et cetera ppf
|
|
Startseite von |
THEMA: SOZIALER FRIEDE
José Saramago
José Saramago, Literaturnobelpreisträger des Jahres 1998, hat den Elfenbeinturm der Kunst, nie betreten. Für ihn ist Geschichte ein offener Prozess, der an jedem Punkt Alternativen bereit hält. Alles hätte auch anders verlaufen können. Dieser Gedanke durchzieht das literarische Spätwerk, mit dem Saramago berühmt wurde. Das impliziert eingreifendes Denken. Kein Wunder also, dass sich der Kommunist Saramago regelmäßig in den portugiesischen Medien zu aktuellen politischen Themen äußert. Den nachfolgenden Text entnahmen wir der portugiesischen Zeitschrift Visao.
Gründe fehlen Dir wahrlich nicht. Wegen der erdrückenden Flut von Neoliberalismen bewegtest Du Dich rastlos umher, in die Mitte drängend und Deine Fahnen verbergend, orientierungslos und mit verwelkten Überzeugungen, ohne eine einzige zwingende Idee darüber, wie Du Dich verhalten solltest angesichts der Gewissheit, dass der Mandarin-Motor des geliebten Europa seit nunmehr 16 Jahren von konservativen, deutschen Köpfen geschmiert und regiert wurde, Dich darauf beschränkend, von Zeit zu Zeit abzuzeichnen an den Stellen, die man Dir dazu anwies. jetzt darfst Du schließlich Deine Hände gen Himmel recken und dem Heiligen Antonius der Vergesslichen Dank sagen, denn diese Zeit ist nun vorbei. Die konservativen, deutschen Köpfe sind inzwischen von ebensolchen sozialdemokratischen abgelöst worden. Du bist also unter Deinesgleichen. Mehr noch: Du hast jäh festgestellt, dass - bis auf die entnervenden Ausnahmen Spaniens und Irlands - das gesamte politische Europa sich die Farben und Symbole an die Fahnen geheftet hat, die Dir lieb und teuer sind ... ausgenommen natürlich jene beiden Werkzeuge, die in der aktuellen Technologie wenig Verwendung finden, der Hammer und die Sichel.
Und weil weder Glück noch Unglück selten allein kommen,
hast Du auf der anderen Seite des Atlantik, in den Vereinigten
Staaten von Nordamerika, den besten Führer, Förderer und
Paradefall für moralische Sauberkeit, den man sich erträumen
kann. Ein Mann, der - obwohl so geschickt im Abwägen von
Begriffen wie "unzulässig" und "unangemessen"
nicht zögerte und eine Arzneimittel
fabrik in Afrika bombardieren ließ, ohne über den
geringsten Beweis zu verfügen, dass dort tatsächlich
chemische Waffen hergestellt wurden, die gegen US-Bürger oder
-Einrichtungen hätten eingesetzt werden können. Ich
befürchte das Schlimmste: Wenn Herrn William Jefferson Clinton
eines Tages einfallen sollte, dass ein Tourist aus Texas oder Alabama
je von einem Hund auf Lanzarote gebissen werden könnte, gebe ich
keinen Pfifferling auf das Wohlbefinden meiner Vierbeiner Pepe, Greta
und Camoes.
Die politische und mediale Hatz auf den US-Präsidenten als Konsequenz seiner erotischen Abenteuer und seiner unheilbaren Schwierigkeit, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, hat zwar die halbe Welt vergnügt, bei der anderen Hälfte hat sie jedoch Empörung geweckt - wie mir scheint, zu recht. Wenngleich ich es besser gefunden hätte, wären die beiden Hälften übereingekommen, darüber Rechenschaft zu fordern, warum unschuldige Sudanesen den kriegerischen Zorn des Herrn Clinton mit ihrem Leben bezahlen mussten. Es wurde versäumt, vielleicht in dem Bewusstsein, dass es auf ein paar »Neger« mehr oder weniger in der Welt nicht ankommt... Der mächtigste Mann steht grundsätzlich und per Definition über solcherlei Fragen.
Habe ich mich vom Thema entfernt? Im Gegenteil, ich bin mitten drin. Die erste Frage, die ich an die Linke habe, speziell an jene, die in der Regierungsverantwortung steht, ist folgende: Glaubt sie, dass sie tatsächlich ihren Verpflichtungen nachkommt - sowohl den programmatischen als auch den politisch-ideologischen, wenn sie sich schweigend an den fröhlichen Runden beteiligt, in denen das Multilateriale Investitionsabkommen, das bereits berühmte MAI, vorbereitet wird?
Mehr noch: Versteht die Linke - ich meine jetzt nicht im Sinne des Intellekts und unmittelbar, sondern in Bezug auf die Zukunftsfolgen, was in besagten Runden auf dem Spiel steht? Akzeptiert sie es, dass die sozialistisch oder sozialdemokratisch regierten Länder, die Mitglied in der OECD sind, in) aus deren Mitte sich die Verschwörung entwickelt, ihre Wahlversprechen und -programme zum wiederholten Male in den Wind schießen? Ist die Linke sich über den Charakter des Helms-Burton-Gesetzes im Klaren, welches den USA erlaubt, die kubanische Wirtschaft ungestraft zu ersticken? Weiß die Linke, dass die Regierung dieses Herrn beabsichtigt, wichtige Bestandteile jenes Gesetzes in das diskutierte Projekt einzuarbeiten und damit grundsätzliche Regelungen der Welthandelsorganisation zu verletzen, genauso wie Wort und Geist der UN-Charta und die Unabhängigkeit der Staaten?
Denkt die Linke schließlich, dass ihre Ideen - wenn es denn immer noch die gleichen sind - über den Sozialismus oder die Sozialdemokratie vereinbar sind mit der vollkommenen Bewegungsfreiheit der Multis und der Finanzmärkte, die dem Staat lediglich Aufgaben in der aktuellen Verwaltung zugestehen und die Bürger zu bloßen Kunden und Konsumenten degradieren, deren Bedeutung sich daran bemisst, wie viel sie konsumieren und wie brav sie sich verhalten?
Ich mache mir keine Hoffnung, dass mir jemand diese Fragen beantworten wird. Aber ich sehe es als meine Pflicht an, sie wenigstens gestellt zu haben. - Freue Dich Linke, morgen schon wirst Du weinen ...
(Mit freundlicher Genehmigung aus: Freitag 44)
et cetera ppf |
|
Startseite von |