Wasserstände (juristische Hintergründe)
Aktenauswertung im radikal-Verfahren

Seit April 1996 liegen 88 Akten im radikal-Verfahren vor. Sie stammen von der Staatsanwaltschaft in Koblenz, wohin das Verfahren von der Bundesanwaltschaft (BAW) in Karlsruhe abgegeben wurde.

Diese Ermittlungsakten beziehen sich nur auf die vier Beschuldigten, die am 13.6.95 für ein halbes Jahr eingelocht wurden. Derzeit bastelt der zuständige Staatsanwalt an der Anklage, die nach Fertigstellung dem Oberlandesgericht Koblenz überstellt wird, wo schätzungsweise Ende dieses Jahres oder Anfang 1997 der Prozeß beginnen wird.

Die Akten der vier Untergetauchten, von denen sich drei am 13.6.96 stellten, befinden sich weiterhin bei der BAW in Karlsruhe. Angeblich soll dies Verfahren abgetrennt und einer anderen als der Koblenzer Staatsanwaltschaft überstellt werden. Anders als den vier ehemaligen Gefangenen wird ihnen vorgeworfen, sich aus ihren Schlupflöchern heraus auch an den letzten beiden Ausgaben der radikal Nr.153 + 154 beteiligt zu haben. Mit dieser Begründung sitzt einer der Vier in Köln-Ossendorf im Knast.

Inzwischen wurden die vorliegenden Akten grob ausgewertet und den Soligruppen in den verschiedenen Städten vermittelt. Im folgenden wollen wir auch öffentlich die Linke darüber informieren, u.a. um darauf vorzubereiten, was im anstehenden Prozeß Thema sein wird.

Uns ist zu blöd, vor jeden Satz immer die Worte "angeblich" oder "laut Aktenlage" voranzustellen. Aber wir betonen, daß jede Aussage so zu verstehen ist, daß sie sich auf die Akten, die Ermittlungen und Interpretationen der Bullen, der Bundesanwaltschaft und sonstiger Büttel bezieht, daß wir hier also allein deren Sicht wiedergeben, wie sie sich in den Akten darstellt. Eigene Bewertungen oder Vermutungen werden wir extra kennzeichnen.

Dies geschieht in erster Linie aus juristischen Gründen. Denn jede Bewertung unsererseits kann im Prozeß für Konstruktionen herhalten, und wir wollen ihnen ihr Geschäft nicht erleichtern. Wir gehen davon aus, daß auch die Form der distanzierten Information erwartet wird und Sinn macht.

In einem Haus in der Eifel
beginnt die Geschichte im September 1993. Dort trafen sich an einem Wochenende 7 Leute, um die radikal Nr.148 vorzubereiten. (Wobei hier - als Beispiel und zur Erinnerung - gleich angemerkt sei, daß sich welche dort getroffen haben sollen, um angeblich eine radikal zu planen.)

Das Haus war bereits monatelang verwanzt. Die Bullen hielten es für einen Treffpunkt der Kölner politischen Szene, und sie erhofften sich einen live-Mitschnitt von Gesprächen sogenannter SympathisantInnen der RAF mit vielleicht sogar der sogenannten Kommandoebene.

Laut rheinland-pfälzischem Polizeigesetz ist ein solcher Lauschangriff möglich, und während im Bundestag noch darüber gestritten wurde und die FDP über eine Mitgliederbefragung nachsann, bedurfte es in diesem Fall lediglich einer kleinen Amtsrichterin, um die Lauscherei abzusegnen, was später vom Bundesgerichtshof (BGH) bestätigt wurde. Bekanntlich ist die Gesetzeslage heute der Bullenpraxis angepasst, d.h. ein juristischer Streit über die Rechtmäßigkeit dieser Lauscherei hätte möglicherweise Auswirkung auf das radikal-Verfahren, aber sonst keine.

Als sich die Wanzen am 18. September automatisch einschalteten, begaben sich die Bullen zum Ort des Geschehens und nahmen auf 12 DAT-Cassetten die Gespräche von eineinhalb Tagen auf. Abgetippt ergibt dies ca. 700 Seiten, die Menge Papier eines dicken Leitz-Ordners, wobei die Ankunft der Belauschten bzw. der Beginn der Gespräche fehlt.

Die Auswertung der Mitschnitte beim Bundeskriminalamt (BKA) ergab, daß es sich um ein "hochkon-spiratives" (Hofmann, BAW) Treffen der oder einer radikal-Redaktion gehandelt hat (zur nochmaligen Erinnerung: haben soll), dem sogenannten Fraß-Gremium. Es wurde codiert gesprochen, d.h. es fielen keine richtigen Namen, und auch Begriffe wie radikal (=Ente), Druckerei (=Herd), Laden (=Tank) oder Kolbenfresser (ungedeutete Codierung) wurden verschlüsselt verwendet. Um die codierten Begriffe ihrer mutmaßlich wahren Bedeutung zuzuordnen, bedurfte es einiger Tüftelei und weiterer Ermittlungen. Alsdann legte das BKA erstmals eine entsprechende Entcodierungsliste vor.

Als die Sieben das Haus verließen, wurden sie fotografiert. Die Akten beinhalten insbesondere Fotos von der Abfahrt mit zwei Autos.

Es folgte die Identifizierung:
Zwei wurden gleich im Anschluß an das Treffen bis nach Bremen verfolgt, einer beim Besteigen seines Mopeds in Köln beobachtet. Wegen eines weiteren, der durch seinen Berliner Akzent aufgefallen war, machten sich LKAler aus Nordrhein-Westfalen nach Berlin auf, wo sie die Fotos aus dem Haus mit der dortigen Polit-Kartei verglichen und fündig wurden. Über einen ähnlichen Fotoabgleich - geschossen auf einer Knastkundgebung - wurde auch einer der Schleswig-Holsteiner zugeordnet, und über diesen der zweite ausfindig gemacht.

Ermittlungen

Nachdem die Leute indentifiziert waren, hängten sich 21 Monate lang - bis zum 13.6.95 - Sonderkommissionen der diversen LKAs an ihre Fersen. Sie überwachten Telefone und Faxanschlüsse, die Post und überprüften Konten.

Und es wurde observiert. Sie installierten auf Hauseingänge gerichtete Kameras und verfolgten ihre Zielpersonen vermutlich auch anhand von in Autos installierten Peilsendern.

Das Ziel der Ermittlungen war, Kontakte der Sieben zu anderen mitzukriegen, und zwar nicht nur zu anderen mutmaßlichen radikal-MitarbeiterInnen, sondern auch zu sogenannten terroristischen Vereinigungen. Je mehr sich der zuständige Bundesanwalt Hofmann in die Sache einarbeitete, desto heißer wurde er bei der Aussicht, hier nicht allein eine Untergrundzeitung am Wickel zu haben, sondern über diese Querverbindungen zu anderen Gruppen, die da brandschatzen und bomben. Namentlich ging es um die RAF, zu deren sogenanntem legalen Umfeld einige der Sieben Kontakte pflegten, über den Berliner Beschuldigten um DAS KOMITEE und in Bremen um die AIZ.

Dies ergibt sich u.a. aus dem Vorgehen bei den Durchsuchungen. So wurde beispielsweise bei einer radikal-Durchsuchung in Berlin auch Isoband beschlagnahmt, das wohl zur Abdeckung von elektrischen Kontakten beim Bau von Sprengsätzen, aber kaum zur Herstellung einer Zeitung verwendet werden dürfte.

Aus diesem Ermittlungsstrang wurde bekanntlich nichts, was später auch der von großen Aussichten beflügelte Bundesanwalt Hofmann eingenstehen mußte, als er die Akten nach Koblenz abgab. Von der sogenannten Unterstützung teroristischer Vereinigungen (Par.129a Absatz 2) blieb lediglich der Vorwurf der Werbung (Par.129a Absatz 3) mittels Aktions-Erklärungen und anderer Artikel in der radikal übrig, sowie der Vorwurf, als radikal-Redaktion eine sogenannte kriminelle Vereinigung gebildet zu haben (Par.129).

Im ursprünglichen Ermittlungsstrang - Einbindung der Zielpersonen in der radikal-Struktur und weitere Beteiligte - blieb die Spur heiß, auch wenn die Ergebnisse der Schnüffelei hinter dem "Zufallstreffer" in dem Eifel-Haus zurück blieben.

So gingen sie von drei weiteren Fraß-Treffen in fast identischer Zusammensetzung bis September 94 aus, wonach sich dies Gremium - wie sich später herausstellte - auflöste. In einem Fall waren die Bullen vor Ort, fotografierten die Anwesenden und durchsuchten nachher den Treffpunkt, wobei sie im wesentlichen Fingerabdrücke von drei Identifizierten fanden. Hier gingen sie auch der Anmietung des Ferienhauses nach und stellten dabei fest, daß sie unter falschem Namen von einem der Sieben getätigt wurde.

In den beiden anderen Fällen gingen ihnen - so schlußfolgerten sie jedenfalls - die Sieben trotz der Observationen mehrerer LKAs durch die Lappen, das heißt sie spekulierten auf Fraß-Treffen, weil sich alle Zielpersonen zur selben Zeit nicht zu Hause befanden.

Darüberhinaus stellten sie ein weiteres radikal-Treffen fest, eine sogenannte Samba im Juli 1994, das zwecks Vorbereitung der radikal Nr.150 stattfand (nicht vergessen: stattgefunden haben soll), und an dem neben schon drei bekannten Leuten auch ein vierter teilnahm, den sie später ebenfalls den FunktionsträgerInnen der radikal zurechneten. So wurden aus den sieben Haupt-Beschuldigten die heutigen acht.

In zwei Regionen wurden sie auch bei der Telefonüberwachung fündig. In einem Fall bekamen sie mit, daß ihre Observationen zumindest von einer Person bemerkt worden waren und darauf reagiert wurde. In anderen Fällen fielen in Telefongesprächen aus dem Eifel-Haus bekannte Codeworte, anhand denen die Ermittlungen auf weitere Beschuldigte ausgeweitet wurden.

Zum sogenannten Umfeldabgleich der Acht trugen auch die Observationen bei. Bis zum 13.6.95 umfaßte die Liste der Beschuldigten im radikal-Verfahren insgesamt weitere 17 Leute aus 6 Städten. Im wesentlichen handelt es sich dabei um Bekannte der acht Haupt-Beschuldigten, denen in dieser oder jener Form die Unterstützung der radikal-Struktur vorgeworfen wird.

In drei Fällen wurde eine Kontaktadresse (=Kabel) zur Verfügung gestellt (wobei es auch hier heißen müßte, daß sie zur Verfügung gestellt worden sein soll), in einem Fall ein Bunker (=Nockenwellenkoffer) und in einem weiteren Fall wurden Leute dabei beobachtet, wie sie versandfertige radikals mit falschem Absender auf mehrere Briefkästen verteilten.

Von den Ermittlungsverfahren gegen diese 17 Leute wurden mittlerweile drei eingestellt.

Während ihrer Schnüffelei erhielten BKA und LKAs einige Bestätigungen für das in dem Eifel-Haus festgestellte "hochkonspirative" Verhalten, was sie in ihrem Taten- und Sammeldrang anspornte. Neben dem BKA beschäftigten sich auch die LKAs aus mehreren Bundesländern mit dem Fall. Ob es mit der Sache zu tun hatte oder nicht, hinter den kleinsten Beiläufigkeiten, beispielsweise bei Telefongesprächen, und jedem für sie unverständlichen oder zweideutig interpretierbaren Satz oder Verhalten witterten sie eine geheimnisvolle Nachrichtenübermittlung der verdeckt arbeitenden Struktur. So wurde die am Telefon geäußerte Frage "wie geht es dir?" als Nachfrage bezüglich einer aktuellen Observation bewertet. Und später - als ein Brief der Mutter eines der Gefangenen vom 13.6.95 angehalten wurde - sezierte ihn das BKA nach Strich und Faden und verfaßte eine seitenlange Expertise, weil sie darin u.a. von der Entenzucht eines Vetters berichtete.

Auf der Suche nach Kontakten und Bedeutungen aller möglichen Art schnitten sie diverse Begegnungen, Besuche und Beziehungen mit, die in ihrer Vielzahl höchstwahrscheinlich nicht in den Akten, aber gespeichert in Bullencomputern auftauchen werden. Die Durchleuchtung von Freundekreisen, politischen Strukturen und Szenen ist ein gewolltes Nebenergebnis solcher Schnüffeleien, unabhängig vom laufenden Verfahren oder erteiltem Ermittlungsauftrag.

Bei den Durchsuchungen vom 13.6.95
konzentrierten sich die Bullen insbesondere auf Computer und Disketten. Sie gingen davon aus, daß neben Treffen ein großer Teil der überregionalen Kommunikation über verschlüsselte Disketten lief. So beschlagnahmten sie landauf landab über 1000 Disketten.

In zwei Regionen wurden sie bei drei der Haupt-Beschuldigten und in Bunkern (=Koffer) fündig (korrekt muß es heißen: wollen sie fündig geworden sein). Die Auswertung ergab, daß einige Disketten Vertriebslisten, interne Protokolle und Briefverkehr der radikal-Struktur enthielten, wobei es sich in einem Fall um Dateien aus einem Zeitraum von bis zu drei Jahren handelte.

Ein Großteil der Texte war mit dem Programm PCSECURE verschlüsselt. Es dauerte nur wenige Wochen, bis das 'Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik' (Bonn) den Schlüssel knackte und diese Dateien lesbar machte. Die Ausdrucke umfassen mehrere hundert Seiten in drei Aktenordnern. Zwar wird sich auch in diesen Texten codiert ausgedrückt, aber mittels der bereits angesprochenen Codierungs-Liste wurden sie auch inhaltlich für das BKA verständlich.

Es gibt weiterhin Hinweise dafür, daß mit PGP verschlüsselte Dateien nicht geknackt wurden, zumindest taucht bislang keine einzige in den Akten auf.

Neben den Disketten wurden im Einzelfall auch ausgedruckte Papiere und Notizzettel gefunden, auf denen in codierter Zeitangabe geplante Treffen, die Anschriften von sogenannten "coolen" Kontaktadressen (=Kabel), Autokennzeichen und andere Notizen bezüglich der Observationen vermerkt waren. Gefunden wurde auch Versandmaterial und radikals in größeren Mengen. Bei einem der Haupt-Beschuldigten wurde im Knast ein Kassiber beschlagnahmt, der in einer codierten Zahlenkolonne den Satz "Eifel fand so statt" enthielt.

Ausgehend von diesen Funden fanden im Dezember 1995 Durchsuchungen in fünf Städten bei Kontaktadressen (=Kabel) statt, wo sie zum Teil erneut fündig wurden. In einer Stadt wurde u.a. ein Koffer mit Layout-Material ergattert.

Darüberhinaus fanden sich, laut Verfassungsschutzbericht Nordrhein-Westfalen von 1995, Hinweise dafür, daß nach dem 13.6.95 neue Codes in der radikal-Struktur entwickelt wurden. Schließlich soll, laut BAW und BGH-Beschluß bei der Haftbegründung des eingeknasteten Kölners, sich dieser als "Quak" zusammen mit dem weiterhin abgetauchten Bremer auch an den letzten beiden radikal-Ausgaben beteiligt haben.

Letzteres wird auch den beiden Haupt-Beschuldigten vorgeworfen, die am 13.6.96 wieder auftauchten und sich stellten, wobei in diesen Fällen ein weniger dringender Tatverdacht vorliegen soll, weswegen sie unter Auflagen haftverschont wurden.

Inhaltlich umfassen die Funde - und dabei in erster Linie die Dateien - diverse Themengebiete:

Aus mehreren Protokollen wird ersichtlich, daß die Observationen bereits ein Jahr vor dem 13.6.95 auffielen und sich darauf eingestellt wurde. Die Texte beinhalten Einschätzungen zum Grund der Observationen, den Austausch von Autokennzeichen und Beobachtungen aus verschiedenen Städten, die Auswertung des Polizeifunks, bis hin zu strategischen Überlegungen, wie mit den Observationen umgegangen, die Struktur geschützt, trotz Beobachtung kommuniziert und weiter gearbeitet werden kann. Beispielsweise wurden Kontakte zwischen Aufgefallenen und Nicht-Betroffenen vermieden mit der Absicht, die radikal fortzuführen.

Die Disketten umfassen zum Großteil Berichte regionaler und überregionaler Strukturen, von Delegierten- und Gruppentreffen, wobei sowohl Diskussionen wie auch Planungen und Funktionen innerhalb der radikal-Struktur dargestellt werden (so die BAW-Interpretation, um den Blickwinkel nicht in Vergessenheit geraten zu lassen). So gibt es Protokolle von Gruppen, in denen ihr spezieller Stand und Perspektiven zur Sprache kommen, wo bestimmte Aufgaben benannt und übernommen werden. Oder andere, in denen Positionen zu internen Konflikten formuliert und Grundsatzdebatten zur inhaltlichen Ausrichtung der radikal angeregt werden. Oder Briefe Einzelner zu bestimmten Projekten, oder Berichte von Treffen mit Leuten, die neu in die Struktur aufgenommen werden sollen.

Die Dateien vermitteln Einblick in die Arbeitsweise und den Organisationsgrad der Struktur. Wie auch schon in dem Eifel-Haus werden Code-Systeme, Kommunikationsmöglichkeiten und Sicherheitskriterien diskutiert. Gefunden wurden außerdem zwei Papiere, die sich mit den konspirativen Anforderungen, dem Ansprechen und der Zusammenarbeit mit Druckereien (Herde) befassen, dasselbe gilt in ähnlicher Form für die Auswahl der Kontaktadressen im Ausland (Lohnbüros).

Die Texte beinhalten auch die Diskussion, Planung und Aufgabenverteilung von radikal-Beiträgen. Die in den Protokollen anvisierten Themenschwerpunkte decken sich weitgehend mit dem späteren Inhaltsverzeichnis der jeweiligen radikal-Ausgaben.

Neben den offiziellen Protokollen befinden sich in den Akten auch Briefe und Diskussionspapiere mit subjektiven Einschätzungen, aus denen neben strukturellen auch persönliche Bezüge abgeleitet werden können.

Sie beinhalten weiterhin Vertriebslisten aus drei von mutmaßlich zehn Regionen, an die persönliche und formalisierte Anschreiben für AbonenntInnen der radikal angehängt sind. Vermutlich aufgrund dieser Listen fanden die Durchsuchungen vom 17.7.96 bei vier (laut Durchsuchungsbeschluß) angeblichen Verteilern und einem Abonnenten der radikal statt, worüber vor kurzem in der Interim informiert wurde.

Bei der Auswertung der Funde geben wir - es kann nicht oft genug betont werden - weiterhin die Sicht der BAW und ihrer Schergen wieder:

Die Funde bestätigen das schon in dem Eifel-Haus gewonnene Bild bezüglich der radikal-Struktur, gehen allerdings in vielen Bereichen darüber hinaus. Es wurden neue Erkenntnisse zu Personen, der Logistik, der Arbeitsabläufe und Organisationstruktur gewonnen.

So ordnen sie Einzelnen konkrete Funktionen zu, wie z.B. den Kontakt zu einer Druckerei (=Herd) oder zu einer Auslandsadresse (=Lohnbüro) gehalten, oder den Vertrieb für eine Region organisiert zu haben. Ausgehend von den Disketteninhalten werden Einzelne auch für bestimmte Artikel und Beiträge in der radikal verantwortlich gemacht. Beispielsweise zeichnen in einem Protokoll zwei der Haupt-Beschuldigten verantwortlich für die redaktionelle Bearbeitung von Aktions-Erklärungen, was nach Par.129a als Werbung für terroristische Vereinigungen verfolgt wird.

(Hier ist anzumerken, daß für diesen Vorwurf ein konkreter sogenannter Tatnachweis notwendig ist. Betreffend der radikal Nr.148, die in der Eifel-Hütte geplant worden sein soll, spielen solche über die Lauscherei gewonnenen Tatnachweise keine Rolle mehr, weil diese Ausgabe im November presserechtlich verjähren wird, da bis dann kein Urteil zu erwarten ist. Für die bei den Funden interpretierten Tatnachweise gilt dies nicht, insofern sie wie im obigen Beispiel spätere Ausgaben betreffen, die entsprechend ihrem Erscheinen auch später verjähren.

Beim wesentlichen Vorwurf im radikal-Verfahren - Bildung einer kriminellen Vereinigung (Par.129) - spielen Tatnachweise eine untergeordnete Rolle. Das Wesen dieses Konstruktes besteht gerade darin, Leute wegen ihrer Organisierung und anhand ihrer Einstellung oder Gesinnung zu verfolgen, wobei die Zugehörigkeit zu einer Bande oder Organisation ausreicht.)

Es wurden auch weitere Personen bekannt, denen bestimmte Funktionen zugeordnet werden. Beispielsweise wurde der Haftbefehl für den achten Haupt-Beschuldigten erst nach dem 13.6.95 aufgrund der Funde ausgestellt, da sie einen noch vagen Observa-tionsverdacht erhärteten.

Auf den Disketten befinden sich auch Texte von und über noch nicht identifizierte Personen, aus denen neue Ermittlungsansätze folgen können (oder schon gefolgt sind, ohne daß es bekannt wurde).

Die gefundenen Dateien wurden in der Mehrzahl von zwei der Haupt-Beschuldigten und von bisher Nicht-Identifizierten verfaßt, während andere kaum oder gar nicht als AutorIn in Erscheinung treten. Zusammen mit der Eifel-Auswertung verfaßten die Büttel Persönlichkeitsbilder (Psychogramme) und stellten eine unterschiedliche Einbindung, Geschichte + Bedeutung der Einzelnen in der Struktur fest (Mitarbeit seit 1983 bzw. erst seit 1991, maßgeblich Beteiligte bzw. Mitwirkende, mehr/weniger Erfahrung, mehr/weniger Aufgaben, etc.).

Die Erkenntnisse zu Produktionsablauf und Vertriebsstruktur übertreffen jene aus dem Eifel-Haus, ebenso was die Zuordnung Einzelner zu aktiven Gruppen und Regionen innerhalb der radikal anbelangt.

Das BKA legte schon nach der Eifel-Lauscherei eine detaillierte Darstellung der Struktur vor. Nach den Funden vom 13.6. wurde sie erweitert und schließt mit einer Grafik, in der die regionalen radikal-Gruppen und deren Verbindung untereinander dargestellt werden, mit einem Schaubild betreffend der Arbeitsabläufe und Funktionen, und der bereits erwähnten Codeliste, die alphabetisch geordnet 145 Begriffe und Namen auf 10 Seiten umfaßt.

vorläufiger Ausklang

Unter uns ist Konsens, daß eine weitergehende Bewertung Sache der Betroffenen bzw. der radikal-Struktur ist. Abgesehen von der oben dargestellten Problematik geht es in diesem Verfahren ja nicht nur darum, ob Einzelnen eine konkrete Beteiligung an der Erstellung der radikal nachgewiesen werden kann, sondern auch darum, daß eine angebliche Redaktion zur kriminellen Vereinigung erklärt werden soll.

Letzteres hätte Folgen über den Fall radikal hinaus, da mit einem solchen Präzedenzurteil in der Tasche alle linken Kommunikationsstrukturen - Zeitungen wie Verlage, Druckereien freie Radios und Infoläden - kriminalisiert werden könnten, ohne den Beschuldigten konkret nachweisen zu müssen, daß sie dies oder jenes getan haben.

Keinen Konsens konnten wir bei der Frage erzielen, was wir zum Ausklang dieses Papiers mit auf den Weg geben wollen. Deshalb stellen wir die beiden Positionen einer Streitdiskussion hintereinander dar und hoffen, daß sie als Ergänzung verstanden werden:

1:

Politische Solidarität kann in der heutigen gesellschaftlichen Situation nicht wesentlich über die Bewertung oder gar Identifikation mit einem Projekt oder einzelnen Personen wirksam werden, sondern über die Umsetzung der Erkenntnis, daß ein erfolgreicher Schlag gegen einzelne Projekte der radikalen Linken immer auch die Entwicklungs- und Kampfbedingungen aller linken Politikansätze verschlechtert, den politischen Raum für die gesamte Linke einengt, und daß ein solcher Schlag nur gemeinsam abgewehrt werden kann.

Die Informationen zum Aktenstand sollen der Solibewegung für eine Einschätzung dienen, in welche Richtung die staatlichen Ermittlungen gehen, und dafür, sich ein Bild zu machen, was konkret Gegenstand im radikal-Verfahren und einem eventuellen Prozeß sein kann.

Die Aktenlage im radikal-Verfahren ändert nicht die Zielsetzung der Soli-Arbeit. Nach wie vor geht es darum, den mit dem § 129 strategisch weit gezielten Angriff auf die radikale Linke mit gesammelten Kräften abzuwehren, d.h. konkret, eine Definition und Verurteilung der radikal als kriminelle Vereinigung zu verhindern - den Präzedenzfall also, der zu einer Kriminalisierungsschiene gegen jeglichen linken Organisationsansatz führen könnte. Und es geht darum, den Schaden für die Beschuldigten, die stellvertretend für ein Projekt und einen Organisierungsansatz der radikalen Linken angegriffen werden, abzuwehren.

Die radikal steht für einen Teil linksradikaler Geschichte in der BRD, für die Diskussion und Verbreitung von revolutionärer Politik, militanter Praxis und Organisierungsformen jenseits staatlicher Kontrolle. Den politischen Raum einer unzensierten Widerstandspresse gilt es für die Linke zu erhalten.

2:

Sollte die BKA-Auswertung im wesentlichen zutreffen, geht ihre Bedeutung über den Fall radikal hinaus, da hier gewichtige Aspekte der jahrelangen Entwicklung einer verdeckt arbeitenden Organisation bekannt wurden, deren nicht-hierarchische und an den föderativen Prinzipien der Autonomie orientierte Arbeitsweise Erkenntnisse liefert, die sie auch in Zukunft auf andere ähnlich gelagerte Ansätze übertragen werden können.

Sollten die Funde im wesentlichen authentisch sein, erleidet das Image der radikal einen Bruch, worüber gesondert zu diskutieren wäre. Es tun sich Widersprüche auf zwischen dem, was jahrelang veröffentlicht und auch praktiziert wurde und (sollte es sich um solche handeln) Fehlern, die (sollte es sich so abgespielt haben) im Wissen von Observationen nicht nur das teilweise Aufdecken einer Struktur ermöglichten, sondern auch andere mit reinzogen und belasteten.

Sollte sich all dies so oder ähnlich abgespielt haben, ist es trotzdem nicht angebracht, mit dem Finger auf die Betroffenen zu zeigen und sich in der einen oder anderen Form zu distanzieren. Es bleibt die Frage, ob einem oder einer selbst sowas unter keinerlei Umständen passieren kann.

Außerdem - vor allem - erscheint die radikal weiter; als bestes Beispiel dafür, daß trotz eventueller Fehler und trotz eines der größten und längsten Observa-tionseinsätze in der BRD-Geschichte auch Erfolge zu verbuchen sind. Wir erinnern daran, daß die radikal mit ihrem heute 12-jährigen verdeckten Organisa-tionsansatz bereits mehrere solcher Schläge überstan-den hat, erfolgreich in dem Sinne, daß in langwie-rigen Prozessen daraus gelernt und sich jeweils neu auf die veränderten Bedingungen eingestellt wurde, ohne die inhaltliche Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Sollte sich also alles so abgespielt haben wie hier geschildert, finden wir es angesagt, zwischen möglicherweise notwendiger Kritik und Aufarbeitung auf der einen Seite, und ihrem Zusammenhang, der konspirativ organisierten Zeitung, zu unterscheiden. Niemand begibt sich aus Vergnügen ganz oder teilweise in die Illegalität, und eventuelle Fehler dürfen nicht dafür herhalten, die Notwendigkeit verdeckter Strukturen in Frage zu stellen.

Wir sehen die Aufklärungspflicht gegenüber der Linken und hätten es wünschenswert gefunden, wenn ihr zumindest ansatzweise früher nachgekommen worden wäre. Aber sie hatte und hat Grenzen dort, wo BKA, BAW, BGH und Konsorten bei ihrem dreckigen Geschäft zugearbeitet wird, beispielsweise durch eine grundlegende Aufarbeitung, die nur die Linke angeht und sonst niemand. Eine solche Aufarbeitung wird deshalb kaum vor Prozeßende stattfinden können.

Abschließend
weisen wir mit Penetranz nochmal darauf hin, daß wir hier den Aktenstand und die sich daraus ergebende Bewertung von Bullen und BAW wiedergegeben haben. Die Informationen umfassen auch nur einen Teil der Akten, und hier wiederum nur jene von vier der Haupt-Beschuldigten, da die Akteneinsicht der anderen vier fehlt.

Wir erinnern auch daran, daß dem weiterhin abgetauchten Matthes aus Bremen nicht nur die Mitwirkung an der radikal, sondern auch an den AIZ vorgeworfen wird. Wir wünschen dir an dieser Stelle alle erdenkliche Kraft und den Mut, dir auch in Zukunft so treu zu bleiben wie bisher. Und Glosch in Köln-Ossendorf, daß du dem Knastsystem widerstehst und dein Lachen nicht verlierst.

Auswertungsstelle
im radikal-Verfahren, August 1996

(Quelle: radikale Zeiten Nr. 6, September 1996)
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kombo(p) | kombo@riffraff.ohz.north.de | 7.7.1997