Eigentlich müsste man in das Jahr 1976 oder weiter zurück gehen, doch das führt hier zu weit. Nach der letzten Grossaktion im Jahre 1981 gegen den Bau des AKW Brokdorf ist der Widerstand nie ganz eingeschlafen. Bürgerinitiativen und Kläger haben ihn am Leben gehalten. In Vorbereitung auf die Inbetriebnahme des AKW in diesem Jahr haben sie zusammen mit den Grünen in Schleswig-Holstein am 5. April 1986, drei Wochen vor der Katastrophe von Tschernobyl, zur Demonstration nach Brokdorf aufgerufen. Knapp 1000 Menschen folgten dem Aufruf. An diesem Tag war die Demonstration am Baugelände kein Problem. Mehr noch: der kleinen Zahl gelang es, ungehindert alle vier Tore zum AKW aufzubrechen. Polizei und Wasserwerfer tauchten erst auf, als die Demonstranten bereits weitergezogen waren.
Infolge dieser Aktion beschlossen die Bl Pinneberg, die BUU Hamburg und die Grünen in Schleswig-Holstein, aus Anlass der geplanten Inbetriebnahme Brokdorfs am 13. Juni 1986 für den 7. Juni 1986 zu einer Demonstration aufzurufen, um den Widerstand gegen das AKW weiterhin zu erhalten und auch nach der Inbetriebnahme unter Verwertung von Widerstandserfahrungen in anderen Regionen weiterzumachen. Ein Beratungstreffen hierfür wurde auf den 20. Mai in Hamburg gelegt.
Und dann kam Tschernobyl am 26. April. Nach der ersten Lähmung begannen die Proteste gegen die Atomanlagen. Ein Neuaufschwung der Anti-AKW-Bewegung wurde vorhergesagt. Am Abend des 6. Mai trafen sich in den Räumen der BUU in Hamburg etwa 80 Leute und berieten das weitere Vorgehen. Die Vertreter der GAL gaben die Ansetzung einer Hamburger Demonstration am 13.5. bekannt. Einigkeit über eine Grossaktion in Brokdorf konnte hergestellt werden. Uneinigkeit bestand über den Termin: Mehrheitlich sprach sich die Versammlung nach Intervention von Vertretern des BUND Hamburg für den 31. Mai als Termin in Brokdorf aus, da am 7. Juni in Würzburg der bereits seit längerem geplante Umwelttag verschiedener Verbände stattfinde. Nichtsdestotrotz sprach alles weiterhin von einer Grossaktion in Brokdorf am 7. Juni. Bis hierhin gab es keinen verantwortlichen Vorbereitungskreis für die weitere Vorbereitung.
Hamburg erlebte mit 35.000 Menschen am 13. Mai die grösste Demonstration seit langem. Am Vormittag des 13. Mai trafen sich kurzfristig zusammengetrommelt Leute aus der GAL Hamburg, von den Grünen in Schleswig-Holstein und Niedersachsen, aus den BIs Pinneberg, Lüchow-Dannenberg und der Redaktion Atom/ Lüneburg sowie aus dem KB. Einigkeit konnte hergestellt werden, auf eine Grossaktion in Brokdorf zu orientieren. Am Abend sollte das Treffen in den Räumen der Hamburger BUU im Anschluss an die Demonstration weitere Vorbereitungen diskutieren. Drei Leute übernahmen die Formulierung eines Entwurfs für ein Aufrufflugblatt noch für den selben Abend in der BUU. Etwa 80 Leute fanden sich an diesem Abend ein. Erstmals auch Anti-AKW-Gegner aus Bremen, Göttingen, Lüneburg, Lüchow-Dannenberg, Pinneberg, Husum, Kiel, Braunschweig und Münster (genauere Anwesenheitsliste siehe Brokdorf-Schnellinfo l). Ergebnis dieses Abends: Grossaktion am 7. Juni um 13 Uhr in Brokdorf, Brokdorf-Aktionskonferenz am 24. Mai in der Hamburger Kampnagelfabrik. Weder gab es an diesem Abend einen Aufruf (der vorliegende Entwurf wurde zur Kenntnis genommen), noch eine Festlegung auf einen Vorbereitungskreis. Umstritten blieb, ob die Brokdorf-Aktion bundesweit propagiert werden sollte oder ob, wie von einigen vorgeschlagen, am selben Tag in Brokdorf und Wackersdorf Grossaktionen stattfinden sollten. In Hamburg lag die praktische Vorbereitung weiterhin beim Büro der Hamburger BUU. Als erste Aktivität wurde bundesweit über den Verteiler von BUU und Göttinger Arbeitskreis gegen Atomanlagen das Brokdorf-Schnellinfo 1 verschickt, die Kampnagelfabrik für die Aktionskonferenz am 24.5. angemietet, ein Plakat erstellt, das für die Grossaktionen am 7. Juni in Brokdorf und Wackersdorf mobilisierte (mittlerweile hatte die Landeskonferenz der bayerischen Anti-AKW-BIs eine parallele Grossaktion in Wackersdorf beschlossen, Wert wurde darauf gelegt, dass diese Aktionen zeitgleich und unter der gleichen Stossrichtung durchgeführt werden, nicht konkurrierend, sondern parallel eine Aktion im Norden, eine im Süden).
Nach wie vor fehlten Strukturen. Es gelang nicht, einen Aufruf über das Plakat hinaus zu verabschieden. Die Grünen legten ein Veto gegen den vorliegenden Entwurf ein, da er eine Passage zu den Formen des Widerstands enthielt, in der auch die Sabotage gegen Atomanlagen als legitim dargestellt wurde. Autonome Gruppen beteiligten sich bis zu diesem Zeitpunkt nur beobachtend an den gemeinsamen Vorbereitungen.
Ein weiteres Vorbereitungstreffen fand am 20.5. in der Hamburger BUU statt, in dessen Folge das Brokdorf-Schnellinfo herausgegeben wurde. Neben der Tagesordnung für die Aktionskonferenz am 24.5. wurden folgende organisatorischen Vorbereitungen erreicht: Ein Kinderfest in Wilster am 7. Juni, eine Bootsdemonstration auf der Elbe, der Beginn der Arbeit eines Verkehrsausschusses, erste Vorergebnisse von Sani- und Ermittlungsaussschüssen. Auch jetzt gab es noch keinen irgendwie legitimierten Vorbereitungskreis. Ein hierfür angesetztes Treffen sah neben Mitgliedern der GAL, des KB, des Wendlandplenums, der Blockadegruppen und des Hamburger Landesjugendrings einen starken Block von ASTA-Hamburg-Vertretern, Jusos und DKP. Dieses Treffen wurde wegen inhaltlicher Differenzen insbesondere mit der DKP-Position in der Anti-AKW-Frage ergebnislos aufgelöst.
Am 24. Mai fand die gut besuchte Aktionskonferenz in der Kampnagelfabrik mit ca. 800 Vertretern aus Norddeutschland, zum Teil aus Hessen und NRW sowie Westberlin statt und endete (fast) ergebnislos. Erst auf der Konferenz selber lagen folgende Papiere vor: Aufrufentwürfe vom ASTA der Universität Hamburg sowie von mehreren Einzelpersonen und einem GAL-Vorbereitungskreis; Positionspapiere des Göttinger Arbeitskreises gegen Atomanlagen und des Hamburger Wendlandplenums; Vorschläge für einen Aktionsrahmen von der BBA Bremen, dem Wendlandplenum und Mitgliedern der Grünen aus Hamburg/ Schleswig-Holstein und Niedersachsen; ein Brokdorf-Blockade-Aufruf von gewaltfreien Aktionsgruppen. Nach heftiger und zuweilen handgreiflicher Debatte scheiterte die Konferenz ergebnislos. Es gab keine Einigung über einen Aufruf und Aktionsrahmen. Dennoch einigten sich im Anschluss ca. 60 Leute aus BIs und politischen Organisationen auf einen gemeinsamen Aufruf und Aktionsrahmen, der später von ca. 50 BIs, Organisationen und Verbänden unterstützt wurde.
Darüber hinaus gab es diverse Aufrufe von autonomen Gruppen, dem Landesjugendring, dem ASTA, der DKP, dem Aktionskreis Leben/Gewerkschafter gegen Atom, der Hamburger IG Druck und GEW sowie der Hamburger Jungsozialisten.
Trotz der gescheiterten Aktionskonferenz wurde auf dem Folgetreffen in der BUU am 27.5. ein Koordinierungskreis gebildet, dem Vertreter der Bl Pinneberg, BUU Hamburg, der GAL, des KB, der Hamburger Friedenskoordination, der Blockadegruppen, des Landesjugendrings angehörten. In der Folge wurde der Kreis durch Autonome und den Aktionskreis Leben erweitert. An den weiteren Treffen beteiligt waren auch der Hamburger ASTA und die DKP. Eine zumindest norddeutsche Gesamtkoordinierung gelang nicht. Absprachen gab es allerdings in der Sani-, Ermittlungs- und Verkehrsausschussarbeit und über die Durchführung der Kundgebung in Brokdorf mit den Grünen Schleswig-Holstein und der BBA Bremen. Dem Hamburger Koordinierungskreis kam daher nicht die Aufgabe einer Demoleitung zu, sondern in seiner Ursprungsrunde die Durchführung der Kundgebung zusammen mit den schleswig-holsteinischen Grünen, eine Mobilisierungsveranstaltung in der Hamburger "Grossen Freiheit", sowie in seiner erweiterten Zusammensetzung die Organisierung des Hamburger PKW/ Buskonvois und seiner Ankunft (?) in Brokdorf. Von den autonomen Gruppen nahmen Vertreter des Wendlandplenums die ganze Zeit über als Beobachter an den Zusammenkünften teil, andere autonome Strömungen arbeiteten erst in der letzten Woche vor der Brokdorf-Demo aktiv mit uns zusammen.
Der Hamburger Koordinierungskreis gab am 29.5. das Brokdorf-Schnellinfo 3 heraus, veranstaltete mit Jens Scheer, Lars Hennings, Vertretern der Blockadegruppen und der Kinderinitiativen am 2. Juni eine Pressekonferenz. Nach Diskussion in der BUU am 27.5. meldete Lars Hennings (Grüne SH) auf dem NWK-Parkplatz direkt am AKW Brokdorf eine Kundgebung an. Die Polizei sagte freie Zufahrt auf den Verkehrswegen zu. Einzige Auflagen: keine Eisenstangen für Transparente sowie die Aufstellung von Klohäuschen. Für die Kundgebung konnten als Redner gewonnen werden: Hannes Kempmann, Bl Lüchow-Dannenberg/ Grüne; Jens Scheer, BBA Bremen; VertreterInnen der Blockadegruppen, des AKL und der OOA Dänemark. Absagen bekamen wir von Walter Mossmann, Robert Jungk und Helmut Hirsch, die alle bereits andere Termine hatten (die ersten beiden in Wackersdorf). Am 5. Juni fand in der "Grossen Freiheit" mit 1000 Teilnehmern eine letzte Brokdorf-Mobilisierungsveranstaltung in Hamburg statt. Norbert Sack von der BUU Pinneberg stellte die Geschichte des Widerstands gegen das AKW Brokdorf dar, ein Vertreter des Wendlandplenums berichtete über die Erfahrungen im jahrelangen Widerstand gegen das End-/ Zwischenlager in Gorleben und die Arbeit im Landkreis, Mitglieder der verschiedenen Vorbereitungsausschüsse informierten über den letzten Vorbereitungsstand, aus dem Publikum wurden im wesentlichen Informationsfragen gestellt.
leben, lieben, kämpfen
Im Laufe des 3. Juni kam es dann in Hamburg zu einer Einigung zwischen den verschiedenen politischen Strömungen. Vorausgegangen waren dem u.a. zwei Treffen der autonomen Gruppen, auf denen diese ihr Vorgehen und ihre Aktionsziele für Brokdorf diskutiert haben. Ergebnis war offenkundig auch, dass Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen mit den anderen politischen Strömungen besteht. Als Konsequenz der gemeinsamen Beratungen an diesem Tag wurde festgehalten:
Sonnabend, 7. Juni, um 6 Uhr auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg: Die Aufstellung des Hamburger Konvois beginnt. Er startet um 7.20 Uhr, dazu stossen später die Busse des AKL, der vor dem Hamburger Gewerkschaftshaus abgefahren ist, und Bergedorfer Busse. Insgesamt umfasst der Hamburger Konvoi einige hundert PKW sowie etwa 100 Busse, schätzungsweise 10.000 Leute. Doch gelingt bereits bei der Konvoizusammenstellung die "gemischte Spitze" nicht. Eine viel zu lange PKW-Schlange befindet sich vor den ersten Bussen. Zudem zogen während der Fahrt immer mehr PKW nach vorne, die Busse wurden auseinandergerissen, weil sich entweder PKW dazwischen setzten oder ganze Busteile zum Pinkeln ausscherten und zurückfielen. Der Konvoikoordinierungskreis fand sich bis zu einem Kilometer hinter der PKW-Spitze am Lautsprecherwagen wieder.
Den ersten durch Polizeisperren bedingten Stop des Hamburger Konvois gab es zwischen Kellinghusen und Hohenlockstedt. Kradmelder berichteten, dass die Zufahrten Richtung ltzehoe auf der B 206 und der nachfolgenden B 77 hinter "Hungriger Wolf" von der Polizei gesperrt sind. Verabredungsgemäss wurde entschieden, in diesem Fall nicht weiter die Strecke durch ltzehoe zu nehmen, sondern über Hohenaspe und Kaaks weiterzufahren.
Der nächste Stop erfolgte kurz vor Hohenaspe. Kradmelder bericheteten von einer kleinen Sperre bei Kleve und einer grösseren bei St. Margarethen. Die an dieser Besprechung beteiligten Koordinierungsmitglieder entschieden, über Kaaks Richtung Kleve weiterzufahren. Vor Huje sollte dann noch einmal gestoppt werden, um die Meldungen der Kradmelder über den Charakter der Sperren abzuwarten.
Kradmelder verschiedener politischer Gruppen berichteten vor Huje übereinstimmend: Keine Materialsperre bei Kleve, drei Einsatzfahrzeuge und eine Gruppe von 30 bis 50 Polizisten; eine weitere Sperre (Container) in Richtung Heiligenstedten, auf der Strecke, die zu fahren nicht beabsichtigt war. Andere Kradmelder waren weiter in Richtung St. Margarethen geschickt worden, um die dortige Sperre, von der es hiess, dass sie massiver sei, auszukundschaften. Die anwesenden Koordinierungsmitglieder entschieden, in Richtung Kleve einzubiegen, vor der Sperre zu stoppen und dort das weitere Vorgehen zu beraten.
Als die meisten Koordinierungsmitglieder die Zugspitze bei Kleve erreicht hatten, tobte dort bereits die Auseinandersetzung mit der Polizei, die die Leute massiv auf der Strasse durch die PKW bis zu den Bussen zurücktrieb und eine Polizeisperre vor den ersten Bussen errichtete - fast zwei Kilometer hinter der Konvoispitze der PKW. (Siehe dazu den gesonderten Bericht zu Kleve). Eine Absprache untereinander war nicht mehr möglich.
In der weiteren Folge beteiligten sich Koordinierungsmitglieder an der Unterstützung der Sanis bei der Behandlung und dem Abtransport von Verletzten (siehe Sani-Bericht). Andere versuchten Verhandlungen mit dem Polizeieinsatzleiter Fleischer aufzunehmen, um eine kontrollierte Weiterfahrt des Konvois zu ermöglichen. Zunächst durften zwei Vertreter die Konvoispitze durch die Polizeiabsperrungen mit dem Motorrad abfahren, da die Polizei behauptete, ein Weiterfahren sei nicht möglich. Ergebnis dieser ..Besichtigungsfahrt": Mit vereinter Kraft lassen sich im Wege stehende Autos beiseiteschaffen und der Konvoi durchziehen. Nach Beratungen wurde entschieden: Wir dürfen nicht umkehren und die ersten einhundert Fahrzeuge und die dazugehörigen Leute im Regen stehenlassen. Deshalb sollte mit vereinten Kräften die Strecke freigemacht werden, um zunächst einen Lautsprecherwagen und die Busse nach vorne zu ziehen. Währenddessen sollten die zerschlagenen Fahrzeuge so weit möglich in Ordnung gebracht werden und die Leute quasi in die Mitte des Konvois genommen werden. Verhandlungen mit der Polizei ergaben zunächst, dass sie ihre Ketten an die Kreuzung Kleve/ B 431 zurückzogen. Nach Diskussion unter den Demonstranten forderten diese die Leute aus den Bussen auf, zum Schutz für die Pkw-Insassen mit vorzuziehen. Die Fahrer der PKW sollten wieder in ihre Autos steigen, um Platz für die mögliche Abfahrt zu schaffen. Es dauerte noch etwa zwei Stunden, bis die Polizei die Sperre an der Klever Kreuzung freigab. Polizeieinsatzleiter Fleischer verzögerte ständig weitere Verhandlungen und beriet sich mit seiner obersten Einsatzleitung. Sein erstes Angebot, die Leute dürften unter ..Beobachtung" der Polizei zu Fuss durch die Sperre, die Autos dürften dann einzeln nachziehen, wurde abgelehnt. Zwischen 17 und 18 Uhr gab die Polizei schliesslich die Kreuzung in Richtung Vaale und Sachsenbande frei und zog sich in Sichtweite zurück. Nach Beratung an der Spitze des Zuges und in Bussen war klar: Rückfahrt nach Hamburg, Treffen abends um 22 Uhr in der W 3 und vorsorgliche Bekanntgabe des Treffpunkts Heiligengeistfeld, Sonntag, 12 Uhr. Der Abzug klappte dann relativ gut, immer wieder wurde über Lautsprecher aufgerufen, den Leuten beim Reparieren und Fahrtüchtigmachen ihrer zerstörten Autos zu helfen, Ersatzreifen rauszurücken etc. So weit uns bekannt, klappte dies auch. Ein Teil der Busse am Ende des Zuges aus dem AKL-Konvoi, von der GAL und aus Bergedorf war auf eigene Faust umgedreht und nach Hamburg zurückgefahren.
Ankunft in Hamburg am 7. Juni abends. Überall in PKW und Bussen Empörung und Wut, Enttäuschung über das Ende in Kleve. Die einen wollten gleich noch was machen in Hamburg, Bergedorfer fuhren direkt beim NDR vor und machten dort eine Besetzung. Die anderen wollten Sonntag aufs Heiligengeistfeld kommen. Abends um 22 Uhr Versammlung in der W 3. Ca. 400 Leute waren anwesend, die Mehrheit politisch eher den Autonomen zuzurechnen. Auf der Versammlung einerseits die Stimmung, es muss jetzt was passieren, andererseits aber auch die Warnung, dass nach der Erfahrung von Kleve man nicht sicher sein könnte, ob die Polizei nicht die derzeitige Situation noch einmal nutzen könnte. In der Diskussion wurden dann alle möglichen Vorschläge gemacht, zum Flughafen zu gehen, um ihn zu blockieren, aufs Heiligengeistfeld zu ziehen, um sich dort erstmal zu treffen und vor Ort zu beraten. Das Treffen endete ergebnislos und ohne konkrete Orientierung. Sicher war, dass auch unabhängig von einem Beratungsergebnis nach den Klever Ereignissen auf jeden Fall Leute aller an der Brokdorf-Demo beteiligten Strömungen zum Heiligengeistfeld kommen würden.
Sonntag, 8. Juni, 12 Uhr. Zeitgleich treffen sich Mitglieder des Vorbereitungskreises im BUU-Büro zur Auswertung der Brokdorfer Ereignisse und zur Vorbereitung einer Pressekonferenz um 14 Uhr, während sich auf dem Heiligengeistfeld/ U-Bahn Feldstrasse die ersten Leute versammeln. Kurz vor 12.30 Uhr kommt der Anruf: Die Bullen räumen auf dem Heiligengeistfeld auf. Kurze Beratung: Ein Teil fährt mit Megaphonen zum Heiligengeistfeld, ein anderer macht die Vorbereitung der Pressekonferenz weiter. Das war's.
Heiner
(Dieser Bericht für die Broschüre des Ermittlungsausschusses ist allein von mir zu verantworten. In der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit war kein gemeinsamer Bericht herstellbar.)
"Tschernobyl ist keine Erfahrung für die anerkannten Systembekämpfer, sondern für Hinz und Kunz, vor allem für die Familie Hinz und Kunz" schrieb Klaus Hartung einen Tag vor der Brokdorf-Demonstration vom 7. Juni in seinem Kommentar "Wider das Bürgerkriegsszenario" in der TAZ.
Tschernobyl war eine Erfahrung für Hinz und Kunz und für die anerkannten Systembekämpfer. Nicht mehr zunächst einmal. Aber was macht man mit einer solchen Erfahrung? Hinz und Kunz sind betroffen, je näher am Datum des Ereignisses, um so mehr, je weiter weg ... und was dann? Hinz und Kunz, vor allem die Familie, lässt sich aktuell vom linken und alternativen Wissenschaftler gerne sagen, was man denn nach Tschernobyl zu essen habe. Gut. Aber aus verändertem Essverhalten folgt noch kein anderes Wahlverhalten - siehe Niedersachsen - und erst recht nicht eigenes Handeln, aktives Bekämpfen dieses Staates, der einem die mörderischen Folgen des Atomprogramms aufzwingt. Was also will Schlaumeier Hartung sagen, wenn er Hinz und Kunz gegen die anerkannten Systembekämpfer ausspielt? Letztere stören ihn. Wobei? Bei der Bekämpfung des Systems? Man darf wohl eher vermuten, dass die Gewinnung von Wählerstimmen für die Grünen gemeint ist, die gestört wird. Damit ist er sich einig mit vielen Grünen, die nach Niedersachsen wissen, Brokdorf und Wackersdorf sind schuld an der Nichteinlösung der eigenen Erwartung von gesteigerten Wahlprozenten nach Tschernobyl. Kein Wunder, dass allerorten rund um Wackersdorf und vor und nach
Brokdorf Grüne sich distanzieren. Autonome ,,Fighter" nicht mehr von Provokateuren unterscheiden etc. Und wofür? Vielleicht für Ausstiegsszenarien a la Fischer oder mögliche Abwandlungen in rot-grün? Man kann es vermuten, denn die grüne "Erkenntnis", dass dieses System so einfach nicht zu stürzen ist, hat ja ihre Wahlbeteiligung beflügelt, hat ihren Denkprozess in Richtung "Realpolitik" beschleunigt, hat sie auf die Vereinseitigung eines Weges von Gesellschaftsveränderung gebracht, der andere Wege nicht mehr wahrnehmen kann, weil sonst diese Einbahnstrasse für sie zur Sackgasse wird und der deshalb die Gesellschaft auch nicht verändern wird, wenigstens nicht grundlegend.
Wie Hartung weiss Harald Schumann einen Tag nach Brokdorf in der TAZ, andere Aktionsformen, andere Demonstrationsorte müssen her. Und noch einen Tag später meint Martin Kempe in der gleichen Zeitung, eine Denkpause müsse her, denn die Atomkraftwerke und nicht Gewaltszenen an irgendwelchen Bauzäunen müssten Auseinandersetzungsthema sein. Brillanter Gegensatz!
Legen wir lieber keine Denkpause ein, sondern denken verschärft nach. Warum wohl kommt es zu Gewaltszenen an irgendwelchen Bauzäunen? Weil es das Atomprogramm gibt und Profiteure sowie einen Staat, die es mit allen Mitteln durchziehen wollen. Dieser Staat registrierte nach Tschernobyl nicht nur grössere Betroffenheit sondern auf dieser Basis auch grössere Gewaltakzeptanz in der Bevölkerung. Erstere werde sich mit der Zeit schon legen (bis zum nächsten mal), so kalkuliert man, letztere darf sich auf keinen Fall organisieren. Da der Staat nicht von seinen Zielen abweichen will, setzt er seine Staatsgewalt ein. Repressiv, aber flexibel, wie Brokdorf gezeigt hat: Mal mit Gasgranaten in die Masse, wie am AKW-Gelände; mal mit Strassensperren und Polizeischlachten wie in Kleve; mal mit der Kesseltaktik wie in Hamburg. Wohlgemerkt: so wurde in Brokdorf reagiert. Ganz anders am gleichen Tag in Hamm-Uentrop, ganz anders eine Woche später in Wiesbaden. Und das lag nicht daran, weil in einem Land die CDU regiert (Schleswig-Holstein) und in den anderen die SPD (Hessen und NRW), wie so manches naive rotgrüne Gemüt denken mag. Hamburg hat eben nicht einen durchgeknallten SPD-Innensenator, sondern dort werden die gleichen Ziele verfolgt. Der Staat reagiert überall dort soft, wo er keinen anderen Protest zu befürchten hat, als den, den Hartung, Schumann und Kempe sowie viele Grüne vorschlagen. Und er reagiert vor allem dort repressiv, wo sich die verschiedenen Formen des Protestes vermischen, wo die Distanzierung und Entmischung nicht gelingt, wo er befürchten muss, dass Protest und Widerstand konsequent und entschlossen verfolgt werden und sich zu organisieren beginnen könnten. Das will er verhindern und unterdrücken, nicht einfach nur den Protest - denn das wissen kluge Staatsköpfe, der ist nicht zu verhindern, so lange es das Atomprogramm und Folgen a la Tschernobyl gibt. Er ist aber zu kanalisieren.
Deshalb ist der selbstauferlegte Verzicht auf Grossaktionen wie Brokdorf kein Ausweg, sondern das eigene Mitgraben an diesem staatlichen Kanal, auch dann, wenn es subjektiv meint, Umwege zu finden und den Staat zu überlisten. Eine absurde Vorstellung, auf der einen Seite das TAZ-Bild des übermächtigen Staates zu zeichnen, wie geschehen, um dann auf der anderen Seite das Versprechen abzugeben, mit anderen Aktionsformen den Staat zu erweichen. Die Konsequenzen aus Brokdorf müssen andere sein!
Nein, Brokdorf war im Ergebnis kein Erfolg. Dem Staat ist es gelungen, diese Aktion massiv zu behindern, teilweise zu verhindern. Nur sind deswegen andere Wege nicht besser, und wir müssen diskutieren, dass wir nicht bei einer Einmalaktion stehenbleiben. Brokdorf hatte auch eine ganze Menge positiver Aspekte: Es wird wieder über Grossaktionen diskutiert. Es ist ansatzweise gelungen, ein gemeinsames Vorgehen völlig unterschiedlicher Strömungen zu erreichen und dieses zu organisieren. Welch unpolitischer Unsinn, der da aus dem Aufhalten des Hamburger Konvois die Schlussfolgerung zieht, Konvoi Nein danke, weil es immer noch Schlupflöcher für PKW, Busse und Bundesbahn gab, die Leute zum AKW führten. Na klar, wer eine Woche vorher nach Brokdorf gefahren wäre, um dort zu protestieren, der wäre noch besser durchgekommen. Der Wert von Grossaktionen als einer Aktionsform unter den vielen, die in der letzten Zeit praktiziert wurden und weiter praktiziert werden müssen, besteht doch nicht darin, am Ende feststellen zu müssen, dass auf anderen Nebenpfaden das AKW leichter zu erreichen gewesen wäre, sondern in der Kombination aus massenhafter Mobilisierung und Aktion, in der gemeinsamen politischen Aktion. Und die sollte in Brokdorf und im politischen Agieren des Staates danach zerschlagen werden. Hätten wir das gleiche Ziel durch unterschiedliche Anfahrten (die ja sowieso schon diesesmal praktiziert wurden) zu erreichen versucht, wir hätten die gleiche Härte des Staates an anderer Stelle zu spüren bekommen. Deswegen: So wenig wie ich sagen will, goldrichtig, die nächste Grossaktion, den gleichen Konvoi, so wenig gilt allerdings der Umkehrschluss. Denn dann landen wir bei unkoordinierten dezentralen Aktionen oder Grossaktionen wie in der Friedensbewegung. Darauf einfach zu verzichten, heisst sich eines wesentlichen Mobilisierungsinstruments und politischen Druckmittels in der gemeinsamen Aktion zu berauben. Das ist allerdings eine politische Nullösung.
Was könnten Schlussfolgerungen aus den Erfahrungen vom 7. Juni sein?
Wir brauchen - und das nicht erst seit dem 7.6. - eine Vielfalt von politischen Aktionsformen, in denen sich die neumobilisierten Menschen aktiv engagieren können, wir brauchen wieder Bis und die Beratung von Aufklärung und Aktion.
Wir brauchen weiterhin Grossaktionen, und zwar so lange, wie dieses Mittel überhaupt aktuell anwendbar ist: Es ist für uns nicht einfach beliebig erzwingbar, sondern konjunktur- und stimmungsabhängig. Vor Tschernobyl wäre niemand ernsthaft auf die Idee gekommen, man könnte einfach aus Anlass der Inbetriebnahme des AKW eine solche Brokdorf-Aktion ansetzen. Also muss jetzt das Eisen geschmiedet werden, so lange es noch heiss ist. Das kann für die bevorstehende Inbetriebnahme des AKW Brokdorf bedeuten, einen Tag X festzulegen, zu dem erneut mobilisiert wird. Erfährt man diesen Tag rechtzeitig, ist die Festlegung kein Problem. Sonst beispielsweise am Wochenende darauf. Dabei sind die norddeutschen Sommerferien zu berücksichtigen, schliesslich erscheint es wahrscheinlich, dass die aufgeschobene Inbetriebnahme gerade im Sommer erfolgt. D.H. eine erneute Grossaktion müsste auf ein solches Mobilisierungsdatum gelegt werden, wo die urlaubenden Leute wieder erreichbar sind (was eine kleinere Vorabaktion nicht ausschliesst). Ob und wieweit die Bereitschaft dafür da ist, müsste in den kommenden Wochen in ausgiebiger Auswertung der Aktion vom 7. Juni erfolgen. Vielleicht sieht es nicht jeder so, aber aus meiner Sicht war Brokdorf am 7.6. problematisch, weil - über Möglichkeiten und Ziele einer solchen Aktion vorher zu wenig diskutiert wurde; weil es zu wenig Strukturen gibt, in denen gemeinsam diskutiert wird; weil die Organisation und Abstimmung untereinander zu schlecht war; weil zu viele ihre Autonomie hinter der Ablehnung von Strukturen und Demoleitung verbergen und dabei verkennen, dass Grossaktionen organisiert und geleitet werden müssen, das hat uns die andere Seite in Brokdorf glänzend vor Augen geführt. Mit möglicherweise dahinterstehenden Ängsten wird man am besten fertig, indem man einen intensive, in der Bewegung und unter den Beteiligten nachvollziehbaren Streit und Diskussion um Ziele und Vorgehen führt und sich nicht oberflächlich einigt, wo dann hinterher sowieso jeder macht, was er für richtig hält. Da lacht sich die Gegenseite doch kaputt.
Wir haben in einer möglichen neuen Anti-AKW-Bewegung die Chance, anders als in der Friedensbewegung und den in ihr dominanten politischen Kräften, radikale Inhalte und Aktionsformen zu kombinieren und trotz allem nicht auf Breite in der Mobilisierung zu verzichten. Es lohnt, sie zu nutzen. Denn ohnedem stehen die Chancen auch nicht besser.
Heiner M.