Vorwort

200 Jahre nach der französischen Revolution scheint die Freiheit auf den Fahnen des ganzen Gemeinschafts-Europa zu stehen. Welchem halbwegs libertär gesonnenen Menschen würde nicht das Versprechen auf Bewegungsfreiheit über nationale Grenzen hinweg gut in den Ohren klingen?

Die Sache hat aber, wie so oft, einen kleinen Haken: Von den vier neuen Freiheiten, die die Einheitliche Europäische Akte (EEA) verspricht - Freiheit des Kapital-, Waren-, Dienstleistungs- und des Personenverkehrs -, bereiten die drei erstgenannten den Eurobürokraten und nationalen Regierungen offenbar wenig Probleme. Die vierte Freiheit aber, die der Personen (d.h. unsere), ist ihnen nicht ganz koscher. Seitdem vom Grenzabbau die Rede ist, also seit etwa 1984, hören wir, dass das zukünftige Europa zu einem "Mekka der Kriminalität" würde. Die Freiheit der Personen, Grenzlinien ohne Kontrolle zu überschreiten, gefährde die Sicherheit.

Deshalb bedürfe es der "Ausgleichsmassnahmen": Womit aber gleicht man einen Zugewinn an Freiheit aus? Mit einem Verlust von Freiheit an einer anderen Stelle! Mit mehr polizeilicher Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg, mit neuen elektronischen Hilfsmitteln, mit verdeckten Befugnissen und ihrer supranationalen Geltung. Diese Entwicklung hat bereits in den siebziger Jahren begonnen, aber mit der Debatte um die Abschaffung der Grenzkontrollen konnten Sicherheitspolitiker und Polizeifürsten erheblich mehr zeitlichen und politischen Druck entfalten und die europäischen Sterne ihrem Griff erheblich näher bringen. Das neue im Entstehen begriffene europäische Staatengebilde gründet sich auf die Freiheiten des Kapitals und des Marktes, deren geringe freiheitliche Qualitäten seit langem bekannt sind, aber nicht auf die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger, erst recht nicht dann, wenn diese aus "Drittstaaten" der Dritten Welt kommen. Die Entwicklung demokratischer Formen, die Festschreibung der ohnehin erodierenden Rechte der Strafverteidigung, auch nur rudimentäre Formen der informationellen Selbstbestimmung bleiben auf der Strecke gegenüber dem Versprechen der Sicherheit.

Ob aber dieses Versprechen durch mehr polizeiliche Kooperation oder gar durch eine europäische Polizeibehörde eingelöst werden kann, steht auf einem anderen Blatt. Der polizeiliche und geheimdienstliche Anti-Terrorismus hat mitnichten das Problem "Terrorismus" erledigt. Er hat aber sehr wohl zu einer Einschränkung der politischen Freiheiten und zu mehr polizeilichen Befugnissen geführt. Der polizeiliche Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den Drogenhandel - seit etwa zehn Jahren ganz oben auf der polizeilichen Agenda - droht weitere Einschränkungen der Freiheit mit sich zu bringen. Was die Polizei dabei kann und was sie dürfen soll, ob durch mehr Befugnisse nicht der Teufel Organisierte Kriminalität mit dem Beelzebub der geheimen Polizei ausgetrieben wird, wird in dieser Broschüre zur Diskussion gestellt.

Das Thema "Innere Sicherheit der Europäischen Gemeinschaft" steht bisher noch am Rande der öffentlichen Diskussion. Während oben gemacht wird, herrscht unten noch weitgehend Funkstille. Wenn mit dieser Publikation Diskussionen erzeugt werden, wenn die hier dokumentierten und (zum Teil kontrovers) kommentierten Materialien zur Information beitragen, wenn ein Bewusstsein geweckt wird über die freiheitsbedrohenden Gefahren, die eine Europäische Polizeigemeinschaft mit sich bringt, dann hat diese Broschüre ihr wichtigstes Ziel erreicht.

Denn 200 Jahre nach der französischen Revolution hat sich der Kampf um Freiheit und Gleichheit keineswegs erledigt.

Die Autoren und Herausgeber widmen diese Broschüre ihrem unlängst verstorbenen Freund und Kollegen Sebastian Cobler, der bis zum Ende seines Lebens unermüdlich für die Freiheit gestritten hat.

Heiner Busch (CILIP), Rolf Gössner, Norman Bethune