statuten: »Die Agentur strebt danach, den Beitrag der Atomenergie zu Frieden,
Gesundheit und Wohlstand auf der ganzen Welt zu forcieren und zu verbreitern«.
In einer Presseerklärung vom Nov. 2005 erklärte der Präsident der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft (DPG) Urban, daß die Atomenergie auf absehbare Zeit unverzichtbar sei.
“Die Kernkraftwerke sollten solange weiterlaufen, bis genug andere
Energiequellen ohne Treibhaus-Emissionen zur Verfügung stehen. Unter dem Gebot
des Klimaschutzes führt daran kein Weg vorbei.“
(Die DPG ist die älteste und mit rund 50.000 Mitgliedern größte physikalische
Fachgesellschaft weltweit.)
In der Abschlusserklärung des ersten G8-Energietreffens in Moskau heisst es: Ein „grossangelegter“ Ausbau der Kernkraft könne zur Sicherung der Energieversorgung beitragen. (www.russland.ru/G8; Russland, RU, die Internet Zeitung.)
usw., usw.
Das alles macht deutlich,
wohin die Reise gehen soll!
Wenn viele Menschen jetzt
denken, das Thema Atomenergie habe sich zumindest in der BRD erledigt, die Zeit
werde die anstehenden Fragen automatisch lösen, so ist das ein gefährlicher
Trugschluß, der gerade auch durch den Konsensvertag suggeriert werden sollte.
Und verlieren wir nicht aus den
Augen, daß die sogenannte friedliche Nutzung der Atomkraft immer eng
zusammenhängt mit der Möglichkeit ihrer militärischen Nutzung.
Die weltweiten Diskussionen
in jüngster Zeit zeigen, daß daran das Interesse wieder besonders ausgeprägt
ist.
Ein Beispiel ist die vor
kurzem in Diskussion gestellte Verteidigungsdoktrin der USA, die auch
präventive Atomangriffe gegen feindliche Staaten und gegen sogenannte
Extremistengruppen vorschlägt.
Das, und auch die letzten
Kriege (Jugoslawien, Afghanistan, Irak) zeigen, wieweit Krieg - und in Zukunft
auch der Einsatz von Atomwaffen - als Mittel der Politik wieder
gesellschaftsfähig geworden sind.
Sicher ist es unbedingt erstrebenswert, die Atomenergie durch erneuerbare Energie zu ersetzen.
Aber es genügt nicht nur das
Produkt zu kritisieren, ohne die Produktionsverhältnisse in die Kritik mit
einzubeziehen.
Die Atomkraft ist kein
Auswuchs, ist kein Fehler dieser herrschenden Verhältnisse, sondern Symptom,
konsequenter Ausdruck einer Gesellschaft, in der nicht der Mensch im
Mittelpunkt von Denken und Handeln steht, sondern die ökonomische Rationalität,
oder anders gesagt: Wachtum und Profit.
So sichern sich die starken
Industrienationen die Verfügbarkeit der kapitalintensiven, hochkomplexen
Technologie, auch die Möglichkeit der militärischen Nutzung und halten damit
andere Länder abhängig und unter Kontrolle.
Diese Potentiale sind in Anlagen für erneuerbarer Energie nicht enthalten. Deshalb besteht daran bei den großen Konzernen und der politischen Nomenklatura auch so wenig Interesse.
Zum anderen ist aber auch das
„Erneuerbare EnergieGesetz“ ein Produkt der Liberalisierung und der
Globalisierung des Energiemarktes, d.h. der Privatisierung und Deregulierung
der Energieproduktion. Auch mit erneuerbarer Energie ist die Energieproduktion
weitgehend jeder demokratischen Kontrolle entzogen. Der Markt bestimmt wo`s
lang geht. Und auch die erneuerbare Energie wird sich dieser Gesetzmäßigkeit -
der kapitalistischen Verwertungslogik - nicht entziehen können.
So genügt es eben nicht, die Forderungen nach erneuerbare Energien auf den ökologischen Aspekt zu begrenzen:
so, wenn z.B. die Grünen den Krieg in Jugoslawien befürworten, ihre Zustimmung aber von ökologischen
Bedingungen abhängig machen würden. Was im Rahmen der Grünen-Poltik durchaus denkbar und konsequent wäre.
Das würde dann z.B. heißen, Krieg ja, aber nur mit
- recyclebaren Leichensäcken,
- dem 3-Liter Panzer,
- und solar-betriebene Raketen.
oder wenn die Heeressprecherin der US-Streitkräfte Karen Baker mitteilte, daß künftig die Gewehrkugeln statt Blei das weniger giftige Wolfram enthalten sollen. “Wir wollen gut mit der Umwelt umgehen!“, sagte sie dazu (TAZ 23.07.96).
oder wenn die erneuerbare
EnergieIndustrie wirbt:
“investieren Sie Ihr Geld gewinnbringend in die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts:
in Aktien der Unternehmen für Energie aus Sonne, Wind, Wasser und
Brennstoffzellen. Investieren Sie in die Zukunft!“
oder wenn auch die Neonazis auf einer Demonstration gegen den CASTOR „Einstellung aller Atomanlagen“ fordern - aus der Befürchtung heraus, daß radioaktive Strahlung das „deutsche“ Erbgut gefährdet.
·
Es geht also nicht nur darum,
gegen die Symptome zu kämpfen - mehr Sicherheit im Kapitalismus einzufordern
-, sondern sich für eine Gesellschaft einzusetzen, in der die Ursachen für
Symptome gar nicht mehr vorkommen, gar nicht mehr denkbar sind.
Sonst können wir ein Leben
lang an den Symptomen herumhandwerkeln ohne je grundsätzlich einen Schritt
vorwärts zu kommen - einen Schritt in Richtung einer humanen, solidarischen,
herrschaftsfreien Gesellschaft.
»Will man den riesigen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung richtig ermessen, muß man sich vor Augen führen, daß laut eines Planungspapiers aus der Atomforschungsanlage Jülich 5 für die BRD nicht weniger als 598 AKWs und mehrere Wiederaufarbeitunganlagen geplant waren. Diese Zahl trifft nicht etwa mögliche alternative Standorte, wie vielleicht vermutet wird, sondern da die Gesamt- Leistung mit fast 1.000 GW angegeben wird, sollten sie einmal alle gleichzeitig laufen. Dagegen wurden gerade 20 durchgesetzt. Natürlich sind das 20 zuviel, wegen der Gesundheitsschäden im Normalbetrieb und der so ungeheuer verharmlosten Unfallgefahr, aber dennoch! (Jens Scheer)«
Seit dem 22. Feb. 1977, als
Ernst Albrecht - der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen - Gorleben
als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum benannte - das ist jetzt über
29 Jahre her - haben sich unzählige Menschen mit unzähligen Aktionen gegen
diese Pläne gestellt.
Die Umsetzung von großen
Teilen dieser Pläne haben wir verhindert - aber das Endlager steht immer noch
auf der Tagesordnung und die CASTOR-Transporte laufen nach wie vor und 17 AKW
sind zur Zeit noch in Betrieb.
Hat unser Widerstand an
Wirkung nachgelassen, hat er sich ritualisiert, ist er in seinen Formen
erstarrt? Same procedure as every year? Wie
viele, gerade auch aus dem linksradikalen Spektrum sagen.
Zu dieser Einstellung kannst
du leicht kommen, wenn du den Erfolg unseres Widerstandes alleine daran
festmachst, ob es uns gelingt, z.B. den CASTOR aufzuhalten und
zurückzuschicken. Sicher wäre das wunderbar und wir würden uns alle darüber
freuen, denn das würde eindrucksvoll sichtbar machen, daß wir das gesamte
Betriebssystem der Atomanlagen solange stören werden, solange nicht alle AKWs
endgültig abgeschaltet sind.
Aber erfolgreich ist unser
Widerstand hauptsächlich dann, wenn es uns gelingt, unsere „Kommunikation“
untereinander weiter zu entwickeln. Und „Kommunikation“ meint hier, gemeinsame,
solidarische Auseinandersetzung, gegenseitige Kritik, gemeinsames Handeln und
gemeinsame Entwicklung und selbstverwaltete soziale Orte, gemeinsames Leben.
So gesehen kann „Kommunikation“ nur in herrschaftsfreien/hierarchifreien
Räumen stattfinden. Das werden wir wohl endgültig nie erreichen, aber darum
sollten wir uns ständig bemühen.
Und erfolgreich wird unser
Widerstand auch sein, wenn es uns gelingt, immer mehr Menschen dazu zu
gewinnen, den politisch und ökonomisch Mächtigen und ihren Vollzugsorganen
gegenüber ihre Loyalität zu verweigern.
In diesem Sinne bedeutet
Kommunikation subversives Leben und Sabotage an den herrschenden
Verhältnissen.
Unser Kampf richtet sich
nicht nur gegen eine menschenfeindliche Technologie, gegen ein Produkt wie
Atombombe und Atomkraftwerk und alles was dazugehört, sondern gegen die Verhältnisse,
gegen die Produktionsverhältnisse, die diese Technologie erst ermöglichen.
So verstehe ich auch die
Parolen auf den Transparenten hier vorne, wenn es da heißt:
„sofortige Stillegung
aller Atomanlagen und der herrschenden Klasse, weltweit!“ und
„die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert - es kommt darauf an, sie zu verändern (Karl Marx)“
Konkret heißt das:
es gibt keine andere Lösung ausser:
sofortige Beendigung der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft - hier und auch anderswo!
Verstärkter Einstieg in eine sichere und umweltfreundliche zukunftsfähige Energiepolitik:
In diesem Sinne kann Stromversorgung nur durch den Ausbau erneuerbarer Energie,
durch mehr Energieeffizienz, Energieeinsparung und Dezentalität der Energieproduktion erfolgen.
Ein kleiner individueller Beitrag in diese Richtung kann „Stromwechsel jetzt“ bedeuten.
Aber - diese Forderungen sind letztendlich nur dann emanzipatorisch wenn sie eingebettet sind in die Forderung nach Vergesellschaftung von Energie - wenn Energie nicht mehr als Ware gehandelt wird, sondern wenn Energie als Menschenrecht allen Menschen auf dieser Welt frei zugängig ist. Genauso wie für Wasser, Luft, Bildung, Kultur, GesundheitsVersorgung, Kommunikation und Mobilität, bedingungsloses Existenzrecht (Grundeinkommen), usw.
Für unseren Widerstand
bedeutet das, auch den Kampf aufzunehmen gegen Neoliberalismus (Deregulierung
und Privatisierung) und gegen kapitalistische Globalisierung des
Energiemarktes.
Dieser Kampf braucht einen langen Atem und er wird endgültig nie zuende sein. Er wird aus vielen kleinen Schritten an vielen unterschiedlichen politischen Orten bestehen.
Der Widerstand gegen die
Atomkraft ist so ein kleiner Schritt - wir müssen nur immer wieder darauf
achten, daß wir die Richtung, um die es geht, nicht aus den Augen verlieren.
Atomenergie ist schon lange kein regionales und auch kein nationales Problem mehr. Die durch die Liberalisierung und Globalisierung des Kapitalismus ermöglichten Fusionierungen zu weltweiten Konzernen haben bisher zu nicht dagewesenen privaten Machtkonzentrationen geführt, die sich weitgehend auch jeder staatlichen und demokratischen Kontolle und Regulierung entziehen. In der BRD gibt es noch 4 große Energieversorgungsunternehmen (RWE, E.ON, EnBW, Vattenfall), die aber auch schon europaweit und weltweit eine wichtige Rolle spielen, auch in den Bereichen Gas, Wasser, Öl, Abfall und Dienstleistung.
Wir haben längst erfahren,
daß der Kampf um eine menschenwürdige Gesellschaft - und darin ist der Kampf
gegen Atomkraft einzuordnen - nicht nur eine Frage der „Vernunft“ und der „wissenschaftlichen
Argumente“ ist, sondern immmer auch eine Frage der praktischen Überzeugungsarbeit.
Praktische Überzeugungsarbeit läuft über politischen Druck und politischer
Druck läuft über praktischen Widerstand.
Und das hat immer schon die
Stärke der Anti-AKW-Bewegung ausgemacht. Dazu hat aber auch beigetragen, daß
wir uns über die unterschiedlichen politischen Differenzen und unterschiedlichen
Widerstandsformen stets auseinandergesetz haben und uns darüber nicht haben
spalten lassen.
Wir sind den herrschenden
Verhältnissen gegenüber nicht kompromissbereit/nicht dialogbereit und wir
lassen uns in diese nicht integrieren - wir wollen ein anderes Leben, wir
wollen eine anderer Welt!
Und wenn wir heute an
Tschernobyl erinnern, dann nicht nur , um nach hinten zu blicken und der Opfer
zu gedenken, sondern auch, um die historischen Erfahrungen zu nutzen, Einfluß
auf die Gestaltung unserer Zukunft zu nehmen.
für ein solidarisches und herrschaftsfreies Zusammenleben aller Menschen auf dieser Welt!
Quellennachweis:
Ekkehard Sieker (Hg.), »Tschernobyl und die Folgen. Fakten, Analysen, Ratschläge.«, Lamuv Verlag, Juni 1986.
Oda Becker, Helmut Hirsch, »18 Jahre nach Tschernobyl, Sanierung des Sarkophags - Wettlauf mit der Zeit«, Greenpeace, Hannover, April 2004.
Fritz Storim, »Zur Philosophie der Neuen Weltordnung und zur Utopie von „Solidarität“, „Kommunikation“ und „Befreiung“«, in »Alle reden vom Wetter - wir nicht! Beiträge zur Förderung der kritischen Vernunftl, Westfälisches Dampfboot, Münster 2005.
Rolf Bertram, »Der Super-GAU von Tschernobyl - grenzenlose Folgen gestern, heute und morgen.«, Vortrag in der Universität Göttingen zum Tschernobyl-Tag, 26. April 2005.
Rolf Bertram, »Renaissance der Atomernergie?«, Vortrag anlässlich der „2. Offenen Universität“ in Gelsenkirchen, am 05.10.2005.
Edmund Lengfelder, Christine Frenzel, »20 Jahre nach Tschernobyl: Erfahrungen und Lehren aus der Reaktorkatastrophe«, Otto HUG Strahleninstitut - MHM, Informationen, Ausgabe Februar 2006.
Antje Hilliges, Irina Wachidowa, »Der Tag an dem die Wolke kam. Wie wir Tschernobyl überlebten.«, Wilhelm Heyne Verlag, München, März 2006.
Gesellschaft für Strahlenschutz, Einladung zum Internationalen Kongreß »20 Jahre nach Tschernobyl, Erfahrungen und Leben für die Zukunft«, 3. - 5. April 2006, Berlin.
Rolf Bertram, »Zu den verhängnisvollen Konsequenzen durch die Verwechslung von Modell und Wirklichkeit. Die Grenzwertideologie dicht ionisierender Strahlung ist fehlerhaft und irreführend.«, Internationaler Kongreß, Gesellschaft für Strahlenschutz, „20 Jahre nach Tschernobyl“, 3. - 5. April 2006, Berlin.
Fritz Storim, März 2006.
[1] Ein Super-GAU (Größter Anzunehmender Unfall) ist nach Definition der Atomkraftwerk-Betreiber ein solcher Unfall, der vom Reaktor und seinen TechnikerInnen nicht mehr beherrscht wird.
Nach der BRD-Sicherheitsudie von 1979 ist alle 10.000 Reaktorjahre ein KernschmelzUnfall mit radioaktiver Belastung der Umwelt zu erwarten. Darüber hinaus, so die Studie, kommt es nur alle Millionen Reaktorjahre zu einem Kernschmelzunfall mit mehreren akuten Strahlenopfern und Todesfällen.
Auch in der Sowjetuniun erklärte noch im Februar 1986 der Vorsitzende des Staatlichen Komitees zur Nutzung der Atomenergie A. Petrosjanz: »Atomkraftwerke sind weniger gefährlich als Kohlekraftwerke. Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe in einem Atomkraftwerk liegt bei einer Größenordnung von Eins zu einer Million im Jahr.«
[2] 1971 war mit dem Bau des Atomkraftwerks bei Tschernobyl begonnen worden, dessen vier Reaktoren zwischen 1977 und 1983 nacheinander in Betrieb genommen wurden. Acht Reaktoren waren geplant. Nr. 5 und 6 befanden sich gerade im Bau. Die Anlage galt als die modernste und sicherste der Sowjetunion.
Vor der Katastrophe lebten in Prypjat 48.000 Menschen. Die meisten arbeiteten in der vier Kilometer entfernten Atomanlage. Am 28. April 1986, 36 Stunden nach der Katastrophe, wurde die gesamte Stadt evakuiert. Auf Grund der Strahlung wird die Stadt für viele Generationen unbewohnbar bleiben.
[3] Am 29. September 1957 wurde im Ural in der Nähe des Ortes Kyshtym (1200 km östlich von Moskau) durch einen Unfall im Chemiekombinat Majak (Wiederauarbeitungsanlage zu Plutonium-Gewinnung für den Bau von Atomwaffen, Lager für radioaktive Abfälle, mehrere Atomreaktoren) wahrscheinlich eine noch größere Menge Radionuklide in die Umwelt freigesetzt als bei der Katastrophe von Tschernobyl. Doch erst im Juli 1989 - mit 32 Jahren Verspätung - informierte das in der Sowjetunion nach dem Unglück von Tschernobyl neu geschaffene Ministerium für Atomenergie die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) über das Unglück.
Es scheint so zu sein, daß die radioaktiven Nuklide bei diesem Unglück nur in einem vergleichsweise begrenzten Gebiet verteilt worden sind. Nach einem Gutachten der UN ist dies der Ort mit der größten radioaktiven Kontaminierung auf der Erde. Der gesamte Fallout blieb wahrscheinlich auf den Ural begrenzt Die freigesetzte Strahlung, die mit dem zwei- bis sechsfachen der Tschernobyl-Katastrophe angegeben wird, zog etwa 270.000 Menschen in Mitleidenschaft - teilweise wurden Menschen erst anderthalb Jahre nach dem Unglück umgesiedelt.
Seit Sommer 2003 - nachdem ein Gesetz der Duma seit 2001 den Import radioaktiven Abfalls gestattet - werden verbrauchte Brennstäbe aus Ungarn, aus Bulgarien oder der Ukraine in Majak gelagert. Auch andere Staaten wie Japan, Südkorea, Spanien oder die Schweiz haben daran ihr Interesse bekundet.
[4] 160.000 Kinder waren einer sehr hohenStrahlung ausgesetzt. Immer mehr Menschen erkranken an den Strahlenkrankheiten Leukämie, Schilddrüsenkrebs, anderen Krebsarten und strahlenbedingter Immunschwäche und genetische Schäden. Starke Zunahme von Pathologien, die mit der Fortpflanzung der Menschen zusammenhängen wurde beobachtet.
Die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen (Perinatalsteblichkeit), Totgeburten und Fehlbildungen ist selbst in moderat belasteten Regionen (wie Deutschand) angestiegen.
Von allen Kindern aus dem Oblast Gomel (Weißrussland), die zum Zeitpunkt der Katastrophe zwischen 0 und 4 Jahren alt waren, werden ein Drittel im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken, d.h. allein in dieser Region sind das mehr als 50.000 Menschen.
Erweitert man diese Prognose auf alle Altersgruppen der zum Zeitpunkt der Katastrophe lebenden Personen im Gebiet Gomel, dann sind allein dort weit über 100.000 Schilddrüsenkrebsfälle in der Folgezeit zu erwarten.
Es gibt so gut wie keine staatliche Unterstützung für die Opfer - das Gesundheitssystem ist völlig überfordert.
[5] Studie 1220 - Juli 1975, Kernforschungsanlage Jülich - im Auftrag des Bundesinnenministeriums und Entwicklungsplan „Kraftwerkstandorte“ Baden-Würtemberg.