Zürich, 15. Juli 1986
Liebe Freunde,
es stimmt mich bitter, wenn ich höre, dass nun in Bayern Gummigeschosse aus der Schweiz importiert werden samt dem dazugehörigen "Abschussgerät", wie es der Direktor der Eidgenössischen Waffenfabrik in Bern beschönigend nennt, um nicht mit dem Waffenausfuhrgesetz in Konflikt zu geraten. Sechs Jahre nachdem ich durch ein solches Geschoss die Sehkraft auf einem Auge verloren habe, ist der Schmerz über den Verlust zwar verblasst, an die Behinderung habe ich mich gewöhnt, aber dass nun diese Waffe zur internationalen Standardausrüstung im Demonstrationseinsatz werden soll, damit kann ich mich nicht abfinden und das gilt es zu verhindern.
Ich bin mittlerweile skeptisch geworden, als "Opfer" etwas ausrichten zu können. Hier in Zürich erinnert man sich bloss noch an eingeschlagene Scheiben, die längst wiedereingesetzt sind. Von den Opfern will man nichts wissen und verdrängt. Trotz bewunderungswürdigem Einsatz der Leute vom "Verein betroffener Eltern" gegen CS-Gas und Gummigeschosseinsatz, sind diese Waffen heute selbstverständlich bei jeder noch so kleinen Demonstration dabei und fast schon zur Alltagswaffe der Polizei geworden. Die Bevölkerung will Ruhe und Ordnung, und die Mittel, mit denen sie durchgesetzt werden, sind ihr gleichgültig. Die "Bewegung" rührt sich nicht mehr, die Jugendlichen, die sie getragen haben, sind heute erwachsen. Die Unpolitischen unter ihnen stehen heute zum Teil im bürgerlichen Lager und sind nur noch mit ihrer beruflichen Karriere beschäftigt. Dass ein Stück Demokratie verlorengegangen ist, ist den meisten nicht bewusst. Der Preis, den man dafür entrichtet, wenn man vom Recht der Demonstrationsfreiheit Gebrauch machen will, kann heute hoch sein: man zahlt ihn lebenslänglich. Netzhautverletzungen sind irreversibel.
Unterdessen machen die Polizeiminister mobil, um den Atomstaat gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. Die Einsatzmittel und Methoden der Zürcher Polizei sind zum internationalen Vorbild geworden. Die Einkesselung und das stundenlange Festhalten von Demonstranten in Hamburg hat mich an den 31. Januar 1981 erinnert, als die Zürcher Polizei am Landesmuseum die gleiche Einschliessungstaktik anwandte. Bei diesem Einsatz verlor eine Frau ihr Auge durch ein Gummigeschoss, das abgefeuert wurde, als sie sich mit erhobenen Händen aus der Tränengaswolke entfernen wollte, nachdem die Polizei einen Ausbruchversuch zu verhindern versucht hatte. Zuerst nebelt man ein, dann macht man blind und am Schluss schlägt man zu. Das ist auch die Funktion der Verharmlosung der Waffen CS-Gas, Gummigeschoss und Gummiknüppel in der Öffentlichkeit. Darin, dass die Folgen von Gummigeschossen nicht heruntergespielt werden können, sehe ich einzig meinen Einsatz als Opfer, und setze Hoffnung in eine Öffentlichkeit in der BRD, die sich nicht blind machen lässt und sich wehrt.
Mit solidarischen Grüssen
E.F.