Entengeschichten
so ist's in ordnung: der markt als zensurprinzip (1) von stefan römer quelle: TEAM COMPENDIUM, s. 97ff einleitung während allerorten mit dem information-highway und der demokratisierung des datenflusses im globalen dorf geworben wird, bekommen andere leute ganz einfach schwierigkeiten, andere meinungen zu diskutieren. am 13.6.95 wurden bundesweit über 50 linke private lebens- und öffentliche arbeitsräume durchsucht. dieser "präventivschlag gegen die linke"(2) wurde offziell mit ermittlungen gegen die antiimperialistischen zellen (aiz), das K.O.M.I.T.E.E., die raf und die zeitschrift "radikal" begründet. bundesweit wurden vier leute in u-haft und ein weiter in beugehaft genommen (3). ihnen wird vorgeworfen, "mitglieder und unterstützer eine kriminellen vereinigung" zu sein, "die für die herausgabe und verbreitung der linksextremistischen/linksterroristischen untergrund- druckschrift radikal verantwortlich"(4) sind. dadurch werden alle vorgeblichen macherInnen einer linksradikalen zeitschrift, egal welche tätigkeit sie bei der zeitschriften- herstellung oder dem -vertrieb ausgeübt haben sollen, zu mitgliedern einer kriminellen vereinigung erklärt. begründet wurde dies einerseits - wie so oft in der 20jährigen geschichte der radikal - mit dem abdruck von bekennerInnenschreiben und und positionspapieren militanter linker gruppen. andererseits versucht die BAW die herausgabe der radikal durch die tatsache zu kriminalisieren, daß sie seit 1984 anonym erscheint und verdeckt vertrieben wird - ein zustand allerdings, den die BAW erst durch zahllose repressionen herbeigeführt hat.(5)
die ausstellung "so ist's in ordnung"(6) thematisiert diese razzia bezogen auf die geschichte der radikal, weil diese zeitschrift sich nicht nur theoretisch mit den verbindungen und übergängen zwischen politik und kultur beschäftigt, sondern diese auch praktiziert. sie gilt seit 1976 als "bewegungszeitschrift der undogmatischen linken" und unterstreicht ihren politischen anspruch auch ästhetisch mit ihrem punk-layout. anläßlich der razzien gegen links wird gefragt, was die neue dimension der zensur im fall radikal bedeutet. wie steht es nach dreizehn jahren kohl-regierung mit der freiheit der kunst, dem recht auf freie meinungsäußerung und dem gesetz, das besagt, daß es keine zensur gibt? wesentlich erschien dabei, nicht in ein vorgefertigtes schwarzweißschema zu verfallen und die repression als bestätigung für die wichtigkeit eines mediums zu nehmen. es wurde eher am beispiel radikal untersucht, wie eine besondere form journalistischer arbeit mit dem sehr pauschalen und unzutreffenden vorwurf des "durchgängig kriminellen inhalts" unterdrückt wird. es geht um eine völlig neue dimension der zensur. der prätext für meine thesen ist, daß es sich nach jahren der relativen ruhe nicht einfach um die fortsetzung der alten repression handelt, eine zeitschrift wegen einzelner artikel mit ermittlunsgverfahren zu belegen. es scheint sich vielmehr abzuzeichnen, daß zensur heute in einem vorher nicht gekannten ausmaß funktioniert. deshalb wird es in diesem text nicht vornehmlich um das nachzeichnen der vom verfassungsschutz konstruierten verbindung zwischen linksradikalen gruppen gehen, sondern um die gesamtgesellschaftlichen wandlung im verhältnis zu diesen repressionen: es wird danach gefragt, wodurch die neuen formen der kriminalisierung der rest-linken motiviert sind, in welchem polit-ökonomischen rahmen sie stehen und wie sich dies auf den wandel der journalistischen und künstlerischen prduktionsbedingungen auswirkt. die gruppenarbeit zur ausstellung war durchsetzt von dem fragenkomplex: wie kann gleichzeitig der angst vor repression, die lust am diskurs und der notwedigkeit der politischen intervention im text entsprochen werden? eine geschichte der zensur
die zensur ist die offizielle kritik; ihre normen sind kritische normen, die also am wenigsten der kritik, mit der sie sich in ein feld stellen, entzogen werden dürfen.(7)
es scheint alles ganz klar: zensur in form eines zensors, der texte absegnen muß, gibt es per gesetz nicht mehr.(8) die diskussion um selbstzensur - "die schere im kopf" (9) - liegt tief in den 70er jahren begraben, und das pathos, das diesem begriff anhaftet, ließ ihn für die hippe theorie- und medien- diskussion der 90er jahre unattraktiv wirken. doch wie kann nun mit diesem konstrukt umgegangen werden, das mit der kriminalisierung der zeitschrift radikal auf zensur hinausläuft? alexander kluge und oskar negt widmeten noch 1993 mit dem thema "zensur" einige gedanken. sie wiesen darauf hin, daß mit der "lapidaren formulierung des artikels 5,1 des grundgesetzes: "eine zensur findet nicht statt" eher eine "vor-zensur" gemeint sei.(10) kluge und negt sehen vor allem in bezug auf bücher eine "strukturelle zensur" am werk, deren "feine netze der realitätskontrollen kaum etwas gemeinsam" haben mit den "herkömmlichen grobgriffen von herrschaft", die deshalb oftmals von den betroffenen selbst nicht als zensur erkannt werden. sie scheint sich in "vier große[n] verboten" zu äußern: "zensur als ergänzendes legitimitationsmittel; zensur als realismus- verbot; zensur als ausgrenzung; zensur als sprach- und symbolverbot. in der kombination dieser zensurmechanisme, die als einzelne in ihrer herrschaftsfunktion gar nicht sichtbar sind, wird eine kompakte realitätsdefinition geliefert, die darauf abzielt, gesellschaftliche veränderungsstragien zu lähmen, ohne daß man noch klassen, gruppen, personen diesen zuständen kausal eindeutig zuordnen könnte."(11) der begriff der "nachzensur", der hauptsächlich in verbindung mit der indizierung durch die römische kurie und die nazi-praxis im dritten reich gebräuchlich ist, leute nach mißliebigen ver- öffentlichungen einzusperren, scheint eher zutreffend. es muß allerdings weiter nachgefragt werden, wie sich die struktur zensierender maßnahmen verändert hat und welches politische programm dahinter steht.(12) ein exempel der neuen zensur: die radikal unliebsame sprachen werden in den medien durch endloses relativieren neutralisiert, oder ihnen wird die öffentlichkeit entzogen wie im fall der "radikal", die sich bei ihrer gründung 1976 als bewegungszeitung der undogmatischen linken verstand. ihre praxis, u.a. miltiante politik der linken szene zu dokumentieren und zu diskutieren, führte mehrfach zu ihrer kriminalisierung: "wenn sprache und symbole des widerstands und des eigensinns keine öffentlichkeit mehr finden, wenn worte wie klasse, ausbeutung, berufsverbot, gewalt, aber auch signale der kollektiven identifikation wie transparente, provokative parolen, die auf demonstrationen erscheinen, unter kuratel gestellt werden und nur noch die bilder der warenästhetik die umwelt prägen, dann ist der zustand erreicht, in dem eine gesellschaft die reste ihrer politischen kultur verloren hat. der weg ist nicht weit, den begriff zensur selbst und zensur zu stellen."(13) die anwendung der paragraphen 129 und 129a, wie sie gegen die zeitschrift "radikal" eingesetzt werden, ermöglichen dem verfassungsschutz nicht nur jegliche form der bespitzelung (gesetzlich geregelte telefon- und postüberwachung, observation, hausdurchsuchungen, etc.) sondern auch eine ausgedehnte sondergerichtsbarkeit mit sonderhaftbedinungen und einschränkungen von verteidigerInnenrechten.(14) Darüber hinaus können personen, die sich an bestimmten orten aufhalten, die als kontaktstellen betrachtet werden, mit hilfe dieser paragraphen ebenfalls der observation ausgesetzt werden. "bemerkenswert ist, daß die BAW in den letzten fünf jahren wieder mehr mit dem 1871 im reichstag aufgenommenen §129 operiert, mit dem vor 1976 auch gruppen wie die RAF oder die bewegung 2. juni verfolgt wurden. dieser paragraph, der 'knüppel gegen revolutionäre'. wurde um die jahrhundertwende zur verfolgung der arbeiterInnenbewegung, in den 50ern zur ausschaltung der KPD eingesetzt."(15) diese praktiken werden beispielsweise auch auf politische organisationen wie die der kurden ausgedehnt und bedeuten deshalb eine besondere form der kriminalisierung von migrantInnen. auf die 1989 erfolgte kriminaliserung der "radikal" hatte oliver tolmein in seinem text "das grundgesetz lügt" festgestellt: "zwar gibt es keine zensurbehörde, der texte zur genehmigung vorzulegen wären, die repressive zensur, die nach der veröffentlichung herstellerInnen, verbreiterInnen und autorInnen von schriften verfolgt, ist aber gängige praxis: es fällt schwer, den vollständigen überblick selbst über den kurzen zeitabschnitt eines jahres herzustellen. (...) zusehends relevanz für die BRD-zensurpraxis gewinnt außerdem der §129a, der das werben für und das unterstützen von terroristischen vereinigungen unter strafe stellt." (16) und er ergänzt bezüglich der hypothetischen vorgehensweisen: "oftmals bleiben die kriterien, nach denen der staatsschutz vorgeht, im einzelnen unklar." (17) die neue rhetorik des (neu-)deutschen staates ausgrenzung wird zur zensur es handelt sich deshalb um ein konstrukt zur kriminalisierung, weil keine zeitschrift "durchgängig kriminellen inhalts sein" kann. die anklage behauptete willkürlich, daß jeder der irgendwie beteiigten bezichtigt werden kann, rechtmäßig verantwortlich für das erscheinen einer zeitschrift zu sein. die staatliche intention besteht somit darin, die veröffentlichung von bekennerInnenschreiben und mitteilungen aus dem linken militanten bereich nicht mehr als eine wie auch immer geartete form von kritischer (gegen-)öffentlichkeit zu dulden, die einen der grundgedanken undogmatischer autonomer politik darstellte. (18) darüber hinaus betreibt diese formulierung eine nivellierung des gesamten linken aktivistischen, nicht-p arlamentarischen spektrums, das in der staatlichen sprache als fein der verfassung mit dem rechten terrorismus gleichgesetzt wird. dem staat geht es - laut kanthers aussage - nicht nur darum, ein medium auszuschalten, sondern er versucht auch beispielsweise mit der androhung von u- und beugehaft systematisch eine derartige angst zu vebreiten, daß es unmöglich wird, irgendeine tätigkeit bei der produktion oder distribution zu übernehmen. allerdings steht hinter der behauptung, es handle sich bei der repressiven zensur mit hilfe des $129a um ein "konstrukt" von seiten der BAW, die prämisse, daß jenseits dieses konstrukts eine wahre qualität der zeitschrift existiert. denn selbst wenn die BAW der radikal eine existenz als zeitschrift abspricht,(19) zeigt der sachverhalt, daß sie gelesen wird, daß es sich tatsächlich um eine zeitschrift handelt. die von der BAW angelegten kriterien beziehen sich ausschließlich auf einen markt, der durch eine herrschende praxis von medien definiert wird und eine tendenziell homogenisierte wirklichkeit diktiert. eine solche homogene wirklichkeit stellt sich aber erst nach der deutschen vereinigung als eine wunschprojektion bürokratischer machtansprüche dar, in deren europäischen zukunftsplänen kein platz für noch so kleine kritische stimmen ist. daß jede sprache eine konstrukt ist, heißt noch lange nicht, daß bezüglich der jeweiligen sprachlichkeit keine kriterien bestehen. eine entschleierung der staatlichen argumentation als simple rhetorische behauptung, die nur hypothetisch geäußert wird, um leute aus dem verker zu ziehen, bewirkt gar nichts, sofern sie nicht politische prozesse auslöst. es existiert aber keine öffentlichkeit (mehr?), die nach dieser einsicht auf die staatlichen entscheidungsinstanzen druck ausübern würde; kritik hat sich somit in eine reine ökonomische profitmaximierungs- funktion gewandelt. das ziel der regierung scheint darin zu bestehen, vom angeblich großen konsens der mitte aus, wie er sich seit der 94er bundestagswahl nach der reintegrierung des rechten wählerpontials geriert, die jetzt linken strukturen zu zerstören. es geht darum jeglich opposition auszuradieren. bei einem vergleich mit der sog. mescalero-affäre fällt auf, daß man heute nichts mehr unterschreiben muß, um kriminalisert zu werden.(20) damals hatten neben peter brückner u.a. zwölf professoren gegen eine kriminalisierung von einem "mescalero" unterschriebenen nachruf auf die ermordung von generalbundesanwalt buback aufgerufen, weshalb sie z.t. suspendiert wurden. es scheint sich bei den durchsuchungsbegründungen und eingeleiteten ermittlungsverfahren vor allem deshalb um eine neue rhetorik im zusammenspiel der staatlichen institutionen zu handeln, weil unspezifisch ein breites spektrum von irgendwie als linksradikal bezeichneten gruppen in einer gleichmachenden aktion davon betroffen ist: ohne differenzierung zwischen autoren oder einzelinhalten von texten. die heutige zensur richtet sich mit hilfe repressiver maßnahmen gegen einen journalismus, der eine symbolische strategie verfolgt. der staat definiert so neu, was ein autor ist, und kriminalisiert so seinen gesamten sozialen kontext gleich mit. meine zentrale these lautet deshalb: die neue strukturelle zensur funktioniert durch ausgrenzung von seiten des staates. es ist auffällig, daß dies in eine zeit fällt, die sich durch verstärkte rechte gewalt und eindeutig davon beeinflußte rechte politik auszeichnet und die sich vor allem auch gesetzlich fremden- und minderheiten- feindlich manifestiert. [fortsetzung folgt!]

zurück zur rubrik zum anfang dieser seite


fussnoten (1) dieser text ist eine gekürzte version meines vortrags auf der "messe 2 ok" am 11.11.95 in köln.(..) (2) innenminister kanther in den ard-tagesthemen. (3) seit 5.12.95 sind alle unter auflagen frei; die anklagen bleiben bestehen und es wurden weitere verfahren eingeleitet. (4) presseerklärung der bundesanwaltschaft, BAW. (5) vgl. brief an die presse des 13.6.95 plenums und eines in "texte zur kunst" (nr.19m 8.95) veröffentlichten texts der frischmacherInnen. (6) galerie objektiv, köln, 1.-8.95; messe 2 ok, köln 10.-14.11.95,... (7) karl marx, bemerkungen über die neuesten preußischen zensurinstruktionen. in: von einem rheinländer, 1842 (8) ernst pieper, zur geschichte der zensur in deutschland, in: vorgänge - zeitschrift für gesellschaftspolitik, nr.46, 1980 (...) (9) hendryk m. broder (hg.), die schere im kopf. über zensur und selbstzensur, köln 1976.

(10) alexander kluge, oskar negt, maßverhältnisse des politischen, frankfurt 1992, s.69 (11)ibid., s71-72 (12)es müßte hier genau nachgefragt werden, was eigentlich unter pressefreiheit zu verstehn ist. eine studie des "freedom forum" (washington) besagt, daß momentan die pressefreiheit in 113 von 186 untersuchten ländern stark eingeschränkt ist und nur 37% eine "freie presse" haben (vgl. arte-themenabend "pressefreiheit", 16.11.95) (13)ibid (14)vgl. ermächtigung zu ausgedehnten sonderbefugnissen: die §§ 129 und 129a, in: interim 350, 2.11.95, s.14 (15)ibid (16)o. tolmein, das grundgesetz lügt. zensur in der brd, in: verzeichnis der alternativMedien, edition id-archiv, amsterdam 1989, s. 44 (17)ibid, s.44 (18)zur fraglichkeit diese konzeptes schon anfang der 80er jahre siehe: die "radikal" von 1980 bis '84. eine essayistische nachbetrachtung - dreizehn jahre später, in: interim 349, 26.10.95, s.6

(19) tolmein zitiert den pressesprecher der BAW hannich: "bei der 'radikal' handelt es sich nicht um ein presseerzeugnis. sie wird zwar, glaubt man dem pressereferenten, von einem redaktionskollektiv erstellt, aber andere anforderungen, die die bundesanwaltschaft an eine zeitschrift stellt, erfüllt sie zweifelsohne nicht. sie ist nicht am kiosk erhältlich, sie hält ihre redaktionskonferenzen nicht öffentlich ab, ihre mitarbeiterInnen haben 'tarnnamen' (pseudonyme?), sie führt keine umsatzsteuer ab [..]" aktion wasserschlag, kölner stadt-revue 10/95, s.27 (20) vgl. peter brückner, die mescalero-affäre. ein lehrstück für aufklärung und politische kultur, hannover 1997.
zurück zur rubrik zum anfang dieser seite


kombo(p) | kombo@riffraff.ohz.north.de | 17.7.1997