GRENZCAMP 2001   FRANKFURT/M AIRPORT

 
4. antirassistisches Grenzcamp vom 27. Juli bis 5. August 2001 beim Flughafen Frankfurt/Main
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Flucht übers Meer

Jungle World 25.07.2001
von Florian Schneider - - 28.07.2001 20:35

In der Umgebung von Tarifa, wo vom 2. bis zum 7. Juli das spanische Grenzcamp stattfand, hat sich Florian Schneider umgeschaut

Wenn die Sonne günstig steht, wirkt die marokkanische Küste so nah, dass ich lange Zeit denke, wir würden immer noch an Gibraltar vorbeifahren. Europa winkt mit riesigen Windrädern, die auf den steilen Felshängen zur Meerenge hin aufgestellt sind.

Für die Menschen auf den Pateras - kleinen Holzbooten, die knapp fünfzehn Kilometer über das Meer zurücklegen können - ist der Wind eine, wenn auch nicht die bestimmende Größe. Fast jede Nacht sollen Hunderte von illegalen Grenzgängern unterwegs sein. Ab Mitternacht zieht dicker Nebel auf, aber der Sturm, der vorgestern noch die Gemeinschaftszelte des Grenzcamps abgedeckt hat, hat sich gelegt.

Es sind ungefähr 300 junge Menschen, die sich auf dem Campingplatz "Rio Jara" eingefunden haben. Ein Teil des offiziellen Geländes wurde für die Polit-Touristen abgesteckt, am Eingang ist ein Informationspunkt eingerichtet. Hier hängt das Programm für die Workshops und Arbeitsgruppen aus. Wert wird vor allem auf Gruppendynamik gelegt, auf stundenlange Diskussionen und grundlegende Einführungen in Abstimmungsprozesse, die offenbar zuerst darauf zielen, ja keine abweichende Meinung zu produzieren und auf so etwas wie alternativer Managementtheorie basieren. Mediationsgruppe, Dynamikgruppe, Mediengruppe - die Selbstreflexivität der Unterhaltung am ersten Abend wird nur für kurze Zeit von einer Aktivistin aus Tarifa durchbrochen, die von den Einwanderern aus Afrika und über die Methoden der Guardia Civil berichtet.

Am nächsten Tag das erste Mal im Meer! Ein langer, breiter Sandstrand, der sich vom Ortsrand von Tarifa nach Westen erstreckt. Frischer Wind und hohe Wellen, die Atlantikküste hier ist eines der bekanntesten Surf-Paradiese Europas. Weiter draußen passieren riesige Tanker die Meerenge von Gibraltar. Wir springen durch die Wellen ins Wasser. Später erzählt mir Faisal, der aus dem Rif-Gebirge kommt, dass fast jeden Tag Tote an der Küste gefunden werden. In der Nacht zu Mittwoch ziehen dicke Wolken auf. Die Guardia Civil, die hier den Küstenstreifen bewacht, soll angeblich 200 Menschen aus dem Meer gefischt haben, die jetzt in einem Lager in Tarifa untergebracht sind.

Wie viele es geschafft haben, durchzukommen und sich die Nacht über im Gebüsch hinter dem Strand zu verstecken, kann niemand sagen. Fünf Menschen sind frühmorgens im Camp aufgetaucht und sollen dem Vernehmen nach rasch in Sicherheit gebracht worden sein. In Tarifa und Umgebung gibt es ein informelles Netzwerk, das sich mit ebenso großer Entschlossenheit wie Diskretion für die unmittelbaren Bedürfnisse der Menschen einsetzt, die nachts in den Booten ankommen. Die Menschen, die dieses Netzwerk bilden, befinden sich in nicht unbedeutenden Positionen, heißt es. Zum Camp halten sie Distanz.

Khalil ist seit letzten Dienstag hier. 1000 Dollar hat die Überfahrt gekostet. Er erzählt von der Angst vor den zehn Meter hohen Wellen, die mehr als 50 Menschen in dem kleinen Holzboot bedrohten. Er hatte mitgeholfen, den Motor an Bord zu bringen, einen falschen Schritt getan und war noch vor Beginn der Überfahrt ins Wasser gefallen. Die ganze Zeit verbrachte er in nassen Kleidern. Jetzt lacht er. Gut zwei Stunden habe es gedauert, bis sie endlich in Tarifa ankamen und sich in den Wäldern versteckten. Der 23jährige aus Casablanca ist ein guter Fußballspieler. Er hofft, einen Club im Norden zu finden und dann Papiere zu bekommen. Wenn es nicht klappt, will er zu seinen Brüdern nach Turin.

Auch ihm ist vom Fluchthilfe-Netzwerk geholfen worden. Das erste, worum die Leute bitten, sei, sagt Nieves, zuhause anrufen zu dürfen, um zu sagen: Ja, ich habe es geschafft, ich bin in Europa, ich bin gesund. Nieves organisiert seit elf Jahren so etwas wie die Erstaufnahme von Einwanderern, die nicht in den Fängen der Guardia Civil landen. Das Netzwerk organisiert Transporte, kümmert sich um Verletzte, kämpft gegen Rückschiebungen, plant die Weiterreise oder die Legalisierung. Was sie macht, sei eine Selbstverständlichkeit, sagt Nieves. Wenn sie morgens aufsteht und von ihrer Dachterrasse aufs Meer blickt, kann sie sich nicht sagen: Was für ein schöner Tag! Sie muss sofort denken: Heute werden wieder Menschen sterben.

Später warten wir auf den Leiter des Roten Kreuzes in Tarifa. Als Treffpunkt hat er eine Bar direkt gegenüber der Guardia Civil vorgeschlagen. Wir trinken Kaffee und beobachten die andere Straßenseite: Gefangenentransporter, die alle paar Minuten das Militärgebäude verlassen, um Einwanderer, die in der Nacht aus dem Meer gefischt wurden, abzutransportieren. Manche schauen aus dem vergitterten Fenster.

Mit einigen Stunden Verspätung kommt ein kräftiger Mann, vielleicht Ende dreißig, untersetzt und unrasiert. Auf seiner roten Weste prangt das Schild: "Coordinador". Er hatte viel zu tun heute. 102 Illegale sind in der Nacht
aufgegriffen worden und müssen versorgt werden. Versorgung heißt hier, die von Überfahrt und Verhaftung völlig erschöpften Flüchtlinge ins Internierungslager des Roten Kreuzes zu schaffen. Dort erhalten sie etwas zu essen und ein paar Decken, ehe spätestens 72 Stunden später der Transport nach Algeciras ins Abschiebelager oder - für die wenigen, die in den Genuss eines Asylverfahrens kommen - in ein Flüchtlingslager folgt.

Die 30 Container des Roten Kreuzes stehen, bewacht von der Guardia Civil, auf einer weiträumig abgesperrten Hafenmole unterhalb der alten Festung von Tarifa. Vor der Tür stehen die Schuhe der Menschen, die in den Containern eingesperrt sind, und gerade in einem Aufenthaltsraum an ein paar Tischen sitzen. Marokkaner werden in der Regel sofort zurückgeschoben. Menschen aus Ländern südlich der Sahara haben eine kleine Chance auf ein Verfahren, wenn für das Land aus dem sie stammen, nicht schon ein Rückübernahmeabkommen gilt.

Wir fahren nach Algeciras, nehmen ein Surfbrett, Luftmatrazen, Handtücher und einen Stoß Schilder im Kofferraum mit. Auf dem Parkplatz des Fährhafens treffen wir ein Dutzend Freunde aus Deutschland, die ihre Herkunft und den Zweck ihres Aufenthaltes aufreizend offen zur Schau tragen: Sonnenhüte, Badehosen, bunte T-Shirts und Rucksäcke, Sandalen. So läuft hier sonst niemand herum. "Touristen gegen Abschiebungen", lautet das Motto der Aktion, die in Zusammenhang mit einigen anderen im Camp ausgearbeiteten Ideen steht. Wir wundern uns, warum sonst niemand kommt. Dann erfahren wir, dass die gesamte Unternehmung abgebrochen wurde, weil der Bus aus dem Camp nach nur ein paar Kilometern von der Guardia Civil angehalten und an der Weiterfahrt gehindert wurde. Vier Menschen, die aufs Busdach geklettert waren und ein Transparent entrollt hatten, seien sofort festgenommen worden.

In Sekundenschnelle werden alle Requisiten des Touristenprotestes angelegt, zwei Filme durch die Kamera gejagt, Flugblätter an den Windschutzscheiben der parkenden Pkw befestigt. Auf dem Rückweg nach Tarifa halten wir oft an und fotografieren. Wir finden einen alten marokkanischen Gummischuh, den ein Flüchtling wohl verloren hat, als er sich im Wald versteckte. Schuhe haben hier eine redundante Symbolik: das, was die Menschen auf der Flucht immer wieder zurücklassen. Das, was von ihnen am schnellsten an den Strand gespült wird, wenn sie unterwegs ertrinken. Bei Nieves steht eine Sammlung Schuhe auf der Terrasse, ein Künstler hat neulich eine ganze Menge davon zu einer Installation zusammengetragen.

Im Camp hat sich eine Nacktdemonstration formiert, die nun den Strand entlang läuft. Alle Teilnehmer haben Buchstaben auf den Rücken gemalt, die zusammengenommen dann Parolen wie "Kein Mensch ist illegal" oder "Deportation Stop" bilden - auf Spanisch ebenso wie auf Arabisch. Ein skurriles Bild für die Touristen, die sich am Strand breit gemacht haben.

Gleich daneben hat ein Fotograf eine Ausstellung aufgebaut. Fernando Garcia kommt aus der Gegend und fotografiert seit Anfang der neunziger Jahre die Grenze zwischen Spanien und Marokko. Heute handelt es sich um eine besondere Ausstellungseröffnung. Auf Staffeleien im Sand stehen riesige Abzüge seiner Bilder. Einige genau dort, wo sie aufgenommen wurden. Garcia hat fotografiert, was ihm vor die Linse kam: Tote, die am Strand angespült werden, Festnahmen, Abfahrt, Ankunft, Strandung. Die Inszenierung der Ausstellung ist beeindruckend: Betrachter, die vor Fotos verweilen, die illegale Grenzgänger zeigen, wie sie am Strand ankommen, dahinter Touristen, die sich gerade sonnen oder sorglos ein Bad in den Wellen nehmen.

Bei meiner Abreise aus Tarifa sehe ich ein Bild, das Kinder an eine Böschung gemalt haben: Die Straße von Gibraltar, bevölkert von Booten, auf denen Pateras steht und in denen Schwarze sitzen. Dazwischen patrouillieren - ganz weiß im Gesicht und mit einem roten Kreuz auf der Brust - Krankenschwestern, die die armen Teufel aus den Booten herzlich in Empfang nehmen.