Tanzender Derwisch

Die Polizei macht Wackersdorf zum Testfeld neuer Waffen

Es klingt wie aus dem Handbuch zur Gueriliabekämpfung: Wie "Fische im Wasser" seien die "Chaoten in der Menschenmenge geschwommen", deshalb hätten die Hubschrauber grossflächig CS- Kampfstoffbehälter über der Demonstration abwerfen müssen. So begründet ein Polizeioffizier den Amoklauf seiner Einheiten am Pfingstwochenende. Und sein Chef, Innenminister Karl Hillermeier, trommelt, aus seiner Sicht habe "schon lange kein friedlich gestimmter Atomkraftgegner mehr etwas im Taxöldner Forst zu suchen". Sein Rezept: erneute Verschärfung des Demonstrationsrechtes und vor allem neue Waffen. Vor Ort in der Oberpfalz sind seine Ansichten schon Wirklichkeit: Sieben Wochen nach der unangekündigten CS- Premiere zu Ostern kamen über die Pfingsttage CS-Trägerwaffen zum Einsatz, die bislang in der BRD unbekannt waren. Der WAA- Bauplatz entwickelt sich zum Testfeld für neue Polizeiwaffen und -konzepte, wie in den Jahren zuvor die Startbahn- West und der Zwischenlager- Bauplatz im Wendland.

Ein komisches Ding hüpfte da über den Boden, klein, rund, schwarz und übelriechend - zum Kotzen, also eindeutig CS. Das hatte der demonstrationserfahrene Zugereiste noch nicht gesehen. Seine gedankenschnelle Reaktion: ausbrennen lassen, einwickeln, einstecken. Wenig später der nächste Hüpfer. Diesmal ein Metallzylinder, der vor seinen Augen in drei Teile auseinanderspringt. Der nähere Blick gab Gewissheit: "Warning: May cause severe injury - give medical aid to persons seriously affected" - Deutlich weist die Schrift auf der metallenen Hülse der us-amerikanischen Federal Labarotories Inc. auf die Gefahren hin: "Achtung: Kann ernste Verletzungen verursachen - stark Betroffene benötigen medizinische Versorgung!". Der Metallkörper trägt einen Zündbügel am Kopf, aus mehreren Düsen strömt der CS- Kampfstoff. Besonderer Clou: Beim Aufprall am Boden soll die zylindrische Metallhülse (Durchmesser 65 mm) in drei Einzelkörper zerfallen, von denen jeder sich stark erhitzt. Fünf an den Böden befindliche Düsen lassen die scharfkantigen Subkörper dann wild durch das Gelände kreiseln. Ein Festhalten und Zurückwerfen, wie bei den bisher gebräuchlichen Kampfstoffbehältern möglich, wird dadurch erschwert.

"Tanzender Derwisch"

 

Tanzender Derwisch


Ein reizender Gummiball

Froschähnliche Bewegungen vollführt auch der zweite aufgefundene CS- Körper, der über Pfingsten erstmalig zum Einsatz kam. "Frog" - Frosch nennen amerikanische Polizeitechniker die Gummikugel "519 CS" der Federal Labarotories Inc. Ebenfalls mit einem Zündbügel wie bei herkömmlichen scharfen Handgranaten versehen, erfährt die faustgrosse brisante Kugel bei jedem Aufprall einen willkürlichen Rückstoss und zischt ab wie ein Squash- Ball mit Eigenantrieb. Deutsche Polizeitechniker nennen den reizenden Gummiball mit den drei Düsen am Äquator deshalb auch scherzhaft "tanzender Derwisch".

Meditativ ist die Wirkung nicht gerade: Allein die metallischen Zünder und die scharfen, stark erhitzten Kanten der "Triple Chasers Granade" (Drillingsjagdgranate) bergen die Gefahr schwerer mechanischer Verletzungen. Zumal die unberechenbaren Bewegungen ein Ausweichen zum Glücksspiel machen. Ausserdem fehlt die herkömmliche schätzende Styropor- Ummantelung, und die Einsatzkräfte haben praktisch keine Erfahrung mit dem Einsatz der brisanten Knallfrösche.

Eine Woche nach dem Vorfall folgte prompt ein dreistes Dementi aus dem bayerischen Innenministerium. Dort ist angeblich nichts über die Anwendung dieser neuartigen CS-Trägerwaffen bekannt. So bleibt vorerst ungeklärt, auf wessen Verantwortung der Einsatz erfolgte.

Fest steht nur, dass über Pfingsten die Kampfstoffvorräte zeitweilig ausgingen und per Hubschrauber u.a. aus dem sozialdemokratischen Nordrhein-Westfalen aufgefüllt wurden. Möglicherweise schaffte die bayerische Polizei in der Zwischenzeit alles an den Bauzaun, was nur irgendwie in eigenen Arsenalen oder beim Bundesgrenzschutz aufzutreiben war. Vielleicht half aber auch eine Einheit der US-Army aus: die Militärpolizei der Besatzungsstreitkräfte verfügt über die CS- Granaten 515 und 519, mit denen gelegentlich randalierende Soldaten in Arrestzellen ausgeräuchert werden.

Ebenfalls dementiert wurde der Einsatz eines Explosivkörpers, der am 7.6. einem jungen Mann zwei Finger wegriss. Nach Augenzeugenberichten und Filmaufzeichnungen kam der Knallkörper aus Richtung der Polizei geflogen. Da er während eines CS- Wurfkörpereinsatzes zu Boden fiel, wollte ein Demonstrant ihn zum Absender zurückbefördern. Nach einer Verzögerung von einigen Sekunden explodierte ihm der Knaller in der Hand. Teile des Sprengkörpers liess die SPD-Fraktion im bayerischen Landtag untersuchen. Das Ergebnis besagt, dass es sich um einen Explosivkörper handelt, der nicht zum Polizeiarsenal gehört. Vielmehr könnten die untersuchten Teile Reste eines Sprengkörpers sein, wie er von in Seenot geratenen Schiffsbesatzungen zur Signalgebung verwendet wird. Diese Version klingt verdächtig nach bayerischem Seemannsgarn.

Fundsache in Wackersdorf

 

Hochexplosive Dose, gefunden in Wackersdorf (Pfingsten 1986): riss so eine Anti-Terror-Waffe zwei Finger ab?


Feldversuche in Aufstandsbekämpfung

Ein ähnlicher Fall ereignete sich vor drei Jahren an der Frankfurter Startbahn- West: Dort hatte eine Einsatzgruppe mehrere Blend-Schock-Granaten in die Menschenmenge geschleudert. Trotz mehrerer Zeugenaussagen wagte das Polizeipräsidium ein Dementi und musste es zurückziehen, als von Demonstranten ein Beweisstück vorgelegt werden konnte. Das ausgebrannte Exemplar war der Aufmerksamkeit eines eigens zu nächtlicher Stunde ausgeschickten Säuberungstrupps der Polizei entgangen.

Auch der Startbahn- Widerstand erlebte eine Fülle polizeitaktischer und technischer Neuerungen: Jahrelang übten hier Wasserwerferbesatzungen Zielschiessen auf die Menge vor dem Zaun, auch im Flörsheimer Wald tobte eine Gruppe der GSG 9 durch das Unterholz und später ging auch hier die Polizeiführung dazu über, überall im Gelände Einsatzgruppen und Hundertschaften umherstreifen zu lassen. Und Innenminister und -senatoren aus der gesamten Bundesrepublik verschickten ihre Bereitschaftspolizeien zu Wochenendtrainingseinsätzen vor der Flughafenmauer. Kilometer um Kilometer wurde so zeitweilig der Protest vom Bauzaun abgedrängt. Das aus Polizeisicht bewährte Konzept erfährt jetzt seine Neuauflage in Wackersdorf. Nur, dass im Freistaat für die Innere Sicherheit gleich noch etwas mehr Kahlschlag betrieben wird: Seit Mitte Juli erstreckt sich vor dem WAA- Bauzaun ein bis zu 200 Meter breiter Streifen, der den Charme eines Minenfeldes verbreitet.

Am Wochenende nach der Rodung, anlässlich des Sonntagnachmittagspazierganges flackerten denn auch schnell ein paar Feuerchen im Zaunvorfeld auf. Nach vergeblichen Löschversuchen mit Wasserwerfern flog ein Hubschrauber mit einem überdimensionalen Wassertrichter ein und löschte die Flämmchen punktgenau von oben. Einsatzbegründung der Polizei: Waldbrandgefahr. Allein dem Sicherheitsstreifen waren zuvor mehr als 27 Hektar Wald zum Opfer gefallen.

Kampfstoffgeschoss TP 70/4

 

Kampfstoffgeschoss TP 70/4: durchschlägt Spanplatten bis 40 mm, eingesetzt gegen Demonstranten in Wackersdorf (Pfingsten 1986)