Über den Stand der Kinderhilfe
Tina Modotti(1896-1942)
"Ein Stück Brot von unserem Munde abgespart, um das Kind eines Klassenkampfgefangenen zu nähren, beruhigt einen Genossen im Kampf und stärkt einen anderen für kommende Kämpfe." So hieß es in einem Aufruf der italienischen Patronati, der vor einigen Jahren während einer Kampagne zur Sammlung von Mitteln für die politischen Gefangenen und ihre Angehörigen herausgegeben wurde. Dieser Satz bestimmt die große Bedeutung und den doppelten Nutzen der Hilfe für die Kinder aller revolutionären Kämpfer, doch ist es natürlich nicht allein die Aufgabe der IRH, diese Kinder mit Brot zu versorgen: sie hat auch die Genossen für kommende Kämpfe vorzubereiten und die Kinder proletarisch und international zu erziehen. was von den RH Sektionen eine vielseitige Tätigkeit erfordert. Viel ist schon auf diesem Gebiet geleistet worden, doch noch mehr muß getan werden. Es gibt viele RH Sektionen, die noch nicht die große Bedeutung der Kinderfürsorge, abgesehen von der bloßen Unterstützung der Familien der Gefangenen, wo auch die Kinder mit inbegriffen sind, erkannt haben. Wir müssen in Betracht ziehen, daß die Kinder der politischen Gefangenen, die Waisen der im Klassenkampf Gefallenen, nicht allein Hunger leiden, weil sie ihres Haupternährers beraubt sind, sondern auch den Schikanen und dem Boykott anderer Kinder und der Lehrer in den bürgerlichen Schulen ausgesetzt sind; sie haben oft die Schrecken der Verhaftung, der Mißhandlung, der Ermordung ihrer Väter selbst mit anzusehen (solche Fälle könnte man bis ins unendliche anfahren, wir werden jedoch bloß einen Fall erwähnen, den ersten, der uns in Auge fällt aus unserer riesigen Kollektion, und zwar: 1922, Turin (Italien). Genosse Chiolero saß am Tisch mit seiner Frau und seinem Kinde. Jemand klopfte an die Tür und er öffnete dieselbe. Eine Bande Faschisten stürzte ins Zimmer. Das Kind sprang erschreckt auf und versteckte sich hinter den Beinen des Vaters. "Bist du Chiolero, der Straßenbahnschaffner?" "Ja, das bin ich." Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, als die Schwarzhemden ihre Pistolen hervorholten und alle auf einmal auf ihn schossen, der Arbeiter brach zusammen, während sich das Kind noch immer an die Beine des Vaters voll Entsetzen weinend anklammerte.) Zu gleicher Zeit besteht die ernste Gefahr der bürgerlichen Umgebung und der schändlichen religiösen, patriotischen, chauvinistischen Rassen, militaristischen usw. Propaganda, der die Kinder ausgesetzt sind. Die Auslandspolitik der italienischen faschistischen Regierung in den letzten Jahren bestand z.B. darin, daß allerlei Erleichterungen für die Rückkehr aller schwangeren Mütter in der proletarischen Emigration geboten werden. In den USA verweigerte der Staat Nord Karolina die Bitte der amerikanischen Rote Hilfe Sektion betreffs Versorgung der vier Waisen der im Gastonia Streik erschossenen Ella May Wiguins. All dieses zeigt die Absicht der bürgerlichen Staaten, restlos die Kinder, die zukünftige Generation zu monopolisieren. Was ist von der IRH bisher geleistet worden?
Im Bewußtsein dieser Gefahr und ihrer Pflicht gegenüber den Kindern derjenigen. die im täglichen Kampf gegen den bürgerlichen Staat ihr Leben aufopfern, ist die IRH vielen Kindern., deren Väter im Gefängnis schmachten, vielen Waisen der Opfer des Klassenkampfes zu Hilfe geeilt, hat sie geschützt, genährt und ihnen Unterkunft gegeben und viele aus den Klauen des bürgerlichen Einflusses gerettet.
RH Kinderheime sind in folgenden Ländern organisiert worden: 2 in Deutschland (1 in Eigersburg, das andere in Worpswede); 1 in der Sowjetunion (Waskino), wobei von der RH Organisation Iwanowo Wosnossensk, auf eigene Initiative hin, ein zweites Kinderheim aufgebaut werden soll. Die finnische Rote Hilfe mietete 1929 ein Haus, in dem 25 Kinder untergebracht wurden. Zu gleicher Zeit wurde von ihr solch eine gute Propaganda für das Kinderheim durchgeführt, daß sie im Jahre 1930 ein eigenes Kinderheim eröffnen und dort 25 Kinder von Revolutionären unterbringen konnte. (Später wurde dieses Heim von den faschistischen Behörden Finnlands verboten.) In Kolo (Polen) hatten wir ein RH Kinderheim, das von 1927 bis 1930 arbeitete. In diesem Kinderheim wurden 30 bis 40 Kinder verpflegt. Die Bourgeoisie nahm eine feindliche Stellung gegen das Heim ein und veranstaltete wiederholt Haussuchungen. Andererseits wurde von vielen Arbeitern und sympathisierenden Intellektuellen eine Bittschrift für die Aufrechterhaltung dieses Heimes unterzeichnet, was jedoch ein Verbot desselben im Jahre 1930 nicht verhindern konnte. Ein Teil der Kinder sah sich genötigt, zu den ihrigen zurückzukehren während andere bei sympathisierenden Arbeitern Unterkunft fanden. In Portugal existierte ebenfalls ein Kinderheim im Laufe einiger Jahre. Von den RH Organisationen in anderen Ländern wurden Projekte verfaßt und Schritte unternommen, für die Schaffung ähnlicher Heime (Bulgarien, Schweiz, Mexiko), doch konnten diese Projekte wegen des Mangels an Mitteln nicht verwirklicht werden. Eines der beiden Kinderheime in Deutschland ist gegenwärtig nicht in Betrieb, und zwar aus wirtschaftlichen Gründen sowie auch wegen des Verbots seitens der faschistischen Behörden Thüringens. Seit ihrer Gründung bis 1929 wurden 1.236 Kinder in den zwei deutschen Kinderheimen verpflegt. Darunter hatten 435 ihren Vater im revolutionären Kampf verloren, während die Väter der übrigen Kinder entweder gefangen, verwundet oder in der Emigration waren. Kinder der verschiedensten Nationalitäten haben in den deutschen Kinderheimen Unterkunft gefunden, und zwar: deutsche, bulgarische, rumänische, österreichische und litauische Kinder. In der Zeit von 1925 bis 1929 wurde von der RHD für den Unterhalt der zwei Heime ein Betrag von 36.5611 Mark verausgabt. Der Unterhalt beider Heime, wenn voll belegt, erfordert 75.000 Mark pro Jahr. Das Kinderheim in Waskino in der Sowjetunion ist das glänzendeste Beispiel der internationalen Solidarität, wobei die Tatsache, daß einzelne Organisationen der RH Sektion der USSR, wie z. B. die Iwanowo Wosnessensker, den Aufbau von Kinderheimen unternehmen, den Beweis erbringt. wie gut die russischen Genossen die riesige Bedeutung der Unterstützung der Kinderhilfe erkennen und wie gerne sie an dieser Aufgabe teilnehmen.
Außer den oben erwähnten Kinderheimen wurden die Kinder der Opfer des Klassenkampfes auch noch in anderer Form unterstützt: in Sommerkolonien, durch Unterbringung der Kinder in sympathisierenden proletarischen Familien. Auszahlung besonderer Unterstützung an die Familien der politischen Gefangenen je nach der Zahl der Kinder und viele andere. Die Mehrheit der RH Sektionen führt keine besondere Evidenz über die Kinderhilfe, so daß wir aus diesem Grunde nicht imstande sind, die genaue Zahl der von den verschiedenen RH Organisationen unterstützten Kinder anzugeben. Uns ist jedoch bekannt, daß die RHD von 1925 bis 1929 47.609 Kindern Hilfe erwiesen hat. Die italienischen Patronati in Frankreich und Belgien organisierten zusammen mit der französischen RH Sommerkolonien für die Kinder der italienischen politischen Emigranten. Im Jahre 1929 wurden 99 und im Jahre 1930 65 italienische Kinder in einer Sommerkolonie auf der Insel R6 untergebracht. Die Schweizer Rote Hilfe hat ebenfalls die Kinder der politischen Emigranten in einer Kinderkolonie verpflegt, während die griechische RH eine Kolonie organisierte, doch wegen Mangels an Mitteln sie liquidieren mußte.
Wie aus obigen ersichtlich, ist in dieser Richtung schon eine bedeutende Arbeit geleistet worden. Doch ist das nicht genügend. Die Zahl der Opfer des Klassenkampfes wächst in nie dagewesenen Maße (es genügt zu erwähnen. daß bloß auf Grund der Statistiken des weißen Terrors in den letzten zwei Jahren in allen kapitalistischen und Kolonialländern 1929 23.629 Personen und im Jahre 1930 115.199 verurteilt, 1929 140.854 und 1930 295.906 ermordet wurden.) Wenn man berücksichtigt, daß viele dieser Opfer des Klassenkampfes Väter sind, darunter einige mit vielen Kindern, so kann man sich leicht die schreckliche Zahl der Kinder in der ganzen Welt vorstellen, die entweder gänzlich verlassen oder in Verpflegung der bürgerlichen Institutionen sind. Auf welche Art muß die Kinderhilfe verstärkt werden?
Es ist selbstverständlich. daß die beste Hilfe den Kindern durch die RH Kinderheime erwiesen wird. Das ist jedoch nicht in jedem Lande möglich (wegen finanzieller Gründe und wegen der Verfolgung). Es gibt jedoch viele andere Formen, die leichter zu verwirklichen sind: Kindersommerkolonien, Unterbringung der Kinder in sympathisierenden Arbeiterfamilien, Patenschaft über schon bestehende RH-Kinderheime sowie auch über einzelne Kinder, besondere Sammlungen und Spenden ausschließlich für den Kinderunterstützungsfonds, spezielle Tage der Kinderunterhaltung (Demonstrationen instruktiver Kinofilme, Konferenzen, Ausflüge usw.), eine Kinderrubrik in den IRH Schriften über die Verfolgung der Kinder, zur internationalen Informierung über die Kinderhilfe der anderen RH Organisationen, Veröffentlichung von Kinderbriefen, Briefverkehr mit den Kindern in den RH Kinderheimen, Kolonien und in den Arbeiterfamilien (diese Tätigkeit müßte besonders unter den RH-Kindergruppen angeregt werden).
Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß zwecks guter Organisierung aller mit Kinderhilfe verbundener Arbeit die RH Sektionen von nun ab eine spezielle Statistik über die Zahl der Kinder, deren Väter im Gefängnis, er mordet oder ausgewiesen sind, zu führen haben, um genau zu wissen, wieviel hilfsbedürftige Kinder jede RH Organisation zu versorgen hat, damit die verschiedenen Formen der Kinderhilfe gemäß der Zahl der Kinder angewendet werden können und diese Information auch den anderen RH-Sektionen übermittelt werden kann. was eine Zusammenarbeit im internationalen Maßstab zwischen den verschiedenen RH-Organisationen auf diesem wichtigen Gebiet der RH-Tätigkeit ermöglicht.Erschienen in MOPR, Organ der Roten Hilfe Deutschland, Berlin, Nummer,511931