Die umgedrehte "Spirale der Gewalt"

Der Aufstand in den von Israel Gebieten (...) hat zu einem Rüstungswettlauf der bizarrsten Art geführt. Er zielt nicht ab auf immer kompliziertere Waffen, sondern auf immer simplere; er wird zunehmend unvorteilhaft für den Stärkeren, nicht für den Schwächeren, und er geht nur deshalb immer weiter, weil er auch ebenso einseitig ist wie das Wettrennen zwischen Hase und Igel.*

"Nach herkömmlicher Art rüsten nur die Privatleute" ist der Artikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung überschrieben, dem obiges Zitat entstammt (1). Es kennzeichnet treffend, dass Palästina zu einem Testfeld "unkonventioneller" Kriegsführung geworden ist, auf dem in den vergangenen zwei Jahren alte und neue Methoden polizeilicher und militärischer Aufstandsbekämpfung ausprobiert wurden. Ausmass und Folgen ihrer Anwendung überschreiten dabei alles, was uns bisher - beispielsweise aus Irland oder der Schweiz, aber auch der Bundesrepublik - bekannt geworden ist (2).

Ebenso treffend ist aber auch das Bild vom "Wettrennen zwischen Hase und Igel": Tatsächlich haben die PalästinenserInnen es geschafft, einer zahlenmässig starken, hochgerüsteten und kriegserprobten (Besatzungs-) Armee die Initiative zu entreissen, obwohl (oder eher weil?!) sie sich lediglich "einfacher" Methoden zivilen und militanten Widerstandes bedienen:

Die Kinder der Steine

Jugendlicher mit Steinschleuder

Während der Intifada haben die Palästinenser unter der Besatzung freiwillig auf Feuerwaffen und den Gebrauch tödlicher Waffen verzichtet. Stattdessen verlässt man sich auf eine Vielzahl origineller, "hausgemachter" Werkzeuge, um den Kampf um die nationale Unabhängigkeit voranzutreiben und die israelischen Besatzungsstreitkräfte in Bewegung zu halten.

Die Haupt"waffe" des Aufstands ist der Stein, dessen Einsatz so weit verbreitet ist, dass er zum Symbol des Kampfes geworden ist. Bei Steinen gibt es keine Nachschubprobleme: Steine liegen auf dem felsigen Boden der besetzten Heimat überall herum, sind bestens geeignet und effektiv. Sie werden geworfen oder mit einem Katapult oder einer Schlingschleuder abgefeuert. Der Anblick von Jugendlichen, die mit Steinen Widerstand gegen schwer bewaffnete Truppen und gepanzerte Fahrzeuge leisten, hat viele Reporter die Situation als die eines palästinensischen David, der gegen einen israelischen Goliath kämpft, beschreiben lassen.

Palästinensische Jugendliche haben gelegentlich den bescheidenen Stein benutzt, um das zu erfinden, was man den "Molotovstein" nennt. Bei dieser Konstruktion wird ein Stein, der mit in Benzin getränktem umwickelt ist, angezündet und mit einer Schlingschleuder oder einem Katapult geschleudert.

Schlingschleudern werden auch eingesetzt, um die Jeeps der Armee ausser Gefecht zu setzen. Das geschieht, indem Gegenstände aus Stahl und anderen Materialien gegen Windschutzscheibe und Kühlergrill der Fahrzeuge geschleudert werden.

Eine andere Methode, israelische Militärfahrzeuge ausser Gefecht zu setzen, ist, ihre Reifen zu perforieren. Zu diesem Zweck werden Nägel auf den Strassen der Städte, Dörfer und Flüchtlingslager ausgestreut. Eine sehr effektive Form dieser Fallen sind Kartoffeln, die mit Nägeln gespickt werden, so dass sie aussehen wie Nadelkissen. Diese Kartoffeln werden dann auf die Strasse geworfen. Diese Form des Volkswiderstands bringt die Israelis besonders in Rage, da sie die Kontrolle palästinensischer Ortschaften und die Verfolgung von Demonstranten empfindlich behindern. Ausserdem geraten die Soldaten, die ihre Fahrzeuge verlassen, um die entstandenen Pannen zu beheben, immer wieder in den Steinhagel jugendlicher Palästinenser, die auf solche Gelegenheiten warten.

Ausserdem giessen palästinensische Streikgruppen Öl auf die Strassen. Die schweren Militärfahrzeuge geraten dann ausser Kontrolle und kollidieren.

Eine weitere Technik des Hinterhalts, die die palästinensische Bevölkerung entwickelt hat, ist das Bauen von Autofallen. Man gräbt Löcher in die Strassen und verschliesst sie dann mit dünnem Zinkblech oder dünnen Holzplatten, die mit einer Sandschicht bedeckt werden. Jugendliche veranlassen dann die Fahrzeuge, sie zu verfolgen und über die präparierten Strassen zu fahren. Die Fahrzeuge brechen dann ein. Diese Form des Widerstands wird besonders im Gasa-Streifen eingesetzt. Auch die Mittel der psychologischen Kriegsführung hat sich das palästinensische Volk unter der Besatzung zu eigen gemacht. Bombenattrappen werden benutzt, um Panik in den israelischen Reihen zu verbreiten und Truppenteile einzubinden, die sonst mit Schüssen, Schlägen und Unterdrückungsmassnahmen gegen palästinensische Zivilisten vorgehen würden. Zu den Täuschungsmanövern gehören telefonische Bombendrohungen, in denen mitgeteilt wird, dass eine Bombe an einem bestimmten Ort gelegt worden sei. Weiterhin werden verdächtig aussehende Taschen oder Scheinbomben aus alten Motorteilen an überfüllten Plätzen zurückgelassen. Echte Bomben wurden während des Aufstands nicht eingesetzt. Die PLO und die Führung der Intifada hat sich gegen den Einsatz von Waffen und Sprengstoff ausgesprochen. Die Israelis müssen aber jeder Attrappe nachgehen, als ob es sich um eine echte Bombe handeln würde. Zeit und Arbeitskraft der israelischen Soldaten wird so eingesetzt, um nicht existierende Gefahren zu beseitigen.

Die Effektivität dieser unterschiedlichen Methoden des Widerstands muss daran gemessen werden, dass es den Palästinensern seit mehr als 14 Monaten (Feb. 89, Anm.) gelingt - trotz militärischer Besatzung - die israelische Armee, die mächtigste Militärmaschinerie im Nahen Osten, in Atem zu halten. Israel hat die besten Gewehre und ein Arsenal tödlicher Waffen auf seiner Seite,- aber es konnte dennoch den Widerstand eines Volkes, das nur mit Steinen, Wurfschleudern und dem entschlossenen Willen, frei zu sein, gewappnet ist, nicht brechen.

Aus: Palastine, 16.2.89, nach Palästina Bulletin 9/89

Das Arsenal der Besatzungsmacht

Innerhalb relativ kurzer Zeit nach Beginn des palästinensischen Aufstands in Westbank und Gasa-Streifen hatte die israelische Besatzungspolitik weltweite Empörung ausgelöst, da die Anzahl der erschossenen PalästinenserInnen rasch zunahm. Dennoch wurden die Einsatzrichtlinien bereits im vierten Monat der Intifada weiter gelockert: Nachdem der Schusswaffengebrauch zunächst nur als letztes Mittel bei Lebensgefahr für die Soldaten zugelassen war, wurde ihnen fortan gestattet, auf mit Brandsätzen ''bewaffnete" Aufständische unmittelbar das Feuer zu eröffnen. Die Einführung von Plastikmunition ein halbes Jahr später scheint darüber hinaus zu einer weiteren Liberalisierung des Schusswaffeneinsatzes geführt zu haben; inzwischen darf sogar auf lediglich Vermummte geschossen werden. Dabei wird u.a. Hochgeschwindigkeitsmunition verwendet, die im Körper in zahlreiche Splitter zerbricht und so ausgedehnte (innere) Verletzungen hervorrufen (3).

Gleichzeitig wurde jedoch das Arsenal sogenannter, nicht oder gering tödlicher Waffen ständig erweitert:

CS-Granaten auf Gebetsteppich

 

Nach einem Überfall des israelischen Militärs auf den Felsendom: CS-Granaten auf Gebetsteppich


Testfeld Palästina

Ausserdem probiert(e) die israelische Armee noch eine Reihe anderer "unkonventioneller" Methoden aus, um den Aufstand in den besetzten Gebieten unter Kontrolle zu bekommen:

Militärfahrzeug

 

Militärfahrzeug mit Abschussvorrichtungen für Kampfgas und Steine


Strassenkampfweste

 

Neue Strassenkampfweste (israel. Exportmodell)


Im Sommer wurden israelische Soldaten gar beschuldigt, festgenommenen Palästinensern "schädliche chemische Winkstoffe" gespritzt zu haben, die "Fieber und Gänsehaut" ausgelöst hätten (11). Weiterhin gibt es Berichte darüber, dass die Armee vor "Tränengas"einsätzen in Flüchtlingslagern das (u.a. zum Augenspülen wichtige) Wasser abgestellt habe und zeitweilig Demonstranten durch Scharfschützen erschiessen liess, die zuvor mittels Farbbeuteln markiert worden waren.

Beteiligt an dieser Aufrüstung gegen das palästinensische Volk ist allerdings nicht nur die israelische Besatzungsmacht "Tränengas" kam aus den USA und Österreich, Plastikgeschosse aus Frankreich und Steinwurfmaschinen (umgebaute landwirtschaftliche Geräte zur Ausfächerung von Dung) aus der BRD, von wo auch Spezialknüppel importiert werden sollen (12).

Die medizinische Situation in Westbank und Gaza

Die genannten Aufstandsbekämpfungsmethoden verschärfen wiederum die ohnehin problematische Situation des gesundheitlichen Zustandes und der medizinischen Versorgung der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten. Sie wird von der "Union Palästinensischer Medizinischer Hilfskomitees (UPMRC)", dem zahlenmässig grössten Zusammenschluss im Gesundheitsbereich tätiger PalästinenserInnen, in einem Faltblatt folgendermassen beschrieben: Weitverbreitet sind Armutskrankheiten, verunreinigtes Trinkwasser und unzureichende Sanitäreinrichtungen, Kinder sterben häufig an Magen-Darm- und Lungenkrankheiten sowie Unterernährung. Eine vor kurzem erstellte US-Studie registrierte eine Säuglingssterblichkeit von 53 - 64 pro 1000 gegenüber 11,6 pro 1000 für israelische Juden.

Während die Versorgung in den besetzten Gebieten finanziell, materiell und personell unterbemittelt ist (13), kann ein Grossteil der Bevölkerung in Westbank und Gasa-Streifen weder Krankenversicherung noch Behandlungskosten in den regierungseigenen Einrichtungen bezahlen. Weitere Restriktionen wurden während des Aufstandes erst verhängt (14).

Die UPMRC versucht in dieser Situation eine angemessene Präventions- und Behandlungsstrategie zu entwickeln, die sich auf vorhandene Kenntnisse und Fähigkeiten stützen soll. Zu diesem Zweck bedient sie sich u.a. sowohl fester als auch mobiler Kliniken, verteilt Informationsmaterial und Erste-Hilfe-Ausrüstungen und bietet entsprechende Ausbildungskurse für lokale Helferinnen an (15).

Allerdings be- und verhindert die Besatzungsmacht häufig auch diese unmittelbaren Hilfsmassnahmen durch Ausgangssperren, Aufhalten von Verletztentransport und -versorgung, Schliessung und Verbot palästinensischer Hilfseinrichtungen (16) sowie Überfälle auf medizinische Einrichtungen einschliesslich der regierungseigenen Krankenhäuser, aus denen heraus nicht selten Verletzte festgenommen werden (17).

Quellenhinweis:

Das "Uprising Update" erscheint monatlich beim DataBase Project on Palestinian Human Rights in 1 Quincy Court, Suite 1308, Chicago, III. 60604, USA; es wird, wie auch weitere Spezial- und Überblicksveröffentlichungen zum Thema, zusammen mit der Arab Studies Society aus Jerusalem herausgegeben.

Redaktion strassenmedizin

(Mitteilungsblatt der Sanitätergruppen)

Israel. Soldat


Quellen

  1. FAZ, 10.10.88
  2. vgl.: "Erprobt in Irland und in der Schweiz. Geplant für die BRD: Gummigeschosse", Hamburg 1983; und: "Gummigeschosse, Wasserwerfer, CS: Die neuen Waffen der Polizei", Hamburg 1986 (beide zu beziehen über die Herausgeber)
  3. ai-lnfo 8/88 ((Amnesty International), Die Tageszeitung (taz), 10.1.89 und Frankfurter Rundschau (FR), 6.7./4.9.89
  4. FAZ 10.10.88, Medico Report 5/89 (Medico International)
  5. Spiegel 9/88, ai-Report 6/88
  6. New York Times, 14.1.89, Spiegel 6/89
  7. FAZ, 10.10.88 und taz, 19.4.89
  8. taz, 19.4 und 20.7.89; neuerdings wird gar an Fesselballons oder unbemannte Hubschrauber mit Fernsehkameras gedacht, s. Palästina Bulletin 35/89 (1.9.)
  9. FAZ, 10.10.88
  10. taz, 19.4.89, Spiegel 41/88, "Uprising Update" 3/89 ff.
  11. FR, 27. und 30.6.88
  12. "Uprising Update" 7.6.88, FAZ, 10.10.88 und FR, 18.4.89
  13. s. auch Jerusalem Post, 14.8.89 bzw. FR, 18.8.89
  14. FR, 8.7.88 und 13.1.89
  15. s. Palästina-lnfo Nr. 4 (Freundinnen des palästinensischen Volkes e.V., Postfach 30 41 45, 2000 Hamburg 4)
  16. s. taz und FR, 29.8.88
  17. "The Lancet" 23.1.88 (angesehene britische medizinische Fachzeitschrift, "Uprising Update" 1/89 und Jerusalem Post, 14.8.89; s. auch "Die unbesungenen Helden der Intifada" in "Palästina" Nr.3 vom Juli 89 (Hrsg. Informationsstelle Palästina, Bonn)