In Frankreich hat Schengen mehr Fragen als wirkliche Besorgnis ausgelöst. Nur die Menschenrechtsorganisationen besonders die Asylgruppen - haben, sehr spät, ernsthafte Kritik geäussert. Sie fürchteten, dass durch das Abkommen die Freiheiten vor allem der Ausländer gefährdet würden.
Die Medien und politischen Beobachter dagegen zogen es vor, von einem "demokratischen Defizit" der europäischen Integration zu sprechen. Dafür gibt es zwei Gründe: einmal eine geschickte Kommunikationspolitik der Regierung seit der zweiten Jahreshälfte 1989, zum anderen die Einsicht, dass Europa ohne eine Harmonisierung der Bürgerfreiheiten und der sie begrenzenden Polizeiregeln nicht zu machen sein wird.
Am bemerkenswertesten war jedoch die Zeitverzögerung, mit der die politischen Akteure in Frankreich auf die Arbeiten der Schengen-Gruppe reagierten. Am 14. Juni 1985 hatte die sozialistische Regierung unterzeichnet, die Assoziationen und Parlamentarier aber äusserten ihre Bedenken erst Ende1988 ... Zwar wurde der Text des Abkommens im "Journal Officiel" erst am 5. August 1986 veröffentlicht. Die Presse jedoch hatte über die Unterzeichnung berichtet, "Liberation" sogar am 16. Februar 1987 den vertraulichen Anhang auszugsweise veröffentlicht (zwei Listen von Staaten, die unter Verdacht standen, illegale Einwanderung zu tolerieren oder die europäische Sicherheit zu gefährden) - ohne nennenswerte Reaktionen hervorzurufen.
Um Frankreich aus seiner Lethargie aufzuscheuchen, bedurfte es der europäischen Menschenrechtsgruppen, vor allem der holländischen, die ihren französischen Kollegen den Entwurf für einen endgültigen Vertragstext zuspielten. Dieser Text vom Frühjahr 1988 löste Anfang 1989 eine erste Reaktion der Öffentlichkeit aus. Die heftigste Kritik bezog sich auf die Kontrolle der Daten des automatischen Informationssystems (SIS) und auf die Gefährdung des Asylrechts durch die geplanten Sanktionen gegen Fluggesellschaften, die Ausländer ohne gültige Einreisepapiere transportieren.
Die Haltung der diversen Vereinigungen ist auch Reflex auf das mangelnde Interesse, das die verschiedenen Regierungen Schengen seit der Unterzeichnung entgegenbrachten. Bis zur zweiten Jahreshälfte 1989 war Schengen kein Gegenstand der Innen- und Aussenpolitik. In den Expertengruppen zogen sich die Verhandlungen hin, und wurden vom Aussenministerium koordiniert - in Frankreich untrügliches Zeichen für Desinteresse. All dies erklärt jene Atmosphäre der Geheimniskrämerei, die die Vertragsvorbereitungen umgab und die französische Öffentlichkeit - in sehr beschränktem Umfang - schliesslich beunruhigte.
Der mangelnde Enthusiasmus der Regierung wiederum erklärt sich aus der einseitigen und allgemeinen Wiederherstellung der Visapflicht nach den Anschlägen im September 1986, als Reaktion auf eine Reihe von terroristischen Attentaten. Frankreich wollte nicht, dass eine europäische Verhandlung ihr in diese Politik hineinfunkte. Und ohnehin hat Frankreich es noch nie gern gesehen, wenn seine Souveränität in Sachen Sicherheit beschränkt werden sollte, und sei es für Europa.
Anfang 1989 entdeckte die sozialistische Regierung die politische Existenz des Schengener Abkommens und machte es zum Gegenstand der Aussenpolitik. Die Kampagnen der Vereinigungen gegen das Europa der Polizei und das entsprechende Presse-Echo hatten diese Kehrtwende ausgelöst. Zudem nahmen sich jetzt auch Parlamentarier der Linken und der Rechten des Themas an, als es zu einer Parlamentsdebatte über das neue Ausländerrecht kam. Sie fragten vor allem nach dem Inhalt des Abkommens und beklagten die Geheimniskrämerei der Verhandlungen. Bei dieser Gelegenheit informierte die Regierung zum ersten Mal das Parlament über Schengen.
Im Juli 89 übernahm Frankreich die Präsidentschaft der EG (und damit der Schengen-Gruppe) und nutzte die Gelegenheit, sich als Motor eines Europas der Bürger zu profilieren. Beweis für die neugewonnene Wichtigkeit des Dossiers: die Federführung übernahm der Innenminister Pierre Joxe. Dem Aussenminister seinerseits wurde wegen seiner schlechten Dossierführung und seiner Küchenkabinettspolitik ein Verweis erteilt. Der Innenminister setzte auf Entkrampfung, berichtete über die Verhandlungen und traf sich mit den Vereinigungen der Kritiker. Vor allem gelang es der Regierung, die Gruppen mit der ausgeweiteten Kontrolle der SIS-Datensysteme zu beruhigen, auch wenn es nach wie vor Bedenken gibt, ob das auch alles so funktionieren würde. Was das Asylrecht angeht, hielten die Gruppen ihre Einwendungen weiter aufrecht.
Die französische Regierung hat es sehr gut verstanden, die bundesdeutsche
Haltung für sich zu nutzen. Denn die Nachbarn vom anderen Rheinufer
forderten ständig mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheiten, vor allem
was SIS und das Recht auf Verfolgung ausserhalb der Grenzen betrifft:
die Deutschen verlangten das Recht, auch im Ausland Verhaftungen vornehmen
zu können, inklusive des Gebrauchs ihrer Waffen. "Stellen Sie
sich die Reaktionen der Elsässer vor, wenn sie einen Polizisten in
deutschem Feldgrau sehen, der am frühen Morgen kommt, um jemanden
zu verhaften", meint heute einer der Verhandler. Die französischen
Unterhändler waren überdies erstaunt, dass der Vertreter
des BKA gleichberechtigt neben dem Innenministerium mitredete und oft eine
sehr restriktive Haltung vertrat, So konnte Frankreich den endgültigen
Vertragstext als seinen Sieg und den Sieg der Menschenrechte über
das Deutschland der Polizei präsentieren. Das liess dann die
letzten Kritiker verstummen.
Jean Quattremer, Redakteur bei "Liberation", zuständig für Zivilrechte und Immigration.