Betroffene geraten in Atemnot

Die Einführung von CS in der Bundesrepublik

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Brokdorf 1981: Viel CN, wenig Wirkung


Bremen, 6. Mai 1980: Militante Kriegsgegner setzen den Auftakt der Friedensbewegung: Vor dem Bremer Weserstadion lieferten sie der Polizei stundenlange Strassenschlachten. Drinnen im Stadtionrund verhüllten Rauchschwaden die gross angekündigte Rekrutenvereidigung vor Bundespräsident Carl Carstens. Aufgebrachte Sicherheitsfanatiker von SPD bis CSU verfielen in schrille Töne: Neue Waffen braucht das Land, her mit Distanzmitteln!

Bayern, März 1981: Staatssekretär Dr. Neubauer aus dem Innenministerium begrüsst die von der grossen Brokdorf- Demonstration heimkehrenden Polizeieinheiten. Der Augenblick verlangt nach markigen Worten: "Es ist an der Zeit, den Grundsatz der Verhältnismässigkeit durch pseudointellektuelles Gefasel nicht überzustrapazieren." (1) Die dumpfe Drohung hatte einen durchaus erfreulichen Hintergrund, denn die winterlichen Temperaturen in der Wilstermarsch hatten die Wirkung des Tränengases CN gewaltig abgeschwächt, so dass der Polizeieinsatz vor dem AKW- Bauzaun nicht so recht in Schwung kam.

Aufrüstung oder Deeskalation?

Gesagt, getan: Im Sommer 1981 kam es zu jener denkwürdigen Waffenschau auf dem Gelände der ehemaligen Dachauer SS-Schule. Dort, wo Adolf Eichmann ausgebildet worden war, ist heute eine Abteilung der bayerischen Bereitschaftspolizei kaserniert. Vor den Augen Innenminister Gerold Tandlers und seiner Gang führten abkommandierte Polizeifreiwillige Scheinangriffe auf Wasserwerfer. Dichte CS- Wolken trieben sie zurück, einige brachen im Nebel zusammen. "Das Arrangement war doch vorzüglich!", befand ihr Minister anschliessend tränenden Auges, die Vorführung hatte ihn überzeugt: Als erstes Bundesland führte der Freistaat im August 1981 daraufhin das von der Genfer Konvention geächtete "Kotzgas" CS ein (2). Die anderen christlichen regierten Bundesländer folgten mit einigen Monaten Abstand; nur die sozialdemokratischen Innenminister und ihre FDP-Kollegen in Bund und Ländern wollten sich mit dem vorhandenen Arsenal zufrieden geben, um den Burgfrieden mit der Anti- Raketen- Bewegung nicht leichtfertig auf Spiel zu setzen. Deeskalation hiess das Rezept.

Die Wirkung von CS (Ortho- Chlorbenzylidenmalondinitril) und die Vorteile gegenüber dem jahrzehntelang benutzten Tränengas CN (Chlorazetophenon) hatten sich die Innenminister durch ein Gutachten des halboffiziellen Fraunhofer-Instituts bescheinigen lassen: Bereits 1979 war dort die Bitte der Innenministerkonferenz eingetroffen, zu klären, "ob die Verwendung von CS in Reizstoffsprühgeräten unbedenklich ist." (3) Die Antwort des massgeblich durch Aufträge des Innen- und Verteidigungsministeriums finanzierten Institutes lautete wie erwünscht, "CS ist zur Zeit ... das wichtigste und sicherste Mittel der sog. incapacitating agents, d.h. der handlungs-/ kampfunfähigmachenden Stoffe." (4)

"Demoralisierende Wirkung erwünscht"

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In Kopfhöhe auf bewegliche Ziele (Startbahn-West 1982)

Das klang vielversprechend, und erst recht die Aufzählung der Wirkungen im einzelnen: "Im Augenbereich in wenigen Sekunden heftiges Brennen, Schmerzen, Tränenfluss und eine Bindehautentzündung. (…) In den oberen Luftwegen stellen sich Husten, Zungenbrennen ein und - im Sinne einer durchaus erwünschten Zunahme der unerträglichen, demoralisierenden Wirkung - ein brennendes Gefühl der Brustbeklemmung." Dies "ist typisch für CS- Gas damit verbundene Angstgefühl verstärkt die Reizstoff- Gesamtwirkung. Betroffene unterdrücken Ein- und Ausatmung und geraten damit in Atemnot … Als weitere Effekte nannte die Studie Hautrötungen und -schmerz sowie Übelkeit und Erbrechen. Bis auf den Kotzeffekt und die ausgeprägte Atembeeinträchtigung waren die genannten Wirkungen zwar auch vom CN bekannt, aber das klassische Tränengas hatte zwei Nachteile: Erfahrene Demonstranten zeigten einen gewissen Gewöhnungseffekt, und niedrige Temperaturen schwächen den Einsatzerfolg. Überdies tritt die CS- Wirkung weitaus schneller ein und geht in der Regel auch eher zurück - in den Augen von Polizeitaktikern ein enormer Vorteil, um eine unmittelbarere Wirkung und höhere Festnahmeziffern zu erreichen.


"Medizinisch und toxikologisch unbedenklich"

Mit Taschenspielertricks und methodischen Fehlern gelang der Fraunhofer- Studie der Nachweis einer weitaus höheren Giftigkeit von CN gegenüber CS: "In den USA kam es während einer 40-jährigen Verwendung von CN im Polizei- Einsatz zu einem Verlust von über 100 Augen", enthüllten die Untersucher ihren Auftraggebern und folgerten, dass CS deshalb eine "ungleich höhere Sicherheit" besitzt und "allein schon aus diesem Grunde favorisiert werden sollte." Ein ungültiger Beweis, denn zu den Augenschäden hatte CN aus Chemischen Keulen ("Chemical Mace") geführt - ein Effekt, der nicht vergleichbar ist, weil Untersuchungen von CS aus chemischen Keulen nicht vorliegen. Wissenschaftler sicherten ihre Beweisführung um die gesundheitliche Ungefährlichkeit des CS durch falsche Masseinheiten, Nichtbeachtung kritischer Quellen und gezielte Auswahl vorhandener Messwerte aus, überdies wenig aussagekräftigen, Tierversuchen ab. Fazit- "Aus medizinischtoxikologischer Sicht und nach dem heutigen Stand des Wissens ist die Verwendung von CS in Reizstoffsprühgeräten unbedenklich."

Formel CN - gif (1k)
Chloracetonphenon (CN)


Unabhängige Wissenschaftler mochten sich dieser Empfehlung nicht anschliessen. Sie machten ihre kritische Beurteilung des "Gefälligkeitsgutachtens" - so der vor kurzem gestorbene C-Waffen- Experte und Chemiker Dr. Alfred Schrempf - insbesondere an dem grundlegenden Widerspruch fest, dass CS laut Regierungsgutachten "in wenigen Sekunden zur Handlungsunfähigkeit führt", aber trotzdem "in der Regel durch sofortige Flucht eine Selbstlimitierung" erfolgen solle (5).

Dass "authentische Berichte über Todesfälle nach CS beim Menschen … nicht bekannt" seien, hielt einer Überprüfung in der Fachliteratur nicht stand. Der CS-Einsatz der US-Army gegen südvietnamesische Dörfer und Tunnelsysteme forderte mindestens 689 Todesopfer, dokumentierte das Russel-Tribunal. Einzelne Todesfälle wurden auch aus Nordirland, den USA und Frankreich gemeldet (6).

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2-Chlorbenzyliden-malonitril (CS)


Der Kieler Toxikologe Prof. Ottmar Wassermann bemängelte ausserdem die fast ausschliessliche Auswahl der Testpersonen aus Militär- und Polizeieinheiten: "Nicht repräsentativ für den Durchschnitt der bei einem CS-Einsatz betroffenen Bevölkerungsgruppe.", beispielsweise hinsichtlich der "individuellen Empfindlichkeit" von Bronchitis- oder Asthmakranken (7). Gerade dieser Personenkreis wird auch in britischen und niederländischen Regierungsgutachten als Risikogruppe genannt (8).

Doch die Bedingungen für tödliche Konzentrationen "sind in der Praxis des Reizstoff- Einsatzes nicht erreichbar", behauptete die Fraunhofer- Studie und schloss mit der Rückversicherung: "die letzte Sicherheitsgarantie obliegt damit der Sorgfalt des Anwenders."

"Keine technischen Schwierigkeiten"?

Umgehend zogen die Polizeitechniker nach: Für das gesamte Arsenal der bisherigen CN- Kampfstoffträger legten sie Nachfolgeuntersuchungen vor. Mehrere hundert "Freiwillige" der Polizei mussten sich bundesweit den CS- Dämpfen aus Chemischen Keulen, werf- und abschiessbaren Tränengaskörpern und grossen Sprühgeräten aussetzen. Allein 200 Beamte liessen Polizeiführer von April bis Dezember 1981 gegen das Wasser-CS- Gemisch aus Wasserwerfern anrennen, dann war alles klar: " ... keine technischen Schwierigkeiten ... völlig unbedenklich ... In der Regel sollte eine Konzentration von 300 mg CS/1 im Mittel verwendet werden, es sei denn, dass taktische Gegebenheiten ein Abweichen von diesen Mischungsverhältnissen erforderlich machen." (9)

Der vertrauliche Wasserwerfer- Bericht war kaum über die dienstinternen Verteiler gelaufen, da passierte eine tödliche Panne: Ein kerngesunder 19-jähriger Polizeibeamter ertrank im Mai 1982 beim Baden. Tags zuvor hatte er sich als Versuchskaninchen völlig ungeschützt zweimal einem Wasserwerferregen mit ansteigenden CS-Konzentrationen aussetzen müssen und war dabei kurzfristig zu Boden gegangen. Ein unter fragwürdigen Umständen durchgeführtes gerichtsmedizinisches Gutachten konnte einen Zusammenhang des mysteriösen Todes mit dem CS-Test letztlich nicht ausschliessen (10). Die Umrüstung in den schwarz regierten Bundesländern lief ungehindert weiter.

Fast vier Jahre lang ergab sich keine günstige Gelegenheit, das Zeug unters Demonstrantenvolk zu bringen. Es war die Anti-AKW- Bewegung, die am Ostermontag 1986 in Bayern die Premiere erlebte: Mit einem kombinierten CN-CS- Einsatz gingen 41 Wasserwerfer, das weltweit bislang grösste Aufgebot, und 3.000 Beamte zu Fuss gegen die Menge vor dem Bauzaun der oberpfälzischen WAA vor, Im Kampfgasnebel scheiterte der Versuch, "am Bauzaun zu rütteln". Mehrere hundert Menschen mussten sich hustend, spuckend und nach Luft schnappend in die Behandlung der Demo-Sanis und Bl-Ärzte begeben. Abseits vom Geschehen, aber nach Zeugenaussagen noch in einem Bereich, wo die Reizstoffe Wirkung zeigten, verspürte der 38-jährige Alois Sonnleitner einen nahenden Asthma- Anfall. Sein mitgeführtes Spray bewirkte keine ausreichende Besserung seiner Beschwerden. Auf der Suche nach einer Stromquelle für sein elektrisch betriebenes Atemgerät wandte er sich an die Polizei. Die liess ihn in das nächste Krankenhaus einliefern. Dort stellten die Ärzte seinen Tod fest.

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Der Polizeibericht will keinen Zusammenhang zwischen dem CS-Einsatz und dem Asthmaanfall zulassen. Doch bei Asthmakranken können schon wenige Moleküle eines Reizstoffes einen Erstickungsanfall auslösen. Eine gerichtsmedizinische Obduktion wird in diesen Fällen aller Erfahrung nach keine CS- Abbauprodukte im menschlichen Körper finden.

Polizeibeamte mit Asthma oder allergischen Erkrankungen können sich von Demonstrationseinsätzen befreien lassen. Schon das Fraunhofer- Gutachten hatte empfohlen, "sollten Polizeibeamte zu diesen seltenen Allergikern gegenüber CS rechnen, wären sie vom Umgang mit Reizstoffen auszuschliessen".

Der Demonstration vor dem Wackersdorfer Bauzaun kündigte die Einsatzleitung nicht einmal die CS- Premiere an.


Quellen:

  1. DIE POLIZEI, 8/81
  2. Die Welt, 9.7.81; Die Zeit, 16.7.81; Die Tat, 17.7.81; FR 14.7.81.
  3. Schreiben liegen den Autoren vor.
  4. U.a. veröffentlicht in CILIP 9-10, Dez. 1981
  5. siehe 4.
  6. U.a. in Ruhe oder Chaos, Technologie der politischen Unterdrückung, Hamburg 1982.
  7. Leserbrief vom 19.10.82 an die Kieler Nachrichten, Abschrift in strassenmedizin, Mitteilungsblatt der Saritätergruppen. Dez. 1982
  8. Himsworth Commitee (1969, 1971): Report of the Enquiry into the Medical and Toxikological Aspecls of CS, London, H.M.S.0. Cmnd. 4173 (I) and 4775 (II).
    Elskamp/ de Mik: CS-Tränengas, Eine toxikologische Auswertung, Gutachten für das Innen- und Justizministerium der Niederlande, Juli 1982,
  9. Abschlussbericht der Technischer Kommission (TK) des Arbeitskreises II (AK II) der Innenministerkonferenz (1 MK) über Versuche mit dem Wasserwerfer unter Verwendung des Reizstoffes CS, Anfang 1982.
  10. Med. Hochsch. Hannover, Institut für Rechtsmedizin, Aktenzeichen L 188/82s vom 9.12.82: Leichensache Michael Rolf.