Israel setzt neues Geschoss gegen Araber ein

The New York Times, 14. Januar 1989 (John Kifner)

JERUSALEM, 12. Jan. - Die israelischen Streitkräfte haben nach palästinensischen und israelischen Angaben in den vergangenen Wochen eine neuartiges Geschoss gegen palästinensische Demonstranten auf der besetzten West Bank und im Gasa-Streifen eingesetzt.

Aber genau wie andere Munition, von der behauptet wird, sie sei nicht tödlich, töten und verletzen die neuen murmelgrossen Metallkugeln Demonstranten in zunehmendem Masse. Rund ein halbes Dutzend Palästinenserinnen wurden nach Angaben arabischer Krankenhäuser getötet oder so schwer hirnverletzt, dass sie wahrscheinlich sterben werden.

Gleichzeitig haben die israelischen Streitkrähe ebenfalls vermehrt Gebrauch von den vermeintlich nicht tödlichen Plastikgeschossen gegen Palästinserinnen gemacht, die sich in den besetzten Gebieten am jetzt in den 14. Monat gegangenen Aufstand beteiligen.

Monat mit den meisten Toten

Der letzte Monat war nach israelischen Pressemeldungen mit 31 von Israelis Erschossenen und mehr als 400 krankenhausreif oder anderweitig erheblich behandlungsbedürftig Verletzten der bisher blutigste während des Aufstands.

Doch hat es in den vergangenen Monaten keine Welle von Massendemonstrationen gegeben.

Die Zunahme an Todesfällen wird von Palästinensern und einigen Israelis mit der Tendenz der Soldaten in Verbindung gebracht, eher zum Gewehr zu greifen, seit die Armee im August die leichtgewichtigen Plastikgeschosse eingeführt hat, durch die eine Abnahme der Todesschüsse erreicht werden sollte.

Verteidigungsminister Yitzhak Rabin hatte gesagt, die Plastikgeschosse wären zwar weniger tödlich als reguläre Munition, würden aber dennoch Demonstranten abschrecken, da sie mehr Verletzungen hervorriefen. Doch hat sich eine Kontroverse entwickelt, als seitens der Palästinenser und linker Israelis vermehrt Beschuldigungen vorgebracht wurden, wonach die Richtlinien zum Schusswaffengebrauch liberalisiert worden seien.

Eingeführt in den letzten Wochen

Gummigeschosse mit Metallkern

 

Verschiedene israelische Gummigeschosse mit Metallkern


Vor etwa anderthalb Monaten erschien die neue Metallkugel auf der Bildfläche. Bedeckt mit einer dünnen Schicht Plastik oder Hartgummi, wurde sie wie ein Gummigeschoss benutzt, das sich vom Plastikgeschoss unterscheidet und vom Beginn des Aufstands an als eine nicht tödliche Waffe verwendet wurde, um Versammlungen durch die Verursachung schmerzhafter Striemen auseinanderzutreiben.

Die israelische Armee lehnte es drei Tage lang ab, Anfragen bezüglich der neuen Munition zu beantworten. Ein Armeesprecher sagte, er wisse nichts von irgendeiner Veränderung der Armeemunition. ,,Selbstverständlich versuchen wir ständig, sie zu verbessern, um Todesfälle zu vermeiden", sagte der Sprecher, Oberst Ranan Gissin.

Die Metallkugeln werden offenbar in der Art der Gummigeschosse und mit geringerer Geschwindigkeit als Standard-Bleimunition abgefeuert, aber wenn sie aus kurzem Abstand verschossen werden, können sie in den Körper eindringen.

Zunehmende Todesfälle

Die zylindrischen Hartgummigeschosse werden zu ungefähr20 Stück auf einmal aus einer Kartusche abgefeuert, die am Ende eines Gewehres aufgepflanzt wird. Die Plastikteile sehen dagegen wie reguläre Geschosse aus und werden auch genauso verschossen, rufen aber vor allem wegen ihres geringeren Gewichtes weniger Schaden hervor. Trotzdem können sie tödlich sein, insbesondere aus kurzer Entfernung.

Berichte besagen, das die Todesfälle während des Aufstands seit letztem Sommer zugenommen haben. Die meisten in den Notfallräumen der Krankenhäuser Behandelten haben Wunden an Kopf und Brust, obwohl die Armee seit langem darauf besteht, dass es ihre Politik ist, nur auf die Beine von Demonstranten zu zielen.

AbschUssgerät

Am Mittwochmorgen wurden drei palästinensische Teenager mit Metallkugel im Hirn vom ost­jerusalemer Makassed-Hospital durch Beatmungsgeräte am Leben gehalten. Die Ärzte dort sagten, es sei keine Frage, dass die Jugendlichen, darunter ein 13jähriges Mädchen, bald sterben würden. Ein vierter Jugendlicher mit einem Herzschuss durch ein Plastikgeschoss wurde als hirntod eingestuft, am Leben gehalten lediglich durch die Maschine.

Einer der Jugendlichen, Marwan Mughari, ein schmächtiger 17jähriger, war Dienstagnacht aus dem Gasa-Streifen ins Krankenhaus gebracht worden, nachdem ihm eine Metallkugel in den Hinterkopf geschossen worden war; er lag bewegungslos, angeschlossen an Schläuche und Gummibeutel, ein Plastikpflaster über der Wunde seines rasierten Kopfes.

Zwei Ärzte schauten sich sein Röntgenbild an, das ein grosses rundes Objekt in der Mitte des Schädels zeigte.

"Das Problem ist, dass das Ding sich so leicht bewegt," sagte der eine und zeigte auf den hellen Kreis auf dem Röntgenbild. "Es ist sehr schwer, und das Hirngewebe ist sehr weich. Je mehr es sich bewegt, desto mehr Schaden richtet es an, und desto Schwerer ist es herauszukriegen. Hier sehen Sie die Eintrittsstelle, und es hat schon seine Position gewechselt, wobei es das Gehirn von einer Seite zur anderen durchwanderte."


"Ruft ausgedehnte Schäden hervor"

Mittwochnacht starb einer der Teenager, Marwan Madani, 17, aus dem Dorf Tulkarm.

Und am Freitag starb ein anderer Palästinenser, Mohammed Yaqub Shalhoub, 15, aus dem Flüchtlingsbezirk Nuseirat, nach Angaben des Krankenhauses an seiner Verwundung durch eine Metallkugel nachdem er am Donnerstag eingeliefert worden war.

Diese neue Waffe haben wir im letzten Monat oder den Sechswochen am häufigsten gesehen, sagte Dr. Rustom R. Nammari, der Direktor des privaten Krankenhauses in arabischer Hand, in das die schwersten Verletzungen aus den besetzten Gebieten geschickt werden.

"Vor allem im Gehirn richtet sie ausgedehnten Schaden an" sagte er. "Alle Leute, die einen Kopfschuss erhalten, sind praktisch tot. Es ist schlimm. Aus kurzer Distanz verursacht sie grössere Verletzungen."

Die Metallkugeln, die in den vergangenen Wochen im Gaza-Streifen und einer Reihe von Orten auf der West-Bank gesehen wurden, sind schwerer als die Gummigeschosse. Sie sind in mindestens zwei Grössen gefunden worden, eine etwa so gross, wie ein "Shooter"-Murmel, mit der Kinder kleinere Murmeln aus einem Kreis schiessen, die andere geringfügig kleiner. Eine Kugel wog knapp über eine halbe Unze (ca. 76Gramm, Anm.). Sie scheinen zu mehreren auf einmal abgefeuert zu werden.

Erster Todesfall am 26. Dezember

Der erste Todesfall durch Metallkugeln ist am 26. November verzeichnet worden; das Opfer war Farid Mughari aus dem Gaza-Streifen, Vetter eines der Jugendlichen im Ost-Jerusalemer Hospital. Dr. Nammari sagte, dass Mitte Dezember im Krankenhaus vier palästinensische Jugendliche mit Kopfverletzungen durch die Stahlkugeln nach grösseren Auseinandersetzungen in Nablus starben.

In Gaza wurden am 2. Januar zwei palästinensische Mädchen schwer durch Metallkugeln verletzt; sie wurden identifiziert als die 6jährige Hana Abu Ghazola, die hinter dem rechten Auge getroffen worden war, und Sohad Aqel, eine 12jährige, die von drei Metallkugeln in den Kopf getroffen war.

Am Dienstag wurde, ebenfalls im Gaza­Streifen, einem 12jährigen Mädchen, Hanadi Abu Sultan, mit einer Metallkugel in die Stirn geschossen. Sie wurde in ein israelisches Krankenhaus bei Tel Aviv gebracht, das keine Nachfragen über ihr Befinden beantworten wollte. Die Ärzte befürchteten nach Angaben der Familie, dass sie sterben werde.

Eine Welle von Schüssen

Die Welle an Schüssen datiert von der Einführung leichtgewichtiger Hartplastikgeschosse her, die Ende August (1988, Anm.) die normale Hochgeschwindigkeits- Bleimunition ersetzten.

Obwohl die Armee angekündigt hatte, sie würden nur durch speziell ausgebildete Offiziere verschossen werden, scheint ihre Anwendung sich ausgeweitet zu haben. Zeugen haben beschrieben, dass sie sahen, wie Kästen mit der neuen Munition die Runde unter Soldaten machten.

"Seit die neue Politik Ende August angekündigt wurde, haben sie freieres Schiessen zugelassen", sagte Janet Abu Shakra vom Datensammelprojekt für die Menschenrechte der Palästinenserinnen (Data Base Projekt für Palastinian Human Rights), das Statistiken zusammenstellt. "Es hat einen ziemlich dramatischen Anstieg an Todesschüssen gegeben," sagte sie und fügte hinzu, dass einige der Verwundungen von Plastikgeschossen, andere von Bleimunition stammten.

,,Es ist keine Frage, dass sie eher schiessen, dass sie in Menschenmengen und Demonstrationen schiessen. Der Prozentsatz an Verletzungen lebenswichtiger Organe, der Brust und des Kopfes steigt an, sagte sie.

"Sie töten doch"

"Besonders nach Einführung der Plastikgeschosse bekamen wir mehr Verwundete" sagte Dr. Nammari. "Nun haben wir einen plötzlichen Anstieg an Kopfverletzten. Wir bekommen sie fast jeden Tag während der letzten vier bis sechs Wochen."

"Im letzten Frühjahr hatten wir weniger Verletzte, allerdings waren die Wunden durch die Hochgeschwindigkeitsmunition schwerer," fuhr er fort. "Aber diese Geschosse wurden nicht so extensiv und willkürlich eingesetzt. Jetzt haben wir mehr Verletzungen, und viele sind schwerer, vor allem die Kopfverletzungen, speziell in den vergangene Monaten."

"Sie haben einen lockeren Finger am Abzug, weil sie denken, das Plastikgeschoss sei weniger gefährlich", sagte Dr. Nammari über die Armee. "Es ist sicher harmloser im Vergleich zur Hochgeschwindigkeitsmunition, aber es tötet doch. Es bricht auch Knochen."

Ein liberales Israelisches Parlamentsmitglied, Dedi Zucker von der Bürgerrechtsbewegung (RATZ) sagte, dass die letzten Monate "eine Atmosphäre des Feuer-frei" geboten hätten.

Statistiken zeigen Anstieg

Zucker, der die Situation aufmerksam verfolgt, stellte Zahlen über Todesfälle sowohl nach Armeemeldungen als auch aus arabischen Quellen zusammen, welche die Veränderung seit Einführung der Plastikgeschosse deutlich machen. "Im Gasa­Streifen," sagte er, "gab es neun Angeschossene im Juli; die Zahl stieg im August auf 97, 121 im September und 123 im Oktober." Er sagte, diese Zahlen seien ein exzellentes Beispiel. für die neue Politik.

Zucker ergänzte, dass das blutigste Einzelereignis im vergangenen Monat in Nablus, bei dem acht Palästinserinnen während einer Beerdigungsprozession erschossen wurden ,darauf zurückzuführen ist, dass die Soldaten gewöhnliche Munition nach den gleichen Kriterien wie Plastikgeschosse verwendet haben.

Ein Kollege Zuckers, Yossi Sarid, ein weiterer Bürgerrechtsaktivist, schrieb aus Protest gegen die hohe Todesrate im Dezember mit der Forderung an Generalstaatsanwalt Yosef Harish, die Plastikgeschosse verbieten zu lassen.

Rabins Verteidigung der Politik

,,Dies war der schrecklichste Monat seit Beginn des Aufstands." schrieb Sarid. "Als die Soldaten tödliche Munition unter strengen Vorschriften anwandten, gab es weniger Todesfälle als jetzt, wo Plastikgeschosse völlig freizügig eingesetzt werden.

Um die neue Politik zu verteidigen, hatte Verteidigungsminister Rabin im September gesagt, dass ,,unser Ziel die Erhöhung der Anzahl an Verletzten unter den Teilnehmern gewaltätiger Aktivitäten ist, nicht aber deren Tötung".

"Ich bin nicht besorgt über die zunehmende Zahl Verwundeter," sagte Rabin, "solange sie verletzt werden, während sie sich aktiv an der Anstiftung, Organisierung und Teilnahme an gewalttätigen Ausschreitungen beteiligen."

Er fügte hinzu, dass die Verwundungen die Fähigkeit der Armee demonstrierten, ,,wirksam mit Aufständischen umzugehen, so dass wir die Oberhand behalten".

(Übersetzung: Redaktion strassenmedizin)

Getötete Kinder