Betrifft:
Science/Fiction:
»
Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie«,
Internationaler
Kongreß, 1.-5. Mai 1996, in Heidelberg.
Veranstalterin:
Internationale Gesellschaft für systemische Therapie (IGST)
Vom 1. bis 5. Mai soll in Heidelberg der internationale Kongreß "Science/Fiction - Fundamentalismus und Beliebigkeit in Wissenschaft und Therapie" stattfinden. Aufsehen erregt hat die Ein- und die, auf öffentlichen Druck erfolgte, spätere Ausladung des Moralphilosophen Peter Singer, der mit seinen Vorstellungen zur Bevölkerungspolitik und zur Rationalität und Logik, aus denen er heraus seine Ethik begründet, berüchtigt ist. Aber Peter Singer ist nur ein Symbol für eine Diskussion, die auch ohne ihn mit diesem Kongreß geplant ist. Deshalb rufen unterschiedlichsten Gruppen dazu auf, diesen Kongreß zu verhindern.
Normierung, Selektion, Vernichtung im Namen gesellschaftlicher "Zwangsläufigkeit" und Wissenschaftlichkeit!
Vorweg - und viele VertreterInnen der Scientific Community werden sich darin wiederfinden - vier Zitate:
» Kann die
Gegenaufklärung in unserem Land ein Redeverbot für einen
international renommierten Wissenschaftler erzwingen?
Als wissenschaftlicher
Diskussionspartner Herrn Professor Singers zu dem Heidelberger
Kongreß eingeladen, freue ich mich auf den Meinungsaustausch
mit dem geschätzten Kollegen. Seine höchst anregenden
Thesen könnten dazu beitragen, endlich auch in Deutschland
eine tabufreie Debatte über die erforderliche Reform des
Sterbehilferechts in Gang zu bringen.
Die Freiheit der
Meinungsäußerung ist kein Privileg fundamentalistischer
Eiferer.
Prof. Dr.-Dr. Norbert
Hoerster, Universität Mainz «
(Leserbrief in der
Frankfurter Rundschau vom Montag, den 11.03.96)
» ...
1. Ich kenne die Arbeiten
von Peter Singer nicht, habe nur in der Presse von der Kontroverse
gelesen.
2. Ich werde mich an dem
Kongreß als Referentin beteiligen.
...
Ich sehe in der Einladung
von Herrn Singer durch die Heidelberger Kollegen einen Versuch, einen
solchen liberalen Umgang mit anderen Sichtweisen zu ermöglichen.
Die Nicht-Selbstverständlichkeit über manche Dinge zu
sprechen, führt nämlich m.E. dazu, daß diese Themen
nicht diskutierbar sind und zu einer Nicht-Kultur der
Auseinandersetzung - die offensichtlich in anderen Ländern
selbstverständlich ist. Was ist mit uns los, daß wir
sofort Negatives vermuten und daß die Dinge im Faschismus
münden. Wir sind wachsamer in dieser Richtung aufgrund unserer
Geschichte und das ist richtig so. Aber wie wäre es mit ein
wenig mehr Selbstvertrauen in unser Land und auf unsere immerhin
in 50 Jahren gewachsenen demokratischen Stukturen? «
(Aus einem Brief von Dr.
Marie-Luise Conen, Berlin, 9.3.1996, an die AG Stoppt die
Euthanasie-Debatte/Universität Bremen.)
»...
Langfristig glauben wir, sind Behinderte in einer Gesellschaft ohne
geschützte Meinungsfreiheit gefährdeter als in einer
Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit unabhängig von den
Inhalten als hoher Wert betrachtet wird. Wo dieses Recht beschnitten
wird, muß das Verfahren rechtsstaatlich geregelt sein. Soviel
persönliche Sympathie wir für empörte Vertreter von
Behindertenverbänden haben; keiner Interessengruppe sollte das
Recht zugebilligt werden, über die Redefreiheit
Andersdenkender zu entscheiden. Das wäre eine Form der
Diskriminierung, deren Vorzeichen sich nur zu leicht umkehren ließe.
...«
(Dr. Fritz Simon,
Mitglied der wissenschaftlichen Planung und Leitung des Kongresses,
aus einem Brief an den Behindertenbeauftragten des Landes
Niedersachsen vom 21.3.96)
» Höhn:
"Ich habe ja Ende der sechziger Jahre studiert, und ein bißchen
kritischer, wie gesagt, war man da schon. Und wir sind auch selber
hier in der Schule ja schon zu einer kritischen Generation gerade im
Umgang mit dem Nationalsozialismus erzogen worden. Insofern war für
mich eine Offenbarung, was Mackenroth (Kieler Sozialwissenschaftler,
gest. 1955 - Anm. d. Verf.) geschrieben hat. Das waren doch nun
wirklich keine ausgetretenen Spuren."
Frage: "Nein,
sicher nicht. Nur was er schreibt über Selektion und die
Vorstellung von Eugenik und daß es doch Höherwertiges
gibt u.s.w. Und auch zwischen den Vökern entsprechende
Unterschiede..."
Höhn: "Es
ist leider nachweisbar. Ich weiß zwar, daß man das
heutzutage nicht mehr sagen darf. Das ist eigentlich sehr schade."
Frage: "Was
ist nachweisbar?"
Höhn: "Daß
es zum Beispiel Unterschiede in der Intelligenzverteilung gibt. Das
kann man vielleicht ohne das Wort höher- oder niederwertig
verbreiten, aber selbst das darf man ja heute nicht mehr. Was ich mit
einem gewissen Bekümmernis nicht nur hierzulande, sondern
noch viel stärker in den USA beobachte, ist diese Art von
Denkverboten, die überall verteilt werden. Das ist
unwissenschaftlich, entschuldigen Sie."
Frage: "Was
meinen Sie mit Denkverboten?"
Höhn: "Zum
Beispiel, daß man sagt, daß die durchschnittliche
Intelligenz der Afrikaner niedriger ist als die anderer. Selbst
das Wort Rasse darf man ja nicht mehr in den Mund nehmen. Aber
es gibt halt bestimmte Gruppen, nicht wahr? Sie können das
untersuchen, und das sind vielleicht andere Begabungen, das mag ja
sein. Aber auf diesem Sektor werden zunehmend Denkverbote aufgebaut.
Da gibt es soviele Beispiele auf diesem Sektor, und ich weiß
nicht, wo das mal hinführen wird. Für mich ist Toleranz ein
hoher Wert und eben auch eine Freiheit des Denkens. Und wenn man das
als seine eigene Meinung darstellt, sofern man sie nicht in die Tat
umsetzt - Du liebe Güte! Wollen Sie wirklich soweit gehen,
anderen wieder, wie die katholische Kirche es tut, vorzuschreiben,
was sie gefälligst zu denken haben!"
Die Frage ist:
Geht es um Denkverbote oder um Rassismus? «
(aus: Stefan Geiger,
Stuttgarter Zeitung, 17. 9. 94)
Charlotte Höhn hatte zudem in diesem Gespräch im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen "Gesetz zu Verhütung erbkranken Nachwuchses" die Frage gestellt: "Ist es erstrebenswert, daß sich Menschen, die krank sind, vermehren? Ist das vielleicht gut?" (Die Welt, 10.9.94)
(Nach einer Tonbandabschrift eines Gesprächs zwischen der Bevölkerungswissenschaftlerin Dr. Charlotte Höhn, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden und der Historikerin Dr. Susanne Hein und der Autorin und Filmemacherin Ulrike Schaz.)
Charlotte Höhn ist
außerdem Präsidentin der Europäischen Gesellschaft
für Bevölkerungswissenschaft und war zweimal im
Vorstand der Internationalen Union für
Bevölkerungswissenschaft. Sie war auf der
Internationalen Konferenz für Bevölkerung und
Entwicklung in Kairo Sprecherin der deutschen Delegation zu den
Kapiteln 7 und 8 des Aktionsplans, die sich mit Familienplanung und
Abtreibung beschäftigten. Da die BRD derzeit die
EU-Präsidentschaft innehatte, sprach sie außerdem im Namen
der EuropäerInnen. (S.Z., 10.9.94)
Kurz vor der Konferenz
wurden die obigen Zitate veröffentlicht und führten dort zu
einem Skandal um die deutsche Delegation und, nach heftigen
öffentlichen Protesten, zur Suspendierung von Frau Höhn
durch den Innenminister Kanther.
Charlotte Höhn
führte zu ihrer Verteidigung in einer Erklärung u.a. aus,
es dürfe "nicht unstatthaft" sein, einen
"statistischen Nachweis von Intelligenzunterschieden bei
einzelnen Völkern" zu führen (TAZ, 10.9.94).
Die Gründungsgeneration
des Instituts waren fast alle Schreibtischtäter des NS-Regimes
und das Institut und Charlotte Höhn sorgten schon mehrmals für
öffentliche Aufmerksamkeit:
So schlug das Institut
zur Hebung der Geburtenrate in Deutschland u.a. vor, ausgewählte
Frauen zu Geburt von vier und mehr Kindern zu verpflichten und sie
als "Berufsmütter" in den Beamtenstand zu heben.
Charlotte Höhn
befand 1990 im Vorwort zu einer Bibliographie ihres Instituts, daß
die deutsche Bevölkerungswissenschaft in der Zeit zwischen
1933 und 1945 "eine ernst zu nehmende Wissenschaft"
gewesen sei, auch wegen der "erstaunlichen Kontinuität von
Fragestellungen, die zum Teil auch über 1945 hinaus
anhielten. (Berliner Ztg., 10.9.94)
Sie lobte die
Bibliographie als "dankenswertes Werk". Erst nach einer
Intervention der SPD-Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulman wurde es
eingestampft, Charlotte Höhn wurde mit Beförderungsstop
belegt (TAZ, 3.9.94).
Sicher alles Aussagen,
die nach dem eingeforderten Recht der "Freiheit der
Meinungsäußerung" durchaus zulässig sind,
die auch unter einem bestimmten Blickwinkel/einer bestimmten
Absicht wissenschaftlich belegbar, rational und vernünftig sind.
Es kommt eben auf die Absicht an, die hinter einer
(wissenschaftlichen) Fragestellung steckt - und die hat was mit dem
eigenen Menschenbild und der eigenen gesellschaftlichen Utopie zu
tun. Nach meinen Vorstellungen, und die halte ich auch für
rational, vernünftig und wissenschaftlich, sind die Äußerungen
von Charlotte Höhn menschenverachtend und -feindlich, deshalb
nicht diskutierbar und konsequent zu bekämpfen.
Diese Äußerung
von Charlotte Höhn, die sich ja gerade auf wissenschaftliche
Ergebnisse berief, wurde offiziell meist nicht aus inhaltlichen
Gründen verurteilt, sondern wegen taktischer Unklugheit,
unsensiblem Auftreten und wegen des Schadens, den das Ansehen
"Deutschlands" dadurch erleiden könnte.
»... Sie hat die
kurz aufgeflammte Empörung über rassistische Kontinuitäten
in der Bevölkerungswissenschaft ohne Karriereknick
überstanden. Heute stellt Charlotte Höhn - nach einer
kurzen Suspendierung im letzten Jahr längst wieder Dirktorin des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung - als Gasts
der deutschen UN-Vertretung in Bonn den diesjährigen
Weltbevölkerungsbericht vor. ...« (Susanne Schulz, Junge
Welt, Nr. 154, 11.7.95.)
Dies sind nur vier
Beispiele dafür, wie sich auf ein scheinbar wertfreies und
scheinbar unhinterfragbares Recht, der "Freiheit der
Meinungsäußerung", der "tabufreien Debatte",
der "Redefreiheit Andersdenkender", des "liberalen
Umgangs mit anderen Sichtweisen", des "Meinungspluralismus`"
oder der "Freiheit des Denkens" u.s.w. berufen wird und
dadurch die Frage nach den Absichten, die hinter der Einforderung
dieses "Rechts" stehen, nicht mehr gestellt/zugelassen
wird.
Die Empörung über
Zensur und Gewalt - »... Es habe "ausreichend
Hinweise" dafür gegeben, daß der Kongreß
"über legitime Proteste hinaus gewalttätig gestört"
werden sollte, ...« (Frankfurter Rundschau, 2.4.96) -,
gegen KritikerInnen des Kongresses, erscheint vorgetäuscht und
zynisch, in Anbetracht der Frage, wer den Hebeln der Macht sowieso
schon nahe ist und wer sich gegen die herrschenden Verhältnisse
bemühen muß, überhaupt erst einmal Gehör zu
verschaffen.
»Als die ersten
Kongresse und Seminare zum Thema "Bio-Ethik" gesprengt
wurden, ging ein Aufschrei durch die liberale Szene. Das wäre
gegen die Spielregeln der offenen Diskussion, die Freiheit der
Wissenschaft würde angegriffen, wo bliebe da die Toleranz.
Diese regelmäßig
eingeforderte "Toleranz" ist es wert, genauer untersucht zu
werden. Zuerst einmal wird hier von der Fiktion eines
herrschaftsfreien Dialogs zwischen Opfern und Tätern
ausgegangen. Eine kleine Ungleichgewichtigkeit wird dabei
ausgeblendet: Wenn die eine Seite, die den Hebeln der Macht sowieso
schon nahe ist, sich durchsetzt, kann das tödliche Konsequenzen
für die andere Seite haben, mit der - oder über die - jetzt
noch friedlich diskutiert werden soll. Diese Toleranz wird nicht
zum solidarischen Umgang der Menschen miteinander, nicht für
das Ziel einer humanen, gleichberechtigten Gesellschaft
eingefordert. Sie dient einzig dem Schutz der herrschenden
Ideologie vor unbotmäßiger Kritik. Das Einklagen von
Toleranz gegenüber Singer und seinen MitstreiterInnen hat nichts
mit der Freiheit aller Individuen zu tun, sondern ist nur ein Vehikel
zu Durchsetzung reaktionärer Politik.« (E.coli-bri,
">Bio-Ethik<, unser aller Lebensrecht ist nicht
diskutierbar", Nr. 7, Hamburg, Juni 1991)
»... Wir halten
daran fest, daß Meinung- und Redefreiheit ihre Grenzen hat,
nämlich da, wo andere Menschen durch die geäußerte
Meinung beleidigt, verletzt oder bedroht werden. Deshalb ist z.B. das
Verbreiten der sog. "Auschwitz-Lüge" strafbar, weil
damit die Opfer nachträglich verhöhnt werden. Eine
rationale Diskussion darüber, wie lebenswert das Leben
bestimmter Individuen ist, beleidigt und bedroht Menschen, die ihr
Lebensrecht nicht rational zur Debatte gestellt haben wollen. Man
kann über den Wert eines Menschenleben nicht verhandeln wie über
den Preis eines Keidungsstückes. Der Begriff Wert stammt aus der
Ökonomie und wer mit diesem Begriff Leben bemißt,
transportiert eine klare Botschaft an die, die sich unter dem
Kosten-Nutzen-Aspekt als teuer erweisen. Die Bioethik spricht von
"Freiheit der Wissenschaft" und meint den Freibrief zur
Tötung von behinderten Neugeborenen, chronisch Kranken und
alten Menschen. ...«
(Aus einem offenen Brief
an die VeranstalterInnen des Kongresses, Mannheim/Heidelberger
Aktionsgruppe, April 96.)
Zum eigenen Wissenschaftsbegriff
Es scheint durchaus nicht überflüssig zu sein - gerade weil es hier gegen Machtpolitik geht, letztendlich gegen die Durchsetzung eines bestimmten Menschenbildes und nicht um Naivität oder intellektueller Beschränktheit der Protagonisten des wertfreien Diskurses - auf den Wissenschaftsbegriff hinzuweisen, der dieser Kritik zugrunde liegt:
* Jede Frage, auch aus einem wissenschaftlichen/naturwissenschaftlichen Bereich, steht mit der Antwort in einem dialektischen Verhältnis, oder eine bestimmte Frage impliziert eine bestimmte Antwort, oder die Antwort kann nicht losgelöst von der Frage (und umgekehrt) gesehen werden. D.h. die Absicht, die hinter einer Frage steht muß in das Ergebnis mit ein bezogen werden, um es überhaupt interpretieren zu können. Wird schon diese Absicht verurteilt, ist es müßig, die Frage zu stellen oder sich auf eine Diskussion darüber einzulassen. Ja ein Einlassen würde sogar die Kritik an der Absicht selbst wieder relativieren. (s. später: Kritik am Umgehen mit dem Utilitarismus.)
* Wissenschaftliche Theorie, wissenschaftliche Erkenntnis sind immer ein geistiges, gesellschaftliches, historisches Konstrukt (geprägt durch gesellschaftliche Praxis, Zeitgeist, ge sellschaftliche Strukturen und Strategien/Absichten), deshalb aber nicht unbedingt sinnlos (wofür?), willkürlich oder zufällig..
* Begriffe wie z.B. "natürlich", "objektive Realität", "(wertfreie) Erkenntnis", "Wahrheit", "Fortschritt" suggerieren, daß die herrschenden Gedanken nicht die Gedanken der Herrschenden/herrschenden Verhältnisse sind, sondern eine von diesen losgelöste und neutrale Bedeutung haben.
* Die Frage nach der "objektiven, wertfreien "Wirklichkeit/Natur" läßt sich nicht beantworten und ist als solche überflüssig, außer wenn sie verbergen soll, daß dahinter Absichten stekken, die mit der eigentlichen Frage nichts zu tun haben - wird sie gestellt, ist sie immer herrschaftsimmanent!
Es stehen sich nicht verschiedenen wissenschaftliche Meinungen/Erkenntnisse unschuldig gegenüber, sondern antagonistische Menschenbilder.
Es geht bei dem
eingeforderten Diskurs um die Kategorisierung von menschlichem Leben
in lebenswert und lebensunwert, in Person und Unperson, in
sinnvolles, nützliches oder sinnloses, nutzloses Leben, also um
Normierung, Qualitätskontrolle und schließlich um
Selektion und Vernichtung.
Diese Diskussion ist auch
im Zusammenhang zu sehen mit der zur Zeit von staatlichen Stellen
eingeforderten marktorientierten
Umstrukturierung/Kommerzialisierung/Monetarisierung vieler
Lebensbereiche, mit der Effizienzkontrolle und Qualitätskontrolle
des "Outputs" sozialer Arbeit (z.B. Pflegeversicherung,
Privatisierung von Post, Telefon, Bahn, kulturellen Einrichtungen,
Ausbildungsbereichen, medizinischer Versorgung).
Es geht um ein
Weltbild der ökonomischen Rationalität in dem der Mensch
als Kostenfaktor definiert und an seiner "Effizienz"
gemessen wird.
Eine ideologische
Grundlage bildet die Philosophie des Utilitarismus: »Diese
Denkrichtung gibt vor, alle individuellen Handlungen objektiv
nach deren Nützlichkeit abzuklopfen, dann die als positiv oder
negativ eingestuften Schritte und Ergebnisse gegeneinander
aufzurechnen, um am Ende die größtmögliche Summe
von Glück für möglichst viele Menschen zu
erreichen.«
(Christian Mürner,
Udo Sierck, Freitag, 1.3.1996)
Und wer sich auf diesen Diskurs überhaupt einläßt, akzeptiert schon, daß menschliches Leben zum Objekt/Gegenstand der Diskussion/Abwägung gemacht wird und macht das Ergebnis vom Ausgang einer angeblichen objektiven, wertfreien, unschuldigen Erörterung, mit dem Etikett wissenschaftlich versehen, abhängig.
Jede Kategorisierung, Normierung, Qualitätskontrolle (nach Geschlecht, Hautfarbe, Fähigkeiten, Nationalitäten, Verwertbarkeit, Leistung, Nichtbehindert, Behindert, Normal ...) von Menschen bedeutet Hierarchisierung, Selektion, Herrschaft von Menschen über den Menschen, und sie verhindern/zerstören Kommunikation als Berührung und Austausch, als sich aufeinander einlassen, als kri tische, radikale Auseinandersetzung, als gemeinsame Erfahrung/gemeinsame Entwicklung.
Aus der Erfahrung, daß
das Bemühen um Kommunikation uns dem Leben öffnet und sich
gegen Hierarchisierung/Selektion/Herrschaft richtet, gemeinsame
Entwicklung/Emanzipation/Befreiung erst zuläßt - in
diesem Sinn ist Kommunikation auch immer Sabotage an Herrschaft -,
geht es darum, hierfür Position zu beziehen und nicht um den
Streit um angeblich sich konträr gegenüberstehende
wissenschaftliche Thesen und Theorien:
Für eine
solidarische, herrschaftsfreie Gesellschaft! Was das ist, können
wir nur in der Auseinandersetzung mit den bestehenden herrschenden
Verhältnissen herausbekommen. Jeder Mensch/die Kommunikation
steht hierbei im Mittelpunkt.Das wird u.a. auch bedeuten: die
materielle Existenzsicherung von der Arbeit zu trennen, das
Privateigentum an Produktionsmitteln, an Grund- und Boden, ...,
abzuschaffen.
Aber - hier nur als
Hinweis auf das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, angeführt
- es gibt kein "Draußen", "Aussteigen" ist
nicht möglich: Identität/Bewußtsein/Utopie ist immer
auch Definition über herrschende Gesellschaftsbilder und die
individuelle Entscheidung/Kritik/Handlung ist weitgehend schon in
die herrschenden Verhältnisse integriert, auch schon bevor sie
stattfindet.
So stehen sich nicht verschiedene wissenschaftliche Meinungen/Erkenntnisse gleichberechtigt gegenüber, die in einem wissenschaftlichen Disput in einem neutralen Verfahren geklärt werden können, sondern es stehen sich antagonistische Menschenbilder/Gesellschaftsbilder gegenüber. Der wissenschaftliche Disput soll nur dazu dienen, dies und die Absicht, die dahinter steckt, zu verschleiern. So ist es auch nur wenig interessant und dient der eigentlichen Auseinandersetzung nicht, z.B. den VertreterInnen des Utilitarismus, logische Fehler, Fehlinterpretationen von "empirischen" Daten u.s.w. nachzuweisen - im Gegenteil, führt das gerade dazu, weg von den eigentlichen Differenzen, sich auf eine falsche Diskussion einzulassen. Das ist Täuschung, in die besonders gerne VertreterInnen der "Scientific Community" ausweichen, denn das ist ja gerade ihr Existenzfeld/Legitimationsraum, dafür werden sie mit gesellschaftlichen Privilegien belohnt, und dafür haben sie sich oft schon längst entschieden und sich somit jeder gesellschaftlichen Verantwortung entzogen, sich weitgehend zum Büttel der herrschenden Verhältnisse gemacht.
Der Vorwurf des
Fundamentalismus gegen alle, die den Diskurs ablehnen, ist der
Versuch, sie als DogmatikerInnen, die nicht mit der Entwicklung der
Zeit gehen, zu diffamieren. Das soll die eigene Position als
wissenschaftlich neutral und als "natürliche" Wahrheit
propagieren und das eigene Menschenbild/Gesellschaftsbild das
dahinter steckt, die eigene gesellschaftliche Rolle verbergen.
P. Singer unterstellt z.B. denjenigen, die sich auf den Diskurs nicht
einlassen, eine Haltung, die aus jüdisch -christlicher Tradition
unhinterfragt und unkritisch stammen soll und schlägt ein
Vorgehen vor, das den Anforderungen einer modernen Gesellschaft
besser gerecht werden soll:
»"Der
Einfluß der jüdisch-christlichen Auffassung von der
Gott-ähnlichen Natur des Menschen wird nirgendwo deutlicher
als in der westlichen Doktrin der Unantastbarkeit des menschlichen
Lebens; eine Doktrin, die selbst das Leben des hoffnungslosesten und
unheilbar hirngeschädigten menschlichen Wesens über
das Leben eines Schimpansens stellt." In seinem 1984 ins
deutsche übersetzte Buch Praktische Ethik (Reclam Verlag,
Stuttgart 1984) formulierte er konsequent weiter, daß auch alte
Menschen oder Unfallopfer getötet werden dürfen, wenn
Außenstehende das Fehlen der Personalität festgestellt
haben.« (Christian Mürner,Udo
Sierck,Freitag,1.3.1996)
Es stellt sich die Frage nach Charakter und Absicht des Kongresses.
Es stellt sich die Frage
nach der Absicht, mit der Peter Singer zu diesem Kongreß
eingeladen wurde, und daraus ergibt sich die Frage nach
Charakter und Absicht des Kongresses und des veranstaltenden
Instituts.
Wiederholte Versuche von
Peter Singer, in der BRD öffentlich aufzutreten, konnten bisher
erfolgreich verhindert werden. Daß dies bisher gelang, hat
zumindest symbolische Bedeutung für die Kritik gegen die
"Neue Euthanasie", "Neue Eugenik", gegen die
Diskussion um gesellschaftliche Normierung und Selektion.
Das ist sicher auch den
VeranstalterInnen, ReferentInnen und den weiteren TeilnehmerInnen
bekannt.
Für den Kongreß
scheint es nicht wichtig zu sein, was Peter Singer zu sagen
hat - die Praxis und die Ideologiebildung haben ihn inzwischen auch
in der BRD, zumindest in einer gesellschaftlichen Grauzone,
längst überholt - sondern daß er im Rahmen
eines öffentlichen, wissenschaftlichen Kongresses reden
kann und somit bestimmte Ideen versucht werden, gesellschaftlich
reputierlich zu machen, oder überhaupt erst einmal als
gesellschaftlich notwendige, wissenschaftliche Fragestellungen
propagiert werden können.
Konzentriert sich die
Kritik ausschließlich auf Peter Singer, können das
veranstaltende Institut und der Kongreß ihn
vorschicken/sich hinter ihn verstecken, um die öffentliche
Akzeptanz zu erkunden und zu gestalten.
Jede(r) TeilnehmerIn des
Kongresses ist an diesem Prozeß beteiligt und so verantwortlich
zu machen.
Nachdem zahlreiche WissenschaftlerInnen und VertreterInnen unterschiedlicher Gruppen - z.B. aus der Krüppelbewegung, aus dem antifaschistischen, autonomen Spektrum - erklärt haben, daß sie ein Auftreten von Peter Singer nicht kritiklos hinnehmen werden, ja teilweise dafür eingetreten sind, zu versuchen, den Kongreß zu verhindern, haben die VeranstalterInnen Peter Singer wieder ausgeladen. - aus taktischen Gründen: » ... Es habe "ausreichend Hinweise" dafür gegeben, daß der Kongreß "über legitime Proteste hinaus gewalttätig gestört" werden sollte, ... Die Veranstalter betonten, sie nähmen die Einladung zurück, "obwohl wir diesen Schritt für falsch halten" ...« (Frankfurter Rundschau, 2.4.96)
Aber die Fragen gehen
eigentlich noch viel weiter:
* Nach dem
Wissenschaftsbegriff, dem Menschenbild und Gesellschaftsbild, das
dahinter steckt, wenn versucht wird, Gesellschaft durch Theorien aus
Naturwissenschaft, Mathematik, Informatik zu modellieren, um sie
berechenbar, determinierbar, prognostizierbar und steuerbar zu
machen.
* Nach der Gesellschaft
in der wir leben, und wie sie sich dahin entwickelt hat, so daß
sie die Beschreibung und Gestaltung durch solche Theorien weitgehend
akzeptiert
* Wo sich die Theorie des
Biologen Humberto Maturana über die Selbstorganisation
biologischer "Systeme" und die Theorie des Soziologen
Niklas Luhmann - der sich auf Maturana bezieht - über die
Selbstorganisation gesellschaftlicher "Systeme" mit den
Utilitarismusphantasien, der "praktischen Ethik" Peter
Singers treffen. (Alle sind oder waren als Referenten auf dem
Kongreß vorgesehen.)
* Wie sie und viele
weiteren ReferentInnen des Kongresses (wie z.B. der Jurist Norbert
Hoerster, der Philosoph Dieter Birnbacher und weitere, die Peter
Singers Positionen vertreten und auf deutsche Rechtsverhältnisse
anwendbar machen wollen) sich z.B. im Rahmen des Projekts
"Bio-Ethik" interdisziplinär ergänzen und
zusammenarbeiten - für einen neuen Aufbruch in Richtung "Neuer
Euthanasie" und "Neuer Eugenik".
»... Aus
dem beiliegenden Programm können Sie ersehen, daß die mit
dem Namen Singer verbundenen Themen neben vielen anderen stehen, die
auf abstrakter Ebene verwandt sind. ...« (Dr.
Fritz Simon, in dem oben zitierten Brief.)
Fritz Simon führt
diese Verwandschaft an, um die Einladung von Peter Singer zu
rechtfertigen. Ich meine aber, daß sie genau darauf
hinweist, wie notwendig es ist, unsere Kritik nicht nur gegen die
Einladung von Peter Singer, sondern gegen den ganzen Kongreß zu
richten.
Ein bißchen Vernichten kann es für uns nicht geben.
Zwischen diesen Positionen - die keine Frage von Irrtum oder Unwissenheit sind, sondern politische Absicht und Haltung bedeuten - ist ein wissenschaftlicher Diskurs oder ein klärendendes Gespräch nicht möglich. Sie sind nicht zu vereinen oder abzugleichen, oder es ist nicht möglich, Kompromisse zwischen ihnen zu finden: Ein bißchen Vernichten kann es für uns nicht geben, oder wir können uns auch nicht darauf einlassen, "nur" eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder Menschen mit bestimmten Merkmalen zu opfern, das würde uns immer alle meinen und nicht nur die, die von dieser Gesellschaft sowieso schon behindert werden, die unter dem sozial-politischen Selektionsbegriff "Behinderte" kategorisiert/"geführt" werden - aber natürlich nur dann, wenn wir eine Gesellschaft wollen und auch versuchen, in der Menschen nicht über Menschen herrschen.
So kann das für
uns nur heißen: uns an dem Diskurs nicht zu beteiligen, sondern
ihn zu bekämpfen, uns zu wehren und uns darin auch anderen
Menschen zu vermitteln und in diesen Auseinandersetzungen eigene und
gemeinsame Utopien/Lebensentwürfe, als einen kontinuierlichen
Prozeß, weiter zu entwickeln.
Kontakte:
Autonom Leben e.V.,
Eulenstraße 74, 22763 Hamburg, T.: 040-392555, F.: 040-3907078
Infoladen Mosquito, Alte
Bergheimer Str. 7a, 69126 Heidelberg, T./F.: 06221-22652
Meßstelle für
Arbeits- und Umweltschutz, Richard-Wagner-Str. 22, 28209 Bremen, T./F.: 0421-342974
Termine:
Informationsveranstaltungen:
Bremen, Angestelltenkammer, Violenstraße, Mi. 17.4., 20.00 Uhr,
Hamburg, B5, Brigittenstraße 5, Fr. 19.4, 19.00 Uhr.
Demostration in Heidelberg, Mi. 1.5.96, 12.30 Uhr, Kornmarkt - anschließend Kundgebung vor der Stadthalle.
Für die Zeit des
Kongresses sind in Heidelberg mehrere Veranstaltungen und Aktionen
geplant.
u.a.:
1.5., 16.00-20.00 Uhr, Stiftung Rehabilitation Heidelberg. Berufsförderungswerk. HD
Wiebingen, Bonhoefferstr. 1, Haus 1 - »Forum gegen die
Euthanasiedebatte«.
2.5., gepl. 19.00 Uhr, Universität Heidelberg, Antifa-AK, »Normierung, Selektion, Vernichtung im Namen von Zwangsläufigkeit und Wissenschaftlichkeit«.
(Label: F.St.,Konf.Heidelberg/P.Singer; File-Name: Hei96T03;April.96)