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Von Jena nach Strasbourg

- Grenzcamp hoch zwei im kommenden Sommer

aus: analyse und kritik (ak)

19. Juli 2002: Zahlreiche "Freedom of Movement"-Transparente zieren den Auto- und Buskonvoi, der sich gerade von Jena Richtung Strasbourg auf den Weg gemacht hat. Eine Zeltwoche haben einige hundert "CampaktivistInnen" bereits hinter sich, und erstmals machten Flüchtlinge und MigrantInnen bei diesem fünften kein-mensch-ist illegal-camp gut die Hälfte der TeilnehmerInnen aus. Die Selbstorganisationen The Voice sowie die Brandenburger Flüchtlingsinitiative hatten die Idee und auch größten Anteil daran, daß mit Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams quer durch Thüringen einiger Staub aufgewirbelt wurde. Die Normalität der Isolation in einigen der anliegenden Flüchtlingslager war für diese Woche komplett durchbrochen, die üblichen rassistischen Kontrollen und die diskriminierende Residenzpflicht waren quasi außer Kraft gesetzt.
Jetzt zieht ein Großteil der CamperInnen weiter, in Strasbourg wollen sie mit AktivistInnen aus verschiedensten Ländern zusammentreffen. Für zehn weitere Tage zielt auch das erste international organisierte nobordercamp gegen ein Grenzregime, das sich schließlich zunehmend europaweit vereinheitlicht. Deshalb soll u.a. am SIS- Bunker, dem Schengen Informations System, protestiert werden, vor der ersten supranationalen Fahndungsdatei, die sich vor allem gegen illegalisierte MigrantInnen richtet. Doch an der Mobilisierung nach Strasbourg sind gleichermaßen Initiativen beteiligt, die in der sog. Antiglobalisierungsbewegung aktiv sind, Gruppen, die Carneval-Aktionen veranstalten wollen, sowie zahlreiche Internet- und Indymedia-AktivistInnen. Ein Labatorium kreativen Widerstands ist für die kommende Woche angekündigt, eine temporäre autonome Zone, die jenseits des Gipfelhoppings, aber doch im internationalen Rahmen eigene und themenübergreifende Akzente setzen will...

Solcherart könnte ein Szenario für den kommenden Sommer aussehen, eine Doppelcampmobilisierung für Juli hat bereits begonnen (1). Nach dem letztjährigen Grenzcamp "in der westlichen Metropole", in der Nähe des Frankfurter Flughafens, kehren die Zelte für dieses Jahr zunächst "in die östliche Provinz" zurück. "Die inneren Grenzen im Visier", dieser für Frankfurt kreierte Slogan, behält allerdings seine Aktualität. Denn im Mittelpunkt der Aktivitäten in Thüringen soll die alltägliche Isolation und Ausgrenzung von Flüchtlingen stehen, deren Lebenssituation in den elenden Lagern und nicht zuletzt die ständigen rassistischen Kontrollen, zumeist auf Grundlage der sog. Residenzpflicht, die in Thüringen besonders repressiv angewendet wird.
Den Vorschlag für ein Grenzcamp in Thüringen hatte die Flüchtlingsselbstorganisation The Voice in die Debatte gebracht. AktivistInnen dieser Gruppe wie auch der Brandenburger Flüchtlingsinitiative waren zwar auch im Frankfurter Camp schon zahlreicher als zuvor vertreten. Doch beide Gruppen kritisierten ihre mangelnde Einbeziehung und das oberflächliche bis abgrenzende Verhältnis der "Nonrefugees". Das neue Camp wird voraussichtlich nicht nur eine völlig andere Zusammensetzung der TeilnehmerInnen (zugunsten der Refugees) mit sich bringen, sondern will insbesondere eine intensivere Auseinandersetzung zwischen Flüchtlingen und AntirassistInnen (mit Schengen-Paß) vorantreiben. Neben den genannten antirassistischen Schwerpunkten soll - anknüpfend an die ersten drei Camps an der Ostgrenze - wieder die provokativ bis vermittelnde Aktionspalette aufgegriffen werden, um gegen die dortige Naziscene vorzugehen oder auch die Jenaer (optische) Rüstungsindustrie mit ihrer Verwicklung in die aktuellen Kriege zu thematisieren.

Voraussichtlich in der Nachbarschaft eines Banlieu, eines Vorortes, in dem viele MigrantInnen und Sans Papiers leben, wird das Camp in Strasbourg (2) stattfinden. An den Vorbereitungen maßgeblich beteiligt ist jedenfalls eine lokale Gruppe (3), die gemeinsam mit den "MIBs" (4), der Bewegung der ImmigrantInnen in den Vorstädten, für das Camp mobilisiert und die dort ihre Kampagnen gegen rassistische Polizeieinsätze sowie die Doppelbestrafung (5) von MigrantInnen einbringen wollen. Aus Frankreich sind zudem Antiabschiebe-Gruppen involviert, die in Paris gerade eine Kampagne gegen die nach dem 11. September in kraft gesetzten "Sicherheitsgesetze" begonnen haben, sowie das Netzwerk "Sans Titre", in dem sich städtische HausbesetzerInnen und Landprojekte zu gemeinsamen Aktionen zusammengefunden haben.
Aus Österreich sind antirassistische Gruppen um die Wiener Volxtheater-Karawane am Strasbourg-Projekt beteiligt, aus England wollen das "Barbed Wire" - Netzwerk gegen Abschiebehaft, noborder- und "Rhythm of Resistance"-Sambagruppen beim Programm mitmischen, und aus Finnland hat sich ein erster Bus angemeldet ... eine vielfältige internationale Zusammensetzung erscheint zunehmend wahrscheinlicher.

Das SIS war als symbolischer Bezugs- und "Anlauf"punkt oben bereits erwähnt und dieses elektronische Instrument der Kontrolle, Abschiebung und Ausgrenzung charakterisiert die europäische Vereinheitlichung sicher treffender als die kosmetischen Institutionen des Europaparlaments oder des Menschengerichtshofes.
Letzterer wird nichtsdestotrotz zu einem weiteren Ort des Protestes werden, wenn Selbstorganisationen dort ihre Bewegungsfreiheit einklagen wollen. Das Strasbourg-nobordercamp zeichnet sich darüberhinaus als praktisches "cross-over-event" ab. Mit "d.sec" (6) ist ein unlängst veröffentlichter Aufruf überschrieben, der gleichermaßen unkonventionell wie charmant Internetfreaks, MedienaktivistInnen als auch "streetcarnival"Gruppen zur Mitarbeit auffordert. Mit "noborder meets PGA"(7) sollen zudem Veranstaltungen betitelt werden, die aus eher praktischen Blickwinkeln die Zusammenhänge zwischen Migration und Globalisierung ausleuchten. Und mit einem Forum zu "Arbeit und Migration" will die "temporäre Assoziation: jeder mensch ist ein experte" die Diskussionsfäden auf europaweiter Ebene weiterspinnen, die im Oktober in der BRD in einer Veranstaltungsreihe über multiethnische ArbeiterInnenorganisierung in den USA aufgeriffen wurden (siehe AK Nr...).

Ob diese ersten ambitionierten Programmplanungen umgesetzt werden können, ob sich, nicht zuletzt angesichts der Sprachbarrieren, wirklich europaweite, themenübergreifende Debatten in einer Weise anzetteln lassen, daß sie über das Camp hinaus Bedeutung erhalten...darüber läßt sich im jetzigen Stadium nur spekulieren. Ein Anfang dazu wurde jedenfalls gemacht, übrigens schon im Dezember letzten Jahres, als sich in München bei einem noborder-Treffen AktivistInnen aus 15(!) europäischen Ländern nach den Erfahrungen mit der Grenzcampkette im vergangenen Sommer nun auf Strasbourg als ein gemeinsam zu organisierendes Projekt verständigten.

h.
ag3f, hanau


(1) Camp in Jena vom 12. bis 19. Juli, in Strasbourg vom 19. bis 28 Juli.. Einige AktivistInnen aus dem Campvorbereitungskreis, die mit der Thüringen-Entscheidung nicht einverstanden waren, planen zusätzlich sog. Schill-Y-out-days, ev. ebenfalls in Form eines Camps, für Ende August in Hamburg. Und erste Ankündigungen für ein antisexistisch-antirassistisches summercamp deuten daraufhin, daß gleich vier Campevents für diesen Sommer anstehen...
(2) Aufruf und weitere Infos unter www.noborder.org
(3)Festival permanent contre les loies raciste
(4) Mouvement de l'Immigration et des Banlieus (MIB) http://mibmib.free.fr
(5) meint das Gesetz, mit dem MigrantInnen, die wegen strafrechtlicher Delikte in Haft genommen wurden, danach zusätzlich abgeschoben werden.
(6) http://www.dsec.info/
(7) pga - peoples global action
05.05.2002