die Definitions-Macht und die Gutmenschen
sie halten sich alle für gute Menschen, die nur eins wollen: "Leid" abschaffen oder gar dafür sorgen, dass "Leid" erst gar nicht entsteht!


Zwischen dem 15. und 17. September veranstalteten die Bundeszentrale [ 1 ] und Landeszentrale für politische Bildung in Bremen einen GenTechnologie-/ReproduktionsTechnologie-Kongreß "Gute Gene - Schlechte Gene?".
Es waren "hochkarätige" VertreterInnen zu Fragen dieser Bereiche als ReferentInnen geladen - aus China, Zypern, Norwegen, Deutschland, England, Österreich, Schweiz, Estland, Kanada, Neuseeland, Israel, USA... . Sie arbeiten an Universitäten, in der Industrie, in der Kirche, in humangenetischen Beratungsstellen, in der Politik (z.B. als Mitglied des Deutschen Bundestages), in Reproduktionszentren, in der Erwachsenenbildung, als JuristInnen (z.B. als PatentanwältInnen oder RichterInnen), als ÄrztInnen, als PsychotherapeutInnen, als EthikerInnen, als PhilosophInnen, als SozialwissenschaftlerInnen, als JournalistInnen, ... .
Sie sind Miglieder der WeltgesundheitsOganisation, der Europäischen Kommission, des Internationalen BioethikAusschusses der UNESCO, der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages usw.
Und zur Anwesenheit war die breite Öffentlichkeit eingeladen. Erstaunlich war, dass trotz des brisanten und hoch aktuellen Themas die Resonanz verhältnismäßig bescheiden war.

Geballtes Wissen, geballte Erfahrung waren da versammelt, und vor allem auch Definitions- und EntscheidungsMacht. Eins schien sie alle zu vereinen:
sie halten sich alle für gute Menschen, die nur eins wollen: "Leid" abschaffen oder dafür sorgen, dass "Leid" erst gar nicht entsteht!

Der Konsens war selbstverständlich-unhinterfragbar: So wurde tatsächlich auch von "Qualitätssicherung" der Bevölkerung gesprochen, von eugenischer Verbesserung der Gattung, Menschen mit Abweichungen von der herrschenden Norm (Menschen mit "Behinderungen") wurden als krank, als fehlerhaft bezeichnet.
Kinder mit "Normabweichungen" müssen dann nicht mehr sein, denn sie können ja verhindert werden. Wenn eine Wahl möglich ist, weshalb sollte dann darauf verzichtet werden?! Ja, ist es dann noch überhaupt zu verantworten, solches Leben in die Welt zu setzen!?

Durch die Darstellung von wissenschaftlichen Details und durch die Bezugnahme auf besonders dramatische Einzelschicksale konnten immer wieder viele ursächliche Fragen ausgeklammert werden.
Wer die Definitions-Macht hat, braucht nicht einmal mehr Intelligenz zu entwickeln, um seinen Standpunkt zu vermitteln/zu rechtfertigen/nachvollziehbar zu machen - macht sich so unangreifbar, braucht sich der Auseinandersetzung nicht zu stellen.
So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass dieser Kongreß keinen Raum für kontroverse Diskussion einräumte und kritische Stimmen, sehr verhalten und moderat, die Oberfläche des herrschenden Konsens kaum bewegten.


Die herrschende Sichtweise/Ideologie/Haltung verschleiert die eigentlichen Beweggründe, die Triebmomente, die wahren Interessen (woher kommt das Geld?), die hinter der Gen- und ReproduktionsTechnologie stecken - und hierüber wurde dann auch so gut wie gar nicht gesprochen.
Unabhängig von der individuellen moralischen und ethischen Vorstellung des Wissenschaftlers/der Wissenschaftlerin geht es vordringlich nicht um Einzelschicksale, um Krankheiten zu heilen usw., sondern:
Leistungsfähig, effizient und nützlich im Interesse von Kapitalakkumulation in einer warenproduzierenden neoliberalen globalisierten Gesellschaft.
U.a. definieren sich darüber auch Begriffe wie "Krankheit", "Leid", "Qualität", "Menschenwürde".


Das Prinzip der ökonomischen Rationalität/der ökonomischen Nützlichkeit verdrängt das Prinzip der sozialen Verantwortung/der Solidarität; es durchdringt alle gesellschaftlichen und privaten Bereiche. [ 2 ]
Alles, was der Norm nicht entspricht, wird tendenziell aussortiert/selektiert und liquidiert: als Eizelle, als Embryo, pränatal oder vielleicht auch demnächst verstärkt postnatal (aber da gibt es ja inzwischen Selektions-Methoden, die ganz am Anfang des menschlichen Entstehungsprozesses ansetzen.) oder auch prämortal (z.B. "sozialverträgliches", "humanes" Ableben).
Dazu dienen diese Technologien ebenso, wie ganz aktuell das, was jetzt unter Sozialreformen läuft und was in Wirklichkeit massiven Sozialabbau und soziale Selektion bedeutet.

Und das Argument, "wir leben in einer Demokratie, und da können die Eltern ja frei und selbstbestimmt entscheiden, und niemand wird zu etwas gezwungen", ist reiner Zynismus und Verschleierungstaktik in einer Gesellschaft, in der Menschen mit "Normabweichungen" immer stärker diskriminiert werden, und Frauen oder Eltern, die die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin nicht nutzen, verstärkt sozialem Druck ausgesetzt sind und individuell für ihr "Schicksal" verantwortlich gemacht werden. Wie lange werden die Krankenkassen und Sozialkassen noch bereit sein, sich im Falle von "Normabweichungen" an den Kosten zu beteiligen?
Und wie kann von einer "freien Entscheidung" gesprochen werden, ohne zu berücksichtigen, inwieweit Begriffe, Denkstrukturen, Werte, Erkenntnisse, Sichtweisen von den herrschenden Verhältnissen geprägt werden, ohne zu berücksichtigen, dass die herrschenden Gedanken immer auch die Gedanken der herrschenden Verhältnisse sind, dass herrschende Wissenschaft immer auch Wissenschaft der Herrschenden ist.
Und das auch in Anbetracht der Tatsache, dass gerade auch dieser Kongreß sicher mit der Absicht veranstaltet wurde, public consens für Gen- und Reproduktionstechnologien und der damit verbundenen Ideologien zu schaffen.

Fragen, die GenTechnologie und ReproduktionsTechnologie aufwerfen, lassen sich nicht aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen heraus, aus dem was machbar ist, beantworten, sondern nur aus dem gesamtgesellschaftlichen Kontext und nur aus der Auseinandersetzung um eine gesellschaftliche Utopie: »Wo sehe ich Widersprüch zu den bestehenden herrschenden Verhältnissen? In welcher Gesellschaft will ich leben? Was muß ich tun, um dahin zu kommen?«
Wer Herrschaftsfreiheit, Solidarität und Kommunikation (als gleichberechtigten Austausch und gemeinsame Entwicklung) anstrebt, wer Selbstbestimmung und Kollektivität als zwei Seiten einer Medaille begreift, der/die kann nicht über Normierung, Kategorisierung, Selektion und Vernichtung von Menschen, über "lebenswert" und "lebensunwert", über "Qualität" von Mensch und Gesellschaft diskutieren.

Aber auch eine Gesellschaft, in der die ökonomische Rationalität Triebfeder jeglicher Entwicklung ist, wird ihre eigenen Werte, Begriffe, Denkstrukturen, ihre eigene Wissenschaft und eigene Technologien, ihre eigene Utopie entwickeln und diese als objektiv und wertfrei, als unschuldig suggerieren - eine Objektivität, die die subjektive Absicht, die dahinter steckt verschleiert (hierzu siehe auch Alfred Sohn-Rethel, Jens Scheer).
Das hat der Kongreß noch einmal deutlich gemacht - die Frage ist, wen das so erreicht hat!


Wo war eigentlich die Linke, wo war die Krüppelbewegung, wo die Frauenbewegung, die sich noch vor wenigen Jahren in diese Diskussion so vehement eingemischt haben?
Welchen Sinn hat es, sich individuell überhaupt noch zu äußern? Wo jede Teilnahme, ja selbst jede Anwesenheit immer auch Kooperation bedeutet und als alternative Kompetenz/Profilierung integriert wird/sich selbst integriert. Und die KritikerInnen bestenfalls als tragische Gestalten, am Rande eines scheinbar unaufhaltsamen main-streams, ein exotisches - individuell vielleicht sogar befriedigendes, aber gesellschaftlich vollkommen wirkungsloses - Dasein "genießen".
»Der Glaube an den "herrschaftsfreien Dialog" ist eine Fiktion. Eine "kleine" Ungleichgewichtigkeit wird hier ausgeblendet: Wenn die eine Seite, die den Hebeln der Macht sowieso schon nahe ist, sich durchsetzt, kann das tödliche Konsequenzen für die andere Seite haben, mit der - oder über die - jetzt noch friedlich diskutiert werden soll. Diese "Toleranz" wird nicht zum solidarischen Umgang der Menschen miteinander, nicht für das Ziel einer humanen Gesellschaft eingesetzt. Sie dient einzig dem Schutz der herrschenden Ideologie vor unbotmäßiger Kritik.« [ 3 ]


Fritz Storim, September 2003.
(Label: F. St., Gen/Repro, DateiName: GenHB0903,überarbeitet: 08.10.03)



[ 1 ] s. www.bpb.de (in das Suchfeld "gute Gene" eingeben), www.lzpb-Bremen.de


[ 2 ] Fritz Storim, »Zur Philosophie der "Neuen Weltordnung" und zur Utopie von Solidarität, Kommunikation und Befreiung«, www.MAUS-Bremen.de (Text-Archiv), 2003.

[ 3 ] nach: E.coli-bri, »unser aller Lebensrecht ist nicht diskutierbar«, Nr. 7, Hamburg, Juni 1991, aus: Fritz Storim, »Zur Pressemitteilung der OrganisatorInnen des Kongresses zur Ausladung von Peter Singer, vom 30. März 96«, »Normierung, Selektion, Vernichtung im Namen gesellschaftlicher "Zwangsläufigkeit" und "Wissenschaftlichkeit"!«, April 96, www.MAUS-Bremen.de (Textarchiv).
(Vom 1. bis 5. Mai 1996 fand der Kongreß "Science/Fiction, Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie" in Heidelberg statt. Als Redner war auch der Moralphilosoph Peter Singer geladen. Der Auftritt von Peter Singer wurde von Menschen aus der Krüppelbewegung, AntiEugenik-Bewegung, Autonomen-Bewegung, Anti-Fa-Bewegung usw. verhindert. Daran knüpfte sich eine offensive und öffentliche Diskussion über "Meinungsfreiheit", "Zensur", "Redefreiheit Andersdenkender" und "Freiheit der Wissenschaft" an.)