Europas Sicherheitsbehörden machen mobil

Europa im Jahr 2000: Ein Europa des Kapitals und einer mächtigen Bürokratie. Ein Staatenbund mit mehreren hundert Millionen Menschen, weltweit an der Spitze der Wirtschaftsmächte. Mit einem starken sozialen Gefälle zwischen den ökonomischen Zentren und der Peripherie. Im Innern bewacht von einem Europäischen Kriminalamt. Europa 2000: Die alten kolonialen Imperien haben sich zusammengeschlossen und sind mächtiger als je zuvor.

Der politisch-wirtschaftliche Zusammenschluss Westeuropas schreitet voran. Aus der ursprünglich ökonomisch orientierten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) soll über die jetzige Europäische Gemeinschaft (EG) eine Europäische Union (EU) entstehen. Und die Repressionsapparate halten Schritt. Die Kontrollnetze der "inneren Sicherheit" durchdringen den Kontinent fast ebenso schnell wie die Verflechtungen des Kapitals.

Das Gerüst dieses supranationalen Zusammenschlusses steht: es gibt, teilweise bereits seit den fünfziger Jahren, eine ganze Reihe internationaler Vertragswerke über die justitielle Zusammenarbeit wie das Auslieferungsabkommen von 1957, das Rechtshilfeabkommen von 1959 und die Europäische Anti-Terror-Konvention von 1977. Schritt um Schritt haben sich auch die Strukturen polizeilicher und geheimdienstlicher Zusammenarbeit entwickelt (siehe Schaubild "Das europäische Sicherheitsnetz").

Auf zwei Ebenen werden die wichtigsten Entscheidungen getroffen: Seit 1976 unterhalten die Regierungen der EG-Mitgliedsländer die gemeinsame Planungsinstanz TREVI für verschiedene Aufgaben der" inneren Sicherheit". Die Abkürzung steht für eine innere Feinderklärung gegen "Terrorismus, Radikalismus, Extremismus und internationale Gewalt" (Violance international). TREVI wird ab 1993 schrittweise die Funktionen eines westeuropäischen Innenministeriums übertragen bekommen. Und mit den Schengener Verträgen, die demnächst inkrafttreten sollen, unternehmen die Bundesrepublik, Frankreich und die Benelux-Länder seit einigen Jahren den Versuch, den zukünftigen ordnungspolitischen Trend der EG festzuschreiben.

Der Wunschzettel der Sicherheitsfanatiker ist unverschämt lang. Denn, wo Gefahr drohe, müssten Massnahmen ergriffen werden - so schlicht lautet das Rezept: Gegen einen "ungehemmten Einwanderungsstrom", Drogenkartelle, Organisierte Kriminalität und "Terrorismustransfer" müssten die Apparate zusammenrücken, tönt es besonders laut in bundesdeutschen Fachkreisen. Wenn Ende 1992 die Binnengrenzen zugunsten eines einheitlichen Marktes fallen sollen, komme man nicht umhin, die Aussengrenzen zu verstärken und die innereuropäischen Kontrollnetze engmaschig auszulegen.

Je näher der Start des Europäischen Binnenmarktes rückt, umso schriller werden die Töne. Mit Erfolg: Die für Anfang 1990 geplante Öffnung der Grenzen zwischen den Schengen-Partnern - in den Augen des amtierenden Vorsitzenden der Innenministerkonferenz Dietmar Schlee (Baden-Württemberg) eine "freie Fahrt für Rechtsbrecher" - fiel den Ordnungspolitikern bereits zum Opfer. Sie wollen zuvor ein starkes europäisches Sicherheitssystem entwickeln, so wie es kürzlich der Präsident des Bayerischen Landeskriminalamtes, Heinz Lenhard, in der internen "Schriftenreihe der Polizeiführungsakademie" (3-4/89) entworfen hat - ein Szenario grössenwahnsinniger Träume, hier aufgeblättert in fiktiven Agenturmeldungen aus den Jahren um die Jahrtausendwende:

Madrid. Von einem britischen Flugzeugträger sind am Vormittag Hubschraubereinheiten der Europäischen Rauschgiftbrigade (TEURN - Transeuropean Narcotic Brigade) nach Marokko gestartet. Ziel waren die Anbaugebiete für Hanf im Rif- Gebirge. Grosse Felder der kurz vor der Ernte stehenden Rauschgiftpflanzen wurden mit Chemikalien aus der Luft vernichtet.

Aarhus. In der Innenstadt kam es am nachmittag zu einem Schusswechsel zwischen einem aus Flensburg geflüchteten Bankräuber und einem Kieler Sondereinsatzkommando. Die Beamten hatten den Gangster über die Grenze verfolgt. Bei dem Festnahmeversuch in der dänischen Stadt starben der Flüchtige, ein 33jähriger Deutscher, und zwei dänische Passantinnen.

Amsterdam. Die niederländische Polizei hat in den vergangenen Wochen 87 Deutsche bei dem Versuch festgenommen, Rauschgift in der niederländischen Metropole zu kaufen. Die Festgenommenen, überwiegend junge Leute, wurden unterdessen den deutschen Behörden überstellt.

Berlin. Die Deutsche Aids-Hilfe hat gegen Pläne der Europäischen Innenministerkonferenz protestiert, nichteuropäische AIDS-Kranke in ihre Heimatländer auszuweisen:" Diese Menschen brauchen unsere Hilfe", heisst es in der Erklärung. "Schon die Verweigerung der Einreise für HIV-Test-Positive verstösst gegen den Geist der Schengener Staatsverträge, jetzt ist das Mass voll!" Die Selbsthilfeorganisation kündigte Mahnwachen in mehreren europäischen Hauptstädten an.

San Sebastian. Eine Demonstration von mehreren tausend Menschen aus Frankreich und Spanien forderte am Sonnabend '"Autonomie für das Land der Basken " Bei der Abschlusskundgebung kam es zu gewaltsamen Angriffen auf die Polizeieinheiten. Die Sicherheitskräfte gingen mit Gummigeschossen und Tränengas gegen die Menschenmenge vor. Die mobile französisch-spanische Grenzbrigade nahm später mehrere hundert Demonstranten beim Durchqueren des Grenzgebietes vorübergehend fest.

Ankam/ Rabat/ Neu Delhi/ Kingston/ Abidjan. Vor den diplomatischen Vertretungen der Länder der Europäischen Union (EU) kam es in den vergangenen Tagen erneut zu schweren Ausschreitungen. Die Botschaften Frankreichs, Grossbritanniens und Deutschland standen im Zentrum der Gewalttätigkeiten. Aufgeheizte Menschenmengen forderten von der EU die Zurücknahme des neuen, als "euroimperialistisch " bezeichneten Niederlassungsrechts. Danach sollen Nichteuropäer unmittelbar nach einer rechtsgültigen Entscheidung der Einwanderungsbehörden in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können.

München. Nach den landesweiten "Fahndungstagen" in Bahnhöfen, Gaststätten und Hotels hat das Bayerische Innenministerium eine vorläufige Bilanz der Aktion "Wurfnetz 99" vorgelegt: "Es wurden 14flüchtige Straftäter verhaftet, unter ihnen drei in Frankreich wegen fortgesetzten Scheckbetruges gesuchte Männer. Mehrere hundert Prostituierte, Drogenstraftäter und illegale Ausländer konnten den zuständigen Stellen zugeführt werden", teilte ein Sprecher des Ministeriums mit.

Dublin. Der irische Ministerpräsident hat den Behörden der Europäischen Union vorgeworfen, ihre "Aufsichtspflichten bei der Kontrolle von Umweltverbrechen sträflich zu vernachlässigen Der Untergang eines britischen Müllfrachters 50 Seemeilen südöstlich der irischen Insel hat nach Angaben eines Greenpeace-Sprechers in London "katastrophale Folgen" für die irischen und britischen Westküsten. Bis heute seien mehr als hunderttausend Zuchtlachse verendet, ein genauer Überblick über die Schäden an der Natur sei "wegen der unwegsamen Klippen zur Zeit nicht möglich".

Bozen. Die deutsch-italienische Antiterroreinheit "MARS" hat einen bedeutenden Fang gemacht. Unweit der südtiroler Regionalhauptstadt überwältigte die Spezialistentruppe mehrere Teilnehmer eines konspirativen Treffens von Nachfolgegruppen der deutschen RAF und der italienischen Roten Brigaden. Regierungssprecher in Rom und Berlin lobten übereinstimmend die hervorragende Kooperation im bilateralen Einsatzstab" Es seien , hochkarätige, zum Teil langjährig gesuchte Terroristen gefasst worden Nähere Angaben zu den Personen verweigerten die Sprecher unter Berufung auf die "in mehreren Ländern noch laufende Fahndung nach Komplicen."

Visionen des obersten bayerischen Polizeibeamten, dessen Vorstellungen nur geringfügig von dem abweichen, was in Bonn und Wiesbaden offizielle Politik ist. Denn seitdem es ernst wird mit der Öffnung der Binnengrenzen, so wollen die Sicherheitsdenker erkannt haben, sei die Europäische Gemeinschaft bedrohlichen Kräften schutzlos ausgesetzt. Nur weitgefasste "Ausgleichsmassnahmen" - wie ihr Forderungskatalog in der europäischen Amtssprache heisst - könnten ein "Mekka der Kriminellen" verhindern, gab der kürzlich aus dem Amt geschiedene BKA-Präsident Heinrich Boge (SPD) das Stichwort aus.

Boge und die Kreuzritterschaft aus den Innenministerien können sich darauf berufen, dass die Einheitliche Europäische Akte (EEA), die seit 1987 das grundlegende Vertragswerk für den Europäischen Binnenmarkt und die politische Union bildet, den gesamteuropäischen Sicherheitsstrategen nahezu freie Hand lässt. Bis zum 31. Dezember 1992 soll der "Raum ohne Binnengrenzen" abgesteckt sein, gibt die EEA vor. Artikel 18 ("Harmonisierung des Rechts") markiert für die innere Sicherheit ein "hohes Schutzniveau", das jetzt die zuständigen Behörden weitgehend unter sich aushandeln dürfen - ohne Rücksicht auf Parlamente und demokratische Gepflogenheiten. "Freiheit" garantiert die Charta ausdrücklich dem "Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen, Kapital...". (1)

Die bundesdeutschen Ambitionen auf einen europäischen Polizeiapparat reichen bis an den Anfang der siebziger Jahre zurück. Die freidemokratischen Innenminister Genscher, Maihofer und Baum machten sie sich ebenso zu eigen wie ihre CDU/CSU-Nachfolger Zimmermann und Schäuble. Unverhohlenen Stolz verspürt der amtierende Bundesinnenminister deshalb auch angesichts des neben TREVI und Schengen längst geknüpften Netzes: "Bereits jetzt gibt es vielfältige ausbaufähige Ansätze für eine Kooperation auf dem Gebiet der inneren Sicherheit in Europa. Ich nenne schlagwortartig das aufgrund deutscher Initiative errichtete europäische Regionalbüro von Interpol; den Wiener Club und den sogenannten Berner Club für Fragen der Terrorismusbekämpfung, der Spionageabwehr und der Unterbindung des illegalen Technologietransfers. Auf dem Rauschgiftsektor ist neben der ständigen Arbeitsgruppe Rauschgift, der Kommission Rauschgift und den Arbeitsgemeinschaften Nord, Südwest und Südost, der deutsch-französischen und der deutsch-niederländischen Arbeitsgemeinschaft vor allem die sogenannte Pompidou-Gruppe des Europarates zu nennen." (2)

Das Tempo der bundesdeutschen Sicherheitsstrategen ist scharf, jede zwei- oder mehrstaatige Übereinkunft unter Beteiligung der BRD gilt als Raumgewinn: "Keine Angst vor Einzel- oder Insellösungen", verkündet Baden-Württembergs Landespolizeipräsident Alfred Stümper (CDU), der nach seiner Pensionierung demnächst als "Berater" für Innere Sicherheit in Ostberlin nach dem Rechten schauen soll. "Da, wo man Fuss fassen und etwas in die Praxis umsetzen kann, sollte man dies tun" (3). Der Vordenker aus Stuttgart kann sich bestätigt fühlen: In mehrere europäische Länder entsandte das BKA bereits "Verbindungsbeamte", die als eine Art "Polizeiattachee" einen fast diplomatischen Status geniessen. Unter der Vorgabe, in den weltweiten Rauschgifthandel einzugreifen, sollen letztlich 37 "Rauschgiftverbindungsbeamte" in zwei Dutzend Ländern die Interessen der BRD vertreten.

Diesmal kommt Fritz mit Sakko und Laptop, doch die Erinnerungen an Fritz im Ledermantel mit Runen sind im benachbarten Ausland noch nicht ganz verblasst. Zumal das forsche Auftreten bundesdeutscher Polizeivertreter in den Nachbarländern für Irritationen sorgt. Die Arroganz der Macht spricht wieder Deutsch. Bundesinnenminister Schäuble sah sich unlängst sogar veranlasst, zu Mässigung und - ganz undeutsch - zum "Verzicht auf Perfektionismus" aufzurufen. Trotzdem sind die EG-Mitglieder durchaus geteilter Meinung über die neue europäische Ordnung. Die dänische Regierung sieht beispielsweise Oberhaupt keinen Anlass, die liberalen Rechtstraditionen Skandinaviens zugunsten eines europäischen Machtzentrums aufzugeben. Grossbritannien zählt auch bei der Inneren Sicherheit nicht gerade zu den Protagonisten der europäischen Integration. Frankreich hingegen möchte auf dem Weg zur EU gegenüber Deutschland nicht zurückfallen, ausserdem lockt der Sitz eines zukünftigen Europäischen Kriminalamtes (EKA). In Belgien begehrt die Brüsseler Euro-Bürokratie immer gern einen Machtzuwachs der Zentrale. Die Niederlande haben sich vom Bonner Innenministerium ihre pragmatische Handhabung der Drogengesetze ausheben lassen müssen. Und Spaniens sozialistischer Regierung schickt das Land auf einen halsbrecherischen Kurs in die EG und hat - wie auch Italien und Portugal - beantragt, der Schengener Vertragsgemeinschaft beitreten zu dürfen.

Unter der gesamteuropäischen Polizeimütze findet sich eine schillernde Familie ein: Die Spitzen des italienischen Militärs, der Geheimdienste und Polizeibehörden waren vor nicht langer Zeit in den stramm rechten Hochverratsversuch der P2Loge verwickelt. In Griechenland, Spanien und Portugal sind die Sicherheitsapparate nach dem Abtritt der faschistischen Regimes nie ernsthaft neugebildet worden. Grossbritannien, erfahren seit Kolonialtagen auf vielen Gebieten der Repression, führt einen blutigen Kleinkrieg in Nordirland. Im BRD-Sicherheitsapparat paart sich mehrfach bewiesene deutsche Gründlichkeit mit hochentwickelter Technologie; in Kürze kommen als Beute die Erfahrungen des Ministeriums für Staatssicherheit hinzu. Mehrere europäische Länder führen Teile der Polizei als regelrechte paramilitärische Bürgerkriegstruppen. Zudem dürfen in einigen Ländern Polizeibeamte noch nicht einmal eine Gewerkschaft aufbauen und viele Polizeien gelten als besonders anfällig für neofaschistische Vorstellungen. "Ordnung muss sein", darüber bestehen unter den EG-Sicherheitsideologen kaum Verständigungsprobleme, und der pure Machtwille der Apparate sorgt für eine gemeinsame Richtung.

Allein um einen Ersatz für die wegfallenden Grenzkontrollen ging es allerdings von Anfang an nicht. Denn selbst nach Meinung von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist "der Schlagbaum kein besonders intelligentes Fahndungsinstrument". Die Jahresberichte des Bundesgrenzschutzes (BGS) geben ihm recht: Bei den 1989 gezählten Grenzübertritten von über einer Milliarde griffen die Grenzschützer gerade 120.000 Menschen auf, eine Quote von 0,01 Prozent. Neben blossen Aufenthaltsermittlungen beruhten diese Aufgriffe zu einem Drittel auf Vergehen gegen das Ausländergesetz und zu weiteren 20 Prozent auf (Pass-)Urkunden-Verfälschungen, zumeist ebenfalls von Ausländern begangen. Nur 15 Prozent dieser erfolgreichen Kontrollen führten zu vorläufigen Festnahmen, die Zahl der daraus resultierenden Haftbefehle oder gar Verurteilungen ist nicht bekannt. Und die sechs Prozent Arreste wegen "Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz" erfolgten hauptsächlich an der deutsch-niederländischen Grenze und betrafen fast ausschliesslich die Einfuhr zum persönlichen Verbrauch. Der Grosshandel lässt sich, ebenso wie andere Zweige Organisierter Kriminalität und auch Mitglieder "terroristischer Gruppen", von Grenzen nicht sonderlich beeindrucken.

Vor der Öffentlichkeit allerdings wird ein bedrohliches Lagebild aus uralten Metaphern gezeichnet: Das christliche Abendland hat den Ansturm von Mongolen, Muselmanen und Bolschewiken abgewehrt, im dritten Jahrtausend muss sich der Alte Kontinent den "Flüchtlingsströmen" (zumeist aus den ehemaligen Kolonien) und dem "Internationalen Verbrechen" entgegenstemmen. Die Propaganda zielt auf dumpfe Gefühle und soll doch ausschliesslich die Macht der Repressionsapparate vergrössern. Aber nicht als Selbstzweck: Unausgesprochen geht es vor allem um vorbeugende Krisenbewältigung im gesamteuropäischen Rahmen. Denn mit dem politisch-wirtschaftlichen Einigungsprozess gilt es auch, die absehbaren sozialen und politischen Konflikte einer Europäischen Union in Zaum zu halten. Störungen der innereuropäischen Ordnung sollen im Keim erstickt werden.

Die zwischenstaatlichen Abkommen über den freien Binnenverkehr behandeln deshalb auch weit mehr als nur Grenzfragen. Der Schengener Staatsvertrag von 1985 und die verschiedenen Zusatzabkommen legen längst das Gerüst für ein umfassendes gesamteuropäisches Sicherheitskonzept fest (s. Busold, Schengen ... ): Asyl- und Ausländerrecht sollen auf einen niedrigen Standard geschraubt werden, offiziell "harmonisieren" genannt. "Harmonisierung" steht auch bei den Betäubungsmittelgesetzen, bei den Rechtshilfe- und Auslieferungsverfahren sowie beim Waffenrecht an. Vereinbart sind ebenfalls erste Schritte für eine unkomplizierte "Nacheile", die es erlaubt, vermeintliche Straftäter über die Grenzen verfolgen, abservieren, festnehmen und möglichst umgehend ins eigene Land zurückbringen zu können. In den grenznahen Gebieten ist beabsichtigt, gemischte Polizeibrigaden aufzustellen. Und ein gemeinsamer Zentralcomputer (SIS - Schengener Informationssystem, s. Weichert: Europa im Datennetz) soll den ungehinderten gegenseitigem Zugriff auf die nationalen Datensammlungen vermitteln. Mehrere Millionen Datensätze werden da letztlich zusammenkommen, nach Kriterien, die tatsächlich nur einen "Nukleus gemeinsamer Datenschutzregeln" ausmachen, wie es ein bundesdeutscher Europol-Fan treffend formulierte (4). Mehrfach haben bundesdeutsche Polizeiführer auch deutlich gemacht, dass nach einem Wegfall der Grenzkontrollen das innerstaatliche Kontrollnetz umso dichter werden müsse. EX-BKA Boss Boge, der jetzt dem Ostberliner Innenministerium freiheitlich-demokratischen Schliff verpassen soll, kündigte vorsichtshalber schon einmal "mehr gezielte polizeiliche Inlandsaktivitäten" an, vor allem für den Fall, dass die "Ausgleichsmassnahmen" und der Zugriff auf ausländische Datenbanken nicht im erwünschten Umfang zur Verfügung stünden (5). Und folgerichtig haben die französischen Behörden nach dem deutsch-französischen Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit von 1987 einen tiefen Kontrollgürtel hinter der Grenze errichtet, und die bundesdeutsche Zollfahndung soll in den kommenden Jahren kontinuierlich verstärkt werden, vermeldete das Fachblatt "Kriminalistik" im Juni 1989.

Mit dem maschinenlesbaren "Europass" und dem bundesdeutschen Personalausweis stehen dabei nach Ansicht des Bremer Rechtsinformatikers Professor Wilhelm Steinmüller die "ersten technischen Massenkontrollmittel der Neuzeit" zur Verfügung. Mithilfe von Kontrollstellen-Regelungen, wie sie in der BRD seit dem Razziengesetz von 1978 bestehen und mit der "Schleppnetzfahndung" von 1987 erheblich ausgeweitet wurden, sind Möglichkeiten der tausendfachen Grenzziehung im Landesinnern und der massenhaften Datenerfassung geschaffen worden. An diesen "fliegenden Grenzen" sind alle Passierenden - Unschuldsvermutung hin oder her - verpflichtet, ihre Identität feststellen und sich sowie mitgeführte Gegenstände durchsuchen zu lassen, ein Straftatverdacht oder eine konkrete Gefahr sind nicht mehr Voraussetzung für diese massiven polizeilichen Eingriffe. Der Mensch wird zum Sicherheitsrisiko, die staatliche Ordnung - jetzt auch im europäischen Rahmen - hingegen zum Supergrundrecht, das alle anderen, die wirklichen Grund- und Bürgerrechte, in den Schatten stellt.

Die Schengener Abkommen (vollst. Text: s. Dokumentation) gelten unter den europäischen Sicherheitspolitikern als "Pilotprojekt", auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble misst ihnen eine "Vorreiterrolle" zu: "Es ist der Versuch, auf einem begrenzten Raum unter einer vergleichsweise kleinen Anzahl von Staaten Regelungen zu erproben, die sich unter einer Vielzahl von Staaten mit sehr unterschiedlichen Rechtssystemen - ohne diese Erprobung, gleichsam aus dem Stand heraus - nur ungleich schwerer realisieren liessen", verriet er im November 1989 vor der vierten Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung zu "Fragen der europäischen Rechtspolitik" im niederländischen Den Haag. Ist dieser Staatsvertrag in den nationalen Parlamenten der bisherigen Erstunterzeichnerstaaten erst einmal verabschiedet, sollen die übrigen G-Mitglieder das Werk nur noch vollständig, d.h. ohne Veränderung, übernehmen können.(6)

Die Exekutive ist der Legislative schon um anderthalb Jahrzehnte voraus. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit existiert seit 1976 eine europaweite Einrichtung namens TREI. Dieser Zusammenschluss von Innenministern und hochrangigen Repressionsspezialisten fungiert nach Aussagen bundesdeutscher Insider als "Planungsinstanz und Sicherheitskonferenz" für die EG-Länder (s. Diederichs, TREVI ... ). Das Gremium ist ein internationaler Geheimzirkel: Es unterliegt keiner juristischen oder parlamentarischen Kontrolle, seine Tagesordnungen und Entscheidungsstrukturen sind nicht bekannt, ebenso nicht die Funktionen und Namen seiner nicht-ministeriellen Mitglieder. Sitzungsthemen und Protokolle gelangen nur selten und allenfalls in Auszügen an die Öffentlichkeit, die Kommunikationswege zwischen den beteiligten nationalen Behörden laufen über "geschützte Leitungen". Vier Untergruppen beschäftigen sich mit "Terrorismus", "allgemeinen Polizeifragen" und "organisierter Kriminalität"; in der Folge der Schengener Verträge geht es jetzt auch hier um "Ausgleichsmassnahmen".

Damit nicht genug: Allen voran steuern die Seilschaften aus BKA und Innenministerien zielstrebig auf eine europaweit zuständige Polizeizentrale zu. Auf dem Weg dahin müsse sich allerdings ein "europäisches Polizeiverständnis" gegen die " Kultivierung von Reservatsrechten" durchsetzen, fasste ein hoher Grenzschützer die Linie seiner Kollegen aus BKA und Innenministerien zusammen (7). Sie können sich dabei auf eine politische Grundsatzerklärung Helmut Kohls stützen, die der Kanzler 1988 vor dem Aspen-Institut in Westberlin abgab: "Wir dürfen uns von daher nicht scheuen, auch neue, unkonventionelle Wege im Bereich der Inneren Sicherheit zu gehen. Dabei sollten wir aus den Erfahrungen der Vereinigten Staaten von Amerika lernen und für die Kernbereiche der Kriminalität, der Inneren Sicherheit, eine europäische Bundespolizei schaffen." (8)

Erste Schritte sind getan: Auf Initiative der Bundesrepublik richtete Interpol (IKPO) 1986 im französischen Lyon ein europäisches Regionalbüro (EuSec) ein. Hauptnutzniesser dieser polizeilichen Nachrichten- und Kontaktbörse ist das Bundeskriminalamt. Doch Interpol-Europa hat keinerlei Exekutivbefugnisse, darf überdies bei politisch motivierten Straftaten und Wirtschaftsverbrechen nicht in allen Fällen tätig werden. Erklärtes Ziel ist daher ein Europäisches Kriminalamt (EKA), ausgestattet mit einer zentralen Datenbank und mit Befugnissen gegenüber den nationalen Sicherheitsbehörden, vergleichbar denen des BKA gegenüber den Landeskriminalämtern der Bundesrepublik. Für die Zentralverwaltung des Schengener Informationssystems (SIS), Keimzelle eines zukünftigen Euro-Datenpools, gilt neuerdings Strassburg als aussichtsreichster Standort.

Unter die Räder und in die Datenbanken eines solchen machtvollen Staatssicherheitsapparates sollen insbesondere die Konsumenten illegaler Drogen geraten; die Mehrheit der EG-Staaten setzt auf Repression statt auf Entkriminalisierung, Hilfe und Sozialpolitik. Flüchtlinge aus aussereuropäischen Ländern will die Europäische Gemeinschaft vor ihren Grenzen halten, denn billige Arbeitskräfte für den Binnenmarkt haben die süd- und osteuropäischen Armenhäuser ausreichend zu bieten. Und einige christlich-soziale Hardliner haben bereits deutlich gemacht, dass hierzulande in der kommenden Legislaturperiode auch das Grundrecht auf Asyl fällig ist: Unter Verweis auf die Angleichung des Flüchtlingsrechts im Schengener Abkommen soll das Grundgesetz (Art.16.2) "harmonisiert" werden. Düstere Aussichten auch für Europas Bürgerinnen und Bürger, die für soziale, politische, ökonomische und Minderheitenrechte streiten: Am hohen technologischen, personellen und materiellen Standard des "Molochs einer internationalen Polizeiexekutive" (Th. Weichert) werden manche Kämpfe scheitern. Die sogenannte Organisierte Kriminalität wird hingegen zu einem wirtschaftlichen und politischen Machtfaktor,

das werden auch grenzenlose Kompetenzen der Fahndungsbehörden nicht verhindern können. Kaum gesteigertes Verfolgungsinteresse wecken andererseits - das kann kaum überraschen - transnationale Umweltverbrechen wie die in den meisten Fällen nicht einmal illegalen Giftexporte, die im BKA-Jargon als "Mülltourismus" verharmlost werden. Und die "westeuropäische Front", die isolierte Stadtguerillagruppen gelegentlich ausrufen, existiert tatsächlich nur bei ihren Gegnern. Der sogenannte Terrorismus, mit Ausnahme der IRA- und ETA-Untergrundkämpfer, stellt selbst in den Augen der Repressionsexperten keine ernsthafte Bedrohung für eine Europäische Union dar. Trotzdem lassen bundesdeutsche Polizeiführer schon mal anklängen, das rechtliche Instrumentarium des Paragraphen 129a StGB gern auf Westeuropa ausgeweitet sehen zu wollen (9); einige unter den Hardlinern träumen gleich von einem vereinheitlichten gesamteuropäischen Rechtssystem (10). Erst unlängst hat das TREVI-Geheimkabinett einen gemeinsamen Informationsaustausch über "Störungen der Öffentlichen Ordnung und Sicherheit" beschlossen. Und der langjährige Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, mit dessen Rezepten mittlerweile auch Spaniens Regierung hungerstreikende politische Gefangene niederkämpft, pflegt nicht erst neuerdings grosseuropäische Träume: "Wir brauchen eine solche Fahndung (nach "Terroristen", Anm.) vom Nordkap bis Sizilien und von Lissabon bis zum Eisernen Vorhang", verkündete der Karlsruher Grossinquisitor (11). Und darüber hinaus: Über kurz oder lang werden auch die ehemals realsozialistischen Diktaturen sich den westlichen Repressionssystemen anschliessen.

Kein Zweifel: Europa 2000 wird eine wirtschaftliche und politische Grossmacht sein. Die Bürgerrechte für seine Menschen sollen dafür auf kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht werden. 200 Jahre nach der Französischen Revolution ist der Kampf um die Menschenrechte wieder hochaktuell.

Rolf Gössner, Publizist und Rechtsanwalt, lebt in Bremen. Lehraufträge an den Universitäten Bremen, Dortmund, Hagen und Marburg. Redaktionsmitglied der Zeitschrift "Geheim" (Köln). Mitinitiator der Bürgerinitiativen "Bürger kontrollieren die Polizei".

Veröffentlichungen:

Norman Bethune, presserechtlich Verantwortlicher der Redaktion strassenmedizin (Hamburg).

Veröffentlichungen:

Quellen:

  1. Die Polizei 8/89;
  2. W. Schäuble, Rede vor der "Vierten Fachkonferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung zu 'Fragen der europäischen Rechtspolitik"', Den Haag, 16.11.89;
  3. Kriminalistik 6/88;
  4. Kriminalistik 2/89;
  5. Die Welt, 3.2.89;
  6. Die Polizei 8/89;
  7. Kriminalistik 2/89;
  8. Die Polizei, 8/89, dort: "...zu schaffen";
  9. Schreiber in Kriminalistik 2/85, Herold in BKA Vortragsreihe 23, 1980, zit. n. Weichert, Forum Recht 3/89;
  10. z. B. StS Rosenbauer (bayer. Innenministerium) in "Terrorismus" 4/89;
  11. Weserkurier, 23.11.88;