Als im Frühjahr 1974 die Polizeipsychologen und -pädagogen in Hiltrup tagten, überraschte Oberschulrat Stiebitz sicherlich einige von ihnen mit der Feststellung, dass man nunmehr bereits auf 50 Jahre Psychologie im Dienste der Polizei zurückblicken kann.
Tatsächlich wurden im Jahre 1923 erstmals Erkenntnisse einer noch sehr jungen Wissenschaft in der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten vermittelt. Zunächst beschränkte man sich jedoch darauf, die Lehrkräfte an den Polizeischulen pädagogisch und psychologisch zu schulen. 1926 erschien dann der erste Leitfaden mit dem Titel "Psychologie für Polizeibeamte", vorwissenschaftlich, wie es dem Stand der Psychologie in dieser Zeit entsprach.
Mit Ministerialerlass vom 29.10.1928 begannen pädagogisch- psychologische Kurse für Polizeihauptleute.
Eignungsuntersuchungen und deren Probleme in der Anwendung wurden erstmals 1924 erwähnt (Die Polizei, 1924, Seite 113). Aber bereits 1928 konnte man hier auch relativ praxisnah vorgehen.
Von 1933 - 1945 waren psychologische Erkenntnisse nicht gefragt.
Erst 1949 erhielten Psychologen und Pädagogen in Hiltrup, später auch an anderen Polizeischulen Gelegenheit, den Beamten psychologisches Wissen zu vermitteln. Der grosse Durchbruch für die Psychologie in der Polizei erfolgte 1964, als der Münchner Polizeipräsident Dr. Manfred Schreiber erstmals einen hauptamtlichen Psychologen einstellte, der nicht nur unterrichtete, sondern auch in Führungs- und Einsatzfragen beratend hinzugezogen wurde. Das Münchner Beispiel machte in den vergangenen 11 Jahren Schule. Heute sind in der Bundesrepublik 10 hauptamtliche Diplom- Psychologen oder Diplom- Soziologen bei der Polizei tätig.
Zwei von ihnen sind in einem interdisziplinären Wissenschaftlerteam beim BKA ausschliesslich forschend tätig.
Vier sind als Psychologielehrer und bei der Erarbeitung von Ausbildungskonzeptionen eingesetzt. Drei haben neben ihrer lehrenden Tätigkeit auch beratende Funktion bei allgemeinkonzeptionellen Fragen.
Der Münchner Polizeipsychologe steht schwerpunktmässig beratend bei allen Führungs- und Einsatzfragen zur Verfügung, seine Tätigkeit in der Lehre beschränkt sich auf qualifizierte Führungsseminare und darauf, seine polizeilichen Mitarbeiter im Umgang mit der Psychologie in Lehre (mittlerer Dienst) und Anwendung fit zu machen. Darüber hinaus ist es seine Aufgabe, neue Erscheinungsformen der Kriminalität hinsichtlich ihrer Ursachen und Motive zu analysieren und gemeinsam mit der Polizeiführung praktikable Begegnungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Fasst man die Tätigkeitsgebiete dieser Psychologen zusammen, so ergibt sich ein sehr breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten.
Da wären zunächst die auch in der Polizei klassischen Gebiete Unterricht und Auswahlberatung.
Höhen und Tiefen, die eine junge Wissenschaft durchmacht, blieben bei diesen Gebieten auch der Polizei nicht erspart.
Das lag einmal daran, dass für die allgemeine Psychologie gültige Verfahren nicht auf ihre Brauchbarkeit für die Polizei überprüft wurden, zum anderen aber auch an der Überschätzung der Psychologie als "Wunderwaffe" von seiten der Presse.
Zum Thema Unterricht und Auswahl lässt sich allgemein folgendes sagen:
Haupttätigkeitsgebiete des Psychologen sollten unterstützende Hintergrundanalysen und Motivstudien sein. Dabei geht es um die Analyse des Ansehens der Polizei in der Öffentlichkeit, des Führungsverhaltens in der Behörde und der motivationalen Hintergründe bestimmter Erscheinungsformen der Kriminalität (Jugendkriminalität, Terror).
Die Beratung des Psychologen ist nichts wert, wenn er nicht auf diese eigens für die polizeilichen Belange erarbeiteten Grundlagen zurückgreifen kann. Psychologische Beratung, die nur auf dem Rückgriff auf allgemeinen theoretischen Erkenntnissen basiert, kann dem Praktiker nichts nützen. Wenn der Rat des Psychologen allerdings auf gemeinsam mit den Fachleuten aus dem Polizeibereich durchgeführten und wissenschaftlich abgesicherten Untersuchungen beruht, wird er in der Praxis auch auf Verständnis und Anwendungsbereitschaft stossen und somit zu praktikablen Problemlösungen führen.
Werbung und Öffentlichkeitsarbeit waren in der Vergangenheit ein den Psychologen sehr beanspruchendes Arbeitsgebiet - leider hat dies manchmal nur zu einer Öffentlichkeitsarbeit des Psychologen für sich selbst geführt.
Die beste Öffentlichkeitsarbeit für die Polizei beginnt bei der Polizei selbst, d. h. sie muss nach innen gerichtet sein. Werbung für die Polizei und für ihr Image sind dann fruchtlos, wenn der Beamte selbst durch sein Verhalten in der Öffentlichkeit das mühsam aufgebaute Bild wieder zerstört. Die Öffentlichkeitsarbeit für die Polizei beginnt also bei verhaltenssteuernden Fortbildungsveranstaltungen für die Beamten selbst, vor allem aber für Vorgesetzte auf allen Ebenen. Denn es ist die Aufgabe aller Vorgesetzten, darauf zu achten, dass das Ansehen der Beamten in der Öffentlichkeit nicht durch Fehlverhalten einzelner Schaden erleidet. Rhetorikkurse und gruppendynamische Seminare sollen die Wirkung des eigenen Verhaltens verdeutlichen und somit Grundlage für positive Verhaltensänderungen sein.
Schlecht beraten war die Polizei in der Personalwerbung immer dann, wenn sie durch überzogene Leitbilder versuchte, ihren Beruf attraktiv zu machen. Verbrecherjagd und Hubschrauberfliegen sind bekanntlich nicht die einzigen Tätigkeitsgebiete für die Beamten. Wer allerdings auf diese Art nach Abenteurern ruft, wird sie später tatsächlich bekommen.
Die Beratung in Verkehrsfragen wurde in der Vergangenheit von den Polizeipsychologen eher vernachlässigt. Zwar wurde versucht, den Einschreitestil der Beamten zu verbessern, indem man sie darüber unterrichtete, dass das Verhalten der Verkehrsteilnehmer sich nach bestimmten Gesetzen aus den Bereichen der Motive und Einstellungen vollzieht. Auch in der Verkehrsaufklärung konnten Psychologen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit Beiträge leisten. Aus den Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie wären, unterstützt durch neue Untersuchungen, vor allem auf dem Gebiet der Verkehrsregelung, noch einige praktikable Verfahren zu entwickeln. Im Rahmen gezielter polizeilicher Vorfeldarbeit sind hier noch einige Probleme zu lösen, die zwar keine eigentlichen Polizeiaufgaben sind, deren Auswirkungen jedoch häufig polizeiliche Relevanz bekommen. (Man denke hierbei vor allem an Hinweistafeln aller Art, an Probleme des Linksabbiegens, an Ampelanlagen auf Ausfallstrassen, um nur weniges zu nennen.)
Die Beratung bei polizeilichen Einsätzen durch den Psychologen ist ein häufig diskutiertes Thema, bei dem vor allem die Meinungen der Psychologen selbst stark voneinander abweichen. Tatsächlich sind in der Praxis Art und Umfang sehr gering und das ist auch gut so.
Aufgabe des Psychologen muss es vor allem sein, an der Einsatzplanung konzeptionell mitzuwirken, im Einsatzgeschehen selbst ist die Gefahr zu gross, dass der vielleicht rein psychologisch richtige Rat nicht in das polizeitaktische Konzept hineinpasst und somit nur zu einer noch grösseren Verunsicherung führt. Die Lenkung des Einsatzgeschehens ist nur durch erfahrene Polizeibeamte gewährleistet. Ein Psychologe ohne polizeiliche Erfahrung ist also fehl am Platze. Ein Psychologe mit polizeilicher Erfahrung ist jedoch um so weniger geeignet, als im Einsatz die Gefahr besteht dass sein polizeiliches Denken sein psychologisches Wissen überstrahlt'
Die Aufgabe des Psychologen im Einsatzgeschehen liegt in erster Linie darin, exakt zu beobachten, was geschieht und dann die Beobachtungen zu sammeln und zu systematisieren. Aus dem Vergleich vieler Geschehensabläufe und durch die Reflexion auf dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse lassen sich dann daraus wichtige und nützliche Erkenntnisse ableiten.
Die Polizei ist, was das Verhalten der Beamten in und nach Einsätzen betrifft , in der Vergangenheit vielen fragwürdigen Ratschlägen ausgesetzt gewesen, die zwar vom vorwissenschaftlichen Verständnis
der Psychologen berechtigt gewesen sein mögen, hinsichtlich ihrer praktischen Relevanz für die Polizei jedoch keine oder negative Bedeutung hatten.
Die Ursache hierfür lag darin, dass die Psychologen allgemeine theoretische Erkenntnisse in eine Praxis zu übertragen versuchten, die wegen ihrer Differenziertheit einerseits und wegen der sie bestimmenden extremen Bedingungen speziell für sie entwickelter Verfahrensweisen bedurft hätten.
Neben dieser kritischen Betrachtung darf nicht vergessen werden, dass mit Hilfe der Psychologie auch eine Reihe von brauchbaren Vorgehensweisen entwickelt wurden. Man denke hierbei vor allem an die Beat-Welle, Studentenkrawalle oder auch an die Bekämpfung der Rauschgift- und Jugendkriminalität. Immer, wenn Psychologen im Einsatzgeschehen erfolgt reich beraten haben, ging ihrer Beratung eine systematische Analyse der Geschehensabläufe voraus. Die Beratung wurde vor allem dann effektiv, wenn die Analysen gemeinsam mit Polizeipraktikern durchgeführt wurden und die aus ihnen entwickelten Massnahmen zusammen mit einsatzerfahrenen Beamten festgelegt wurden.
Die Rolle der Psychologie in der Polizei wird auch in der Zukunft an Bedeutung eher zunehmen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass bei allen Aufgaben der Polizei der Mensch, sein Verhalten und seine Eigenarten im Mittelpunkt stehen. Aufgabe des Psychologen wird es sein müssen, menschliches Verhalten zu analysieren und dem Polizeipraktiker verständlich beizubringen. Dabei ist es unerlässlich, dass der Psychologe seine Erkenntnisse auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen in den verschiedensten Bereichen menschlichen Verhaltens vermitteln kann. Zusammen mit Praktikern aus dem Polizeibereich wird er dann effektive Massnahmen und Programme erarbeiten können. Ein für die Polizei geeigneter Psychologe sollte aus dem Bereich der angewandten Sozial- oder Betriebspsychologie kommen. Psychologen, die von Theorie und Praxis her eher aus dem klinischen Bereich stammen, scheinen für die Polizei weniger geeignet zu sein. Dies liegt einfach daran, dass die Polizei es weitestgehend mit normalen und manchmal mit am Rande der Norm lebenden Menschen zu tun hat. Nur in Ausnahmesituationen hat sie ein anormales Gegenüber, für das eher der klinisch orientierte Psychologe oder der Psychiater zuständig wäre.
Die Menschen hören nicht zu. Sie glauben zwar zuzuhören,
aber in Wirklichkeit hören sie nur das, was sie hören wollen.
Ephraim Kishon
Konfliktforschung in der alltäglichen polizeilichen Begegnung mit dem Bürger und Verhaltensforschung auf dem Gebiet der Gewaltkriminalität und des Terrors sind die Aufgabengebiete der nahen Zukunft. Diese Forschung sollte weniger unter klinischem Aspekt durchgeführt werden, denn die neuesten Untersuchungen haben gezeigt, dass das Verhalten dieser Tätergruppen nach klaren psychologischen Gesetzen erfolgt. Sie sollte jedoch auch nicht unter rein polizeitaktischen Gesichtspunkten erfolgen, da dies zu einer Eskalation der Gewalt führen kann. Angewandte Psychologie, als die Lehre vom menschlichen Verhalten, seinen Motiven und Hintergründen, aber auch seinen Grenzen, kann der Polizei helfen, im Sinne einer "geistigen Be- und Überwältigung mit dafür zu sorgen, dass die Gewalt nicht bis ins Unkontrollierbare eskaliert.
Jugendkriminalität als Ursache für das Anwachsen und Fortbestehen krimineller Praktiken soll ein Alarmsignal für die Verhaltensforscher sein, die Polizei in ihren präventiven Aufgaben zu unterstützen. Sozialwissenschaftliche Forschung nach den tieferen Ursachen erlaubt gezielte langfristige Massnahmen im Sinne polizeilicher Vorfeldarbeit.
Erste Erfolge lassen die Hoffnung begründet erscheinen, dass diese Grundlagenarbeit, die sich aus der Synthese praktikabler Psychologie und wissenschaftsorientierter Praxis ergeben hat, auch in der Zukunft polizeiliches Denken und Handeln befruchten wird.
Durch ein gezieltes Präventionsprogramm ging die Gewaltkriminalität bei jugendlichen in München im vergangenen Jahr um 42 % zurück. Wenn 'auch solche Zahlen nicht eindeutig interpretierbar sind, so sind sie in dieser Grössenordnung doch geeignet, über Programme dieser Art nachzudenken und den Sozialwissenschaften einen festen Platz in der Polizei einzuräumen.
Bei richtiger Handhabung kann die Polizei durch die Psychologie profitieren. Der Psychologe selbst wird jedoch immer den grösseren Nutzen für seine Wissenschaft und vor allem für sich persönlich ziehen, denn es gibt wohl kein anderes Tätigkeitsgebiet in diesem Beruf, das ihm mehr Möglichkeiten gibt, für sich und seinen Beruf hinzuzulernen.
Wolfgang D. Salewski, Diplom-
Psychologe, Jahrgang 1943, studierte in München Psychologie.
Nachdem er von 1970 bis 1972 bei der Firma DEMAG in Duisburg auf dem Gebiet
Auswahlberatung und Personalentwicklung tätig war, liess er sich
ab 1. 9. 1972 als selbständiger Unternehmensberater in München
nieder.
Vom 1. 1. 1974 bis 31.12.1975 war er als Polizeipsychologe beim Polizeipräsidium
München.
In Zusammenarbeit mit der Deutschen Lufthansa erstellte er 1975 eine Motivstudie
über das Verhalten von Luftpiraten (Flugzeugentführern) und entwickelte
aus den Ergebnissen ein gruppendynamisch orientiertes Training über
Verhalten und Verhandeln bei Geiselnahmen.