ZU DEN AUSEINANDERSETZUNGEN IN DER TÜRKISCHEN REVOLUTIONÄREN ORGANISATION DEVRIMCI SOL

Vor dem Staatssicherheitsgericht Nr.3 in Istanbul fand am 21. März 1994 die Prozeßeröffnung gegen 21 Personen statt, die der Mitgliedschaft in Devrimci Sol beschuldigt werden. Am 22. März folgte ein weiterer Prozeß gegen 11 MitarbeiterInnen der legal erscheinenden sozialistischen Zeitung Devrimci Cözüm, die ebenfalls der Mitgliedschaft in Devrimci Sol beschuldigt werden. Zwei der Angeklagten vom 21. März, Özden Bilgi und Erkan Koc bekannten sich zur Mitgliedschaft in Devrimci Sol.

Am 2. und 3. Mai sollte der Prozeß in Istanbul fortgesetzt werden. Da jedoch sowohl Personen des türkischen Geheimdienstes (MIT), als auch Folterer im Gerichtssaal anwesend waren, weigerten sich die Angeklagten an dem Prozeß teilzunehmen; das Gericht verlegte den Termin auf einen späteren Zeitpunkt.

Devrimci Sol ist eine marxistisch-leninistische Organisation, die seit 1978 den bewaffneten Kampf gegen die türkische zivil-faschistische Junta führt. Die Probleme innerhalb Devrimci Sol um die Führungsdiskussion sind seit '89 offen. Zu dieser Zeit bildeten drei leitende Kader - Bedri Yagan, Dursun Karatas und Sinan Kukul - im Gefängnis das Gefangenen-Komitee von Devrimci Sol. Zum ersten Konflikt kam es, als Dursun Karatas vor Gericht die sie verteidigenden Anwälte beschuldigte - dies geschah ohne Absprache mit Bedri Yagan und Sinan Kukul. Sinan bat um ein Gespräch, weshalb ohne Konsultierung des Komitees darüber entschieden wurde, ob die Anwälte noch ein Mandat besitzen. Was nach außen als juristisches Problem erscheint, bedeutete auf politischer Ebene eine Infragestellung der kollektiven Entscheidungsstruktur.
Bedri und Sinan forderten daraufhin eine breitere Plattform unter Einbeziehung weiterer Kader - also dem Gefangenen-Komitee sowie dem ZK. Zu dieser Zeit (1989) gab es draußen ein ZK, bestehend aus drei Personen, welches 1986 gegründet wurde. Man befand sich 1989 nach Aussagen von Devrimci Sol-Kadern in der Phase der Parteigründung. Das ZK beschloß zusammen mit den drei Kadern des Gefangenenkomitees, daß dieses Komitee weiter in dieser Zusammensetzung bestehen bleiben soll, daß künftig wieder alle Entscheidungen kollektiv und geschlossen gefällt werden sollten. Noch im gleichen Jahr konnten mehrere Genossen von Devrimci Sol, unter ihnen auch Dursun Karatas und Bedri Yagan aus dem Gefängnis entkommen.
Dursun Karatas kritisierte die bisherige Arbeit des ZKs und beanspruchte mit der Begründung, daß er die Organisation aufgebaut hätte, die Führung. Einwände von Bedri Yagan, die Entscheidungsstrukturen vorerst so zu belassen, da sich jene Genossen mit den Aktivitäten draußen besser auskennen würden, wurden von Dursun Karatas nicht berücksichtigt. Bedri Yagan wurde daraufhin von Dursun Karatas als Verantwortlicher der Organisation in den Nahen Osten geschickt, das ZK von ihm anschließend aufgelöst. Eine kollektive Führung wurde somit durch die Ein-Mann-Führung von Dursun Karatas ersetzt. Niyazi Aydin thematisierte als erster der ehemaligen ZK-Mitglieder dieses Vorgehen seitens Dursun Karatas, meinte jedoch, wenn diese Auseinandersetzungen zu Problemen innerhalb der Organisation in dieser schwierigen Parteigründungsphase (Spaltungsgerüchte etc.) führen sollten, werde er persönlich lieber schweigen. Das Vorankommen der Organisation in dieser Situation sei wichtiger.

Zwischenzeitlich (1990) konnte Sinan Kukul aus dem Gefängnis entkommen und wurde sofort von Dursun Karatas unter Hausarrest gestellt um eine Intervention von dieser Seite zu verhindern. Die Diskussionen, die sich aufgrund des Vorgehens von Dursun Karatas innerhalb der ehemaligen ZK-Mitglieder entwickelten, fanden ihr Ende beim 1. großen Massaker des türkischen Staates gegen die Organisation. 12 Genossen wurden am 12. Juli 1991 ermordet, darunter alle ehemaligen ZK-Mitglieder. Dursun Karatas war nach dem 12. Juli-Massaker verschwunden, keiner wußte, ob er auch unter den Gefallenen war oder ob er inhaftiert wurde. Die Europavertretung der Organisation hielt in Brüssel eine Pressekonferenz ab und forderte die türkische Regierung auf, den Verbleib von Dursun Karatas zu klären. Dursun Karatas meldet sich daraufhin. Dursun Karatas wurde mit dem Einverständnis der anderen Kader ins Ausland gebracht - was allerdings von Anfang an als eine vorübergehende Lösung verstanden wurde. Am 16./17. April, sowie im August 1992 folgten weitere Massaker des türkischen Staates gegen die Organisation, bei denen weitere GenossInnen in führenden Positionen starben. Unter ihnen auch Sinan Kukul. Die Verantwortliche der Organisation in der Türkei bat daraufhin Dursun Karatas, in die Türkei zurückzukehren oder Bedri Yagan aus dem Nahen Osten zurückzubeordern, da sie nicht in der Lage sei, die Organisation in dieser Phase zu führen. Dursun Karatas lehnte eine Rückkehr in die Türkei ab.

Bedri Yagan bat in der Folge um ein Gespräch mit Dursun Karatas, um den Zustand der Organisation zu klären -also u.a., ob es ein ZK gibt, wer die Entscheidungen trifft... Das Gespräch zwischen ihm und Dursun Karatas fand statt, führte jedoch zu keinem Ergebnis. Dursun Karatas warf Bedri Yagan vor, er wolle die Führung in den Schmutz ziehen. Bedri Yagan wurde von Dursun Karatas für einen Monat seiner Aufgaben enthoben. Da Bedri Yagan allein keine Möglichkeit zu einem Gespräch mit Dursun Karatas hinsichtlich der Klärung der Massaker, sowie der Klärung über Entscheidungsstrukturen innerhalb der Organisation sah, informierte er daraufhin zwei weitere Kader in Europa. Alle drei baten Dursun Karatas um ein Gespräch, das dieser jedoch nicht führen wollte. Am 13. September 1992 setzten sie Dursun Karatas im Ausland fest. Sie informierten die Verantwortliche der Organisation in der Türkei von ihrem Vorgehen.
In einem gemeinsam erarbeiteten Protokoll, welches auch von allen vier unterschrieben wurde, erklärten sie, daß eine Plattform geschaffen werden soll, die die Hintergründe der Massaker sowie die Führungs- und Entscheidungsstrukturen klären soll. Diese Plattform soll aus den unterzeichneten vier Personen sowie den Kadern in der Türkei bestehen. Abermals wurde die Verantwortliche der Organisation in der Türkei unterrichtet, mit der Bitte, sie möge zusammen mit den Kadern nach Europa kommen, um die Plattform zu gründen, die Vorkommnisse in der Organisation zu untersuchen. Bis zum Eintreffen dieser Kader, die sich an der Plattform beteiligen sollen, soll keiner der Vier die Basis informieren.

Dursun Karatas erklärte jetzt, ein ZK bestehe noch, die Mitglieder seien Sinan Kukul und Sabahat Karatas (beide waren zu diesem Zeitpunkt schon gefallen). Man fand dafür allerdings keinerlei Beweise. Dursun Karatas hatte zur gegebenen Zeit das komplette Archiv der Organisation mit sich geführt, keine Notiz o. ä. deutete daraufhin, daß ein ZK überhaupt bestand oder besteht. Kurze Zeit darauf - Dursun Karatas befand sich nicht mehr unter "Arrest" -informiert er einige Kader in der Türkei, es hätte einen Putschversuch von Bedri Yagan gegeben. Auch wird im Anschluß die legale Basis (politische und kulturelle Vereine) mit diesen Informationen versorgt und auch die noch inhaftierten Genossen erhalten den Bescheid über den "Putschversuch". Dursun Karatas widersetzt sich seitdem jeder Klärung, verbietet den GenossInnen, mit den sogenannten "Putschisten" zu sprechen. Im März 1993 gab es erneut einen Zugriff der türkischen Sicherheitsbehörden auf Kader der Organisation, bei dem auch Bedri Yagan in der Türkei fiel. Seit dieser Zeit wird die Auseinandersetzung von Dursun Karatas unter dem Motto "die Putschisten bestrafen" unter massiver Gewaltanwendung in der Türkei und in Europa durchgeführt. Fünf Menschen, darunter Ercan Sakar, der am 1. Mai 1993 von Karatas Anhängern in Berlin erschossen wurde, verloren dabei ihr Leben. Das Büro der Devrimci Cözum wurde überfallen, Mitarbeiter und Besucher beschossen, eine 15jährige Besucherin verlor dabei ein Auge. Die Aydinlar-Druckerei in Istanbul, die für die gesamte Linke in der Türkei druckt, wurde angesteckt -es entstand ein Sachschaden von über 7 Mio. DM. Die letzten Überfälle ereigneten sich im April 94 auf einer Trauerkundgebung in Istanbul für die Gefallenen vom 22. April 1993, Ercan Temelli, und Muanuner Aydin, die von Karatas-Anhängem im Schlaf erschossen wurden. Bei dieser Kundgebung beschossen Karatas-Anhänger die Angehörigen der Ermordeten. Auf der 1.Mai Kundgebung 1994 in Istanbul griffen Karatas-Anhänger Devrimci Sol-Sympathisanten innerhalb der Demonstration an.

Aus Gesprächen wissen wir, daß es innerhalb von Devrimci Sol seit längerem einen selbstkritischen Diskussionsprozeß gibt, um die Entwicklung hin zu einer solchen Ein-Personen-Führung und die Versäumnisse aufzuarbeiten. War am Anfang diese Diskussion noch dadurch bestimmt, die Schuld dafür allein Dursun Karatas zu geben, so wird mittlerweile auch das eigene politische Verhalten -Uneigenständigkeit des Denkens, Vertrauen in Personen und Strukturen, ohne sich als aktiver Teil des Ganzen zu begreifen - kritisch aufgearbeitet. Es geht um die Wiedergewinnung einer kollektiven Struktur, die Kritik und Selbstkritik in sich vereinigt. Das zeigt die Tiefe des Erneuerungsprozesses auf, der eine revolutionäre Tragweite hat und beweist, daß es sich bei Devrimci Sol um eine lebendige Struktur handelt, die dieses Problem lösen wird.

Große Teile der Linken hier in der BRD bezeichnen die Auseinandersetzung nach wie vor als unpolitisch, als reinen Machtkampf, lehnen es ab, in diesem Konflikt Stellung zu beziehen. Die Diskussionen im Vorfeld der revolutionären 1. Mai-Demo 1993 in Berlin und das Nichtverhalten der Linken, sind nicht vergessen. Ercan Sakar hat am 1. Mai 1993 sein Leben gelassen. Die politischen Hintergründe des gesamten Konflikts waren damals bekannt und sind es heute. Sie spiegeln sich jedoch bis heute nicht in den Diskussionen wieder. Wir verweisen hier nur auf den jüngsten Artikel in der radikal vom März 1994, (S.6 1) der bereits früher in der Interim abgedruckt war. Anstatt sauberer Recherche, bzw. sich mit den GenossInnen und Genossen direkt auseinanderzusetzen, werden vermeintliche Fakten aus dem ak benannt, die jedoch auch über Dritte liefen. Überschrift des Artikels ist denn auch bezeichnenderweise "Offener Brief an diejenigen Linken, die die Auseinandersetzung zwischen den DEV-SOL Gruppen mit Politik verwechseln", sowie die VerfasserInnen-Angabe "Einige Internationalisten und Internationalistinnen". angesichts dessen, was die Genossinnen und Genossen in der Türkei selbst für die bewußte Inanspruchnahme des Rechts auf Herausgabe einer legalen Zeitung riskieren, ist - freundlichst ausgedrückt - von einer arroganten und chauvinistischen Haltung zu sprechen.

Wer so argumentiert, ist nicht in der Lage, die politische Dimension dieser Auseinandersetzung zu fassen nd zu erkennen, daß diese Diskussion auch unsere Diskussion ist - und die aller, die sich Gedanken über eine notwendige Organisierung im nationalen und internationalen Kontext machen. Darin hat die Aufarbeitung des Bruchs innerhalb der Devrimci Sol (und das Beziehen einer eigenen Position) ebenso ihre Notwendigkeit, wie sie die Debatte um den Bruch innerhalb der RAF(-Gefangenen) hier und die Entwicklung einer revolutionären Perspektive hat. Es gibt eine Demarkationslinie innerhalb von Devrimci Sol ebenso, wie es sie hier innerhalb der Gefangenen gibt; angesicht der politischen Divergenz - Entpolitisierung/Reformismus einerseits, dialektisches Herangehen/revolutionäre Perspektive andererseits - handelt es sich um zwei diametral gegenüberstehende Linien.

Juni 1994
Internationalistische Genossinnen und Genossen aus mehreren Städten der BRD



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