Über die Kapitalismuskritik von Linksruck |
Verkürzte
Kapitalismuskritik - das Beispiel Linksruck Wenn
hier Linksruck als Beispiel für eine verkürzte Kapitalismuskritik ausgewählt
wurde, so sind dabei zwei Hinweise notwendig: zum einen ist diese Art der
Kapitalismuskritik selbstverständlich auch bei einer Reihe von anderen
Gruppen und Personen anzutreffen, zum anderen wendet sich die hier geübte
Kritik gegen die von Linksruck vertretenen Positionen, nicht gegen die
Mitglieder der Gruppe, sie ist also als solidarische Kritik gemeint.
Untersucht wurde das Heft „Strategien für AntikapitalistInnen“ (Herbst
2000) des Linksruck-Magazins Sozialismus
von unten, das typische Beispiele liefert. Alle Zitate stammen aus diesem
Heft und ausschließlich von Linksruck-AutorInnen. Generell
läßt sich festhalten, dass von der Grundhaltung her antikapitalistische
Positionen vertreten werden. Eine ernsthafte, tiefergehende Analyse des
Kapitalismus, die über die Feststellung, dass das System massive Ungleichheit
und Ungerechtigkeit produziert, hinausgeht, findet sich allerdings kaum.
Mensch könnte einwenden, das reiche doch schon, um dagegen zu sein. Das ist
richtig, aber die eher oberflächliche Analyse hat bestimmte Folgen für
Praxis und Perspektiven, die teilweise sehr bedenklich sind. Folgendes sind
unsere Kritikpunkte: 1.
Personalisierung und Reduktion des Kapitalismus auf Klassenkampf „Arbeiter,
die unter Stellenabbau, längeren Arbeitszeiten und niedrigen Löhnen leiden,
stehen dem selben Feind gegenüber - einer immer brutaleren und immer besser
organisierten kapitalistischen Klasse, die über Grenzen hinweg operiert...“
(S. 17) Kapitalismus
erscheint hier nicht als soziales Verhältnis, sondern als das Werk der
„kapitalistischen Klasse“. Dass alle im Kapitalismus lebenden Menschen
darin verstrickt sind, fällt unter den Tisch, Kapitalismus wird auf
Klassenkampf reduziert. Den gab es aber auch schon vorher, und zum
Kapitalismus gehört auch noch einiges mehr. (Siehe Abschnitt 2: Unverkürzte
Kapitalismuskritik) Zudem wird mit „den Kapitalisten“ (wer gehört
eigentlich dazu und wer nicht?) ein Feindbild aufgebaut, dem die Schuld für
die bestehenden Verhältnisse zugeschoben und zunehmende Brutalität
unterstellt wird. Die Brutalität ist jedoch keine generelle Eigenschaft der
„Kapitalisten“, sondern ergibt sich primär aus den Zwängen der Struktur
des Systems, der auch die „Kapitalisten“ unterliegen - selbst wenn sie in
dieser Rolle ungleich mehr Freiheit, Wohlstand und Privilegien genießen. 2.
Bezug auf homogene „Weltarbeiterklasse“ mit gemeinsamen Interessen,
Verkennung von Interessenskonflikten „Die
Weltarbeiterklasse ist heute viel größer und stärker als zu irgendeiner
Zeit der Geschichte. Die Multis haben rund um den Globus expandiert, aber sie
haben auch eine Weltarbeiterklasse geschaffen, die zunehmend ein gemeinsames
Interesse hat.“ (S. 14) „Unsere Revolution ist eine Bewegung der
ungeheuren Mehrheit im Interesse der ungeheuren Mehrheit...“ (S. 25) Die
Annahme, dass der deutsche Gewerkschafter und seine Frau, die ukrainische
Migrantin, der ghanaische Bauer, der australische Aborigine eine Klasse mit
gemeinsamen Interessen bildet, verkennt die zahlreichen Interessenskonflikte,
die sich aus den unterschiedlichen sozialen Lagen ergeben. Der Arbeiter in
Westeuropa könnte durchaus ein Interesse daran haben, dass seine Frau sich
unbezahlt um Kinder und Haushalt und alle reproduktiven Arbeiten kümmert,
dass die ukrainische Migrantin an der EU-Grenze abgewiesen wird und nicht
Arbeitsplätze und Lohnniveau gefährdet, dass der Bauer in Ghana für den
Kaffeeexport anbaut, dass der Aborigine von seinem Land vertrieben wird, auf
dem sich eine Ölquelle befindet. Und das hat nicht nur etwas mit Kapitalismus
zu tun, sondern auch etwas mit Patriarchat, Nationalstaaten, Rassismus,
Industrialisierung, mit vielfältigen Unterdrückungsmechanismen und
gesellschaftlichen Zwängen. In dem Zitat aber werden die in vielfältiger
Weise Unterdrückten alle in das vorgefertigte Schema des Proletariats gezwängt,
ohne dass ihre spezifische Lage zur Kenntnis genommen wird. Nur durch diese
Vereinheitlichung werden sie zu einer Weltarbeiterklasse mit einem gemeinsamen
Interesse - und dieses Interesse wird nicht von ihnen definiert, sondern von
denen, die in ihrem Namen agieren und in ihrem Interesse die Revolution
planen: von der kämpfenden Vorhut der Weltarbeiterklasse, die über ihre
Interessen besser bescheid weiß als sie selber. Da helfen die Beteuerungen,
dass man wirklich keine „aufgeklärte und organisierte Elite“ (S. 25) sein
will, herzlich wenig. 3.
Simples Basis-Überbau-Schema, Funktionalismus „Die
herrschenden Ideen sind die Ideen der herrschenden Klasse. Das war bisher in
jeder Gesellschaft so. Diese Ideen - ob Rassismus, Sexismus,
Schwulenfeindlichkeit oder Ellbogenmentalität - erfüllen eine wichtige
Funktion für die Politik der herrschenden Klasse... Die Arbeiter haben als
Klasse kein objektives Interesse an der Aufrechterhaltung dieser Ideen.“ (S.
25) Hier
zeigt sich (neben der Widerkehr der Argumentationsfigur vom objektiven
Interesse der Arbeiter), dass das
vereinfachte Schema in der Realität scheitert: die „herrschende Klasse“
hat aus Angst um den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht das geringste
Interesse an dem gewalttätigen Rassismus der Neonazis und propagiert vielmehr
eine Ausgrenzung nach dem Prinzip der wirtschaftlichen Leistung, die sich
nicht an Hautfarben orientiert. Auch ist eine gewisse „Teamfähigkeit“
eine gefragte Tugend in der neoliberalen Arbeitswelt. Der Funktionalismus
funktioniert nicht: es ist nicht so, als ob jedes Übel eine wichtige Funktion
im Kapitalismus erfüllt und seine Existenz dem Interesse der herrschenden
Klasse daran verdankt. Gleichermaßen erfassen Slogans über die
„historische Funktion des Faschismus als Rammbock gegen die organisierte
Arbeiterschaft“ (S.39) und den „Faschismus - Brechstange des Kapitals“
(S. 41) die gesellschaftliche und historische Realität viel zu verkürzt,
wenn nicht schlichtweg falsch. 4.
Eindimensionaler Staatsbegriff „Nationalstaat“
als „Instrument ... der herrschenden Klasse“ (S. 42) „Der Staat ist also
der bewaffnete Flügel der herrschenden Klasse.“ „Wir brauchen eine
Symmetrie zum Staatsapparat ... Eine Gegenwehr, die dezentral bleibt, hat
keine Chance gegen die Herrschenden. Polizei, Justiz, Medien und
Bildungssystem sind aufeinander abgestimmt.“ (S. 26) Es
soll nicht bestritten werden, dass Teile des Staatsapparats in bestimmten
Situationen als repressives Instrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden
gesellschaftlichen Macht- und Eigentumsverhältnisse fungieren. Natürlich.
Aber in dieser Pauschalität ist die Aussage flach, verkürzt und nicht
haltbar. Der Staat ist mehr als ein bewaffneter Flügel „der
Herrschenden“, er ist eine „materielle Verdichtung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse“,
zu der auch die Drogenambulanz und die Sozialkundelehrerin gehören. Dass auch
diese nur im Sinne der Herrschenden arbeiten, wie im letzten Satz angedeutet,
tendiert in Richtung Verschwörungstheorie. Gerade in den Bereichen Medien,
Sozialwesen und Bildungssystem gibt es genügend Menschen, deren Arbeit
inhaltlich auf eine Kritik oder sogar eine Überwindung der herrschenden Verhältnisse
abzielt, wenngleich auch sie die strukturellen Zwänge des Systems
reproduzieren: auch die Sozialkundelehrerin muß auf regelmäßige Anwesenheit
achten und Noten vergeben und so zu Disziplin und Konkurrenz erziehen. Problematisch
ist der eindimensionale Staatsbegriff, der den Staat lediglich als Instrument
der herrschenden Klasse sieht, auch und gerade deshalb, weil er die Illusion nährt,
dieses Instrument könne in den richtigen Händen auch zum „Wohle der
Menschen“ verwendet werden. Staat heißt Herrschaft, heißt Zwang, und
solche Mittel können nicht ohne weiteres menschlichen Zwecken dienen.
Deswegen ist die Absicht, eine „Symmetrie zum Staatsapparat“ aufzubauen,
z.B. eine schlagkräftige und deswegen notwendig zentralisierte und
hierarchische Arbeiterpartei, schlichtweg gefährlich: sie schafft neue
Herrschaftsverhältnisse und Machtpositionen. 5.
Sozialistische Revolution als Heilserwartung „Das
Ende das Kapitalismus samt Ausbeutung und Unterdrückung - das ist unser
gemeinsames Ziel.“ „Nur die direkte Aktion der
Masse kann ... den Kapitalismus mit all seinen Insitutionen und seiner
Unterdrückungsmaschinerie beseitigen.“ (S. 24) „Wir (!) wollen den
Reichtum (des Kapitalismus) ... nutzen,
um die Welt wieder in Ordnung zu bringen.“ (S. 25) Die
Vorstellung dominiert, dass mit dem Ende des Kapitalismus - herbeigeführt
durch eine sozialistische Revolution - auch jede Ausbeutung und Unterdrückung
an ihr Ende kommt. Dass zahllose Unterdrückungsverhältnisse durch die
Enteignung der „Kapitalistenklasse“ nicht berührt werden, sollte
eigentlich durch den Lauf der Geschichte hinreichend klar geworden sein.
ACHTNG! NEU! - Davon abgesehen
entsteht der Eindruck, dass das Ende des Kapitalismus durch einen
„qualitativen Sprung“, einen Umschlag von der schlechten zur guten
Gesellschaft herbeigeführt werden wird, und nicht durch einen schrittweisen
Prozess. Dass eine sozialistische Revolution automatisch zu einer
unmittelbaren Veränderung in den Köpfen der Menschen führt, ist nur auf der
fragwürdigen Grundlage eines Basis-Überbau-Determinismus vorstellbar. - 6.
Unkritisches Verhältnis zu Technologie „Der
Kapitalismus hat riesigen Reichtum und technologischen Fortschritt geschaffen.
Das brauchen wir auch in unserer zukünftigen Gesellschaft. ... Wir wollen den
Reichtum nicht zerstören, sondern nutzen, um die Welt wieder in Ordnung zu
bringen.“ (S. 25) Wie
der Staat, so werden auch Industrie und technologischer Fortschritt als
neutrale Mittel begriffen, die einfach einem besseren Zweck zugeführt werden
müssen. Dabei wird ignoriert, dass die komplette Industrialisierung nur auf
der fortdauernden Ausbeutung von Mensch und Natur beruht und ohne sie sofort
zusammenbrechen würde, dass sie zu Expertentum und Entmündigung und
Abstumpfung der Menschen geführt hat und diese Aspekte nicht von der
Vergesellschaftung der Produktionsmittel weggezaubert werden können. Die
Ambivalenz von Produktivitäts- und Effizienzdenken, das gesellschaftliche
Naturverhältnis und der bei Marx so wichtige Aspekt der Entfremdung bleiben
ausgespart, in der irrigen Annahme, sozialistische Fabriken seien menschlicher
und umweltfreundlicher. 7.
Unkritisches Verhältnis zu Autorität „In
jeder Bewegung gibt es eine Führung.“ „Es gab nie eine Wahl zwischen Führung
oder keiner Führung, sondern immer nur zwischen revolutionärer und
reformistischer Führung.“ „Eine Führung ist für uns nicht da, Führung
zu sein und zu bleiben, sondern, um andere führungsfähig zu machen...
Emanzipier dich selber ist einfach gesagt. Dafür brauchst du Führung,
Menschen, die dabei helfen.“ (S. 26f) Führung,
Autorität, d.h. die Tatsache, dass Menschen Befehlsgewalt haben, wird hier
nicht nur zur organisatorischen Notwendigkeit, sondern sogar zu einer
anthropologischen Konstante: Menschen brauchen Führung. Auch Emanzipation,
also Selbstbefreiung, braucht Führung. Damit ist Führung legitimiert und
braucht nicht mehr zu fürchten, in Frage gestellt zu werden. Es gibt zwar
gute oder schlechte Führung, aber Führungslosigkeit, Herrshaftsfreiheit,
wird zu einer Unmöglichkeit, die im politischen Denken keinen Platz haben
darf. Oder wenn, dann höchstens in der zukünftigen klassenlosen
Gesellschaft, wenn die Führung nicht mehr notwendig ist und die Führer sich
selbst abschaffen, nachdem sie die anderen emanzipiert haben... Fazit Die
Kritikpunkte lassen sich auf zwei Ebenen zusammenfassen. Einerseits wird sehr
einfach gestrickte, eine verkürzte Kapitalismuskritik praktiziert, die ohne
weiterreichende Elemente wie Staatskritik und Entfremdung auskommt und in
klaren Trennungslinien denkt: Gut-Böse,
Kapitalistenklasse-Weltarbeiterklasse, Unterdrücker-Unterdrückte. Eine
kompliziertere, widersprüchliche Realität, in der z.B. ein Mensch innerhalb
des Betriebs Unterdrückter und innerhalb der Familie Unterdrücker ist, in
der z.B. ein gewalttätiger Rassismus nicht im Sinne der herrschenden
Kapitalisten ist, kann mit diesen simplen Schemata nicht erfaßt werden.
Andererseits (und damit zusammenhängend) werden sämtliche
nichtkapitalistischen Herrschaftsverhältnisse (z.B. patriarchaler oder
parteiinterner Art) ausgeblendet, so dass von einer Verkürzung auf (verkürzte)
Kapitalismuskritik gesprochen werden kann. Grund dafür scheint eine
fundamental unhistorische Einstellung zu sein, die heute mit den selben
Mitteln und Zielen operiert wie 1917. Eine Einstellung, die nicht viel gelernt
zu haben scheint aus den Verbrechen der an die Macht gekommenen
sozialistischen Bewegungen und Parteien von der UDSSR über China bis
Kambodscha. Diese Verbrechen waren nicht bloß „Fehler im System“ und sind
nicht allein auf den bösen Stalin oder die entsprechenden bösen Parteieliten
zurückzuführen. Sie sind auch Konsequenzen von Machtstrukturen und der
Notwendigkeit, sie aufrechtzuerhalten - auch und gerade um „Gutes zu tun“.
Sie sind als potentielle Gefahr angelegt in jeder Bewegung, die auf die
zentrale Entscheidungskompetenz einer wohlmeinenden Gruppe von Revolutionären
setzt, die in dem von ihr definierten Interesse einer Weltarbeiterklasse Führung
beansprucht und die Welt in Ordnung bringen will. |