Was ist Residenzpflicht?
von Anke Schwarzer - 12.07.2002 16:27
Der Einkauf im nächstgelegenen Supermarkt, ein Besuch bei Verwandten, ein Ausflug mit dem "Schönen Wochenendticket" der Bundesbahn oder ein Fußballspiel auf dem Platz der gegenüberliegenden Straßenseite - alltägliche Tätigkeiten können für Flüchtlinge zum Verhängnis werden. Seit 1982 unterliegen Asylsuchende, deren Anträge noch bearbeitet werden, einer Aufenthaltsbeschränkung nach dem Asylverfahrensgesetz §56 - die sogenannte Residenzpflicht.
Sie dürfen den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem sie gemeldet sind, nicht verlassen. Da sich ein Asylverfahren unter Umständen über einen sehr langen Zeitraum erstrecken
kann, führt diese Regelung im Extremfall dazu, dass ein Flüchtling bis zu zehn Jahre an dieses Gesetz gebunden bleibt. Eine Genehmigung für eine kleine Reise zu erhalten ist äußerst schwierig. Zuweilen müssen
Asylsuchende für ihre Spazierfahrt oder den Arztbesuch auch noch bezahlen: zwischen 8 und 10 Euro kostet eine Erlaubnis.
Noch teurer wird es, wenn sie ohne Genehmigung außerhalb des Landkreises von der Polizei kontrolliert werden. Und das passiert schnell, da die Sondergesetze für Flüchtlinge der Polizei genügend Anlass geben,
ausländisch aussehende Menschen auf Bahnhöfen oder Raststätten herauszupicken und zu kontrollieren. Auch Polizeirazzien in Asylunterkünften sind an der Tagesordnung.
Neben der Polizei machen auch BürokratInnen in den zuständigen Behörden den Flüchtlingen das Leben schwer: Sie befehligen, wo sich ein Flüchtling aufzuhalten hat und wo nicht. Sie entscheiden - oft von Landkreis zu Landkreis unterschiedlich - wohin ein Asylsuchender reisen darf, wie oft er einen Freund besuchen darf, wann er Verwandte sehen kann und ob er auf ein politisches Treffen fahren darf.
Die offizielle Begründung für die Residenzpflicht: Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, bessere Verteilung der öffentlichen Lasten und schnellere Erreichbarkeit im Asylverfahren.
WAS BEDEUTET RESIDENZPFLICHT?
Die Einschränkung der Reisefreiheit für Asylsuchende hat neue unsichtbare Grenzen in Deutschland geschaffen. Politisch gezogene "innerdeutsche Grenzen" tasten die freie Entfaltung der Persönlichkeit der Asylbewerber in ihrem Wesensgehalt an. Mit der Residenzpflicht wird die Versammlungs- und Meinungsfreiheit für Asylsuchende eingeschränkt. Möglichkeiten, soziale Kontakte zu pflegen, werden behindert.
Die Residenzpflicht schränkt nicht nur Freiheitsrechte von Flüchtlingen ein und demütigt sie, wenn sie bei Behörden um Erlaubnis betteln müssen oder wenn sie kontrolliert werden. Residenzpflicht kann auch
lebensgefährlich sein. Folge sind oft verzweifelte Fluchtversuche, die bis hin zu Verletzungen oder zum Tod der Flüchtenden führen können.
Bei mehrmaligen Verstößen gegen die Residenzpflicht droht eine Gefängnisstrafe bis zu einem Jahr, eine Geldstrafe bis zu 2500 Euro oder der Ausweisungsbescheid. Nach Ansicht des Landratsamts Wartburgkreis
beeinträchtigen unerlaubte Reisen "die öffentliche Sicherheit und Ordnung maßgeblich" und verletzen die Interessen der Bundesrepublik erheblich. Deshalb soll ein mehrmaliger Verstoß gegen die Residenzpflicht zur Ausweisung des Asylsuchenden führen. Dabei wird nicht erklärt, welche Rechtsgüter wegen ungenehmigter Reisen in Gefahr stehen. Vielmehr argumentiert die Behörde generalpräventiv: Andere Ausländer sollen abgeschreckt und "veranlasst werden, sich in der Bundesrepublik Deutschland ordnungsgemäß zu verhalten". Insbesondere in Kombination mit der Zwangsunterbringung in sogenannten Sammelunterkünften in oft abgelegenen Gebieten gehört die Residenzpflicht zum asylrechtlichen Instrumentarium deutscher
Abschreckungspolitik.
Eine Landkarte, welche die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen abzubilden versuchte, sähe aus wie eine Karte der deutschen Kleinstaaten im 18. Jahrhundert, so Bernd Mesovic von Pro Asyl im April 2001. Und: "Dahin,
nämlich ins 18. Jahrhundert, gehört auch das Wort Residenz. Flüchtlinge aber residieren nicht, sie hausen unter provisorischen Lebensumständen, wie ihnen die Rechtssprechung beim Thema Mindestanforderungen an
Gemeinschaftsunterkünfte ins Stammbuch geschrieben hat. Damit soll ihnen selbst und anderen vor Augen geführt werden, dass ihr Aufenthalt nur ein provisorischer ist (auch wenn er jahrelang dauert)." Auch der UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, kritisiert seit den 80er Jahren die "einzigartigen Abschreckungsmaßnahmen gegen Asylbewerber".
Viele Flüchtlinge weisen auch darauf hin, dass die Residenzpflicht (neben zahlreichen anderen Gesetzen wie zum Beispiel das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz) Asylsuchende nicht nur in ihren Rechten
beschränkt, sondern sie auch gegenüber den Deutschen als "nicht gleichwertig", als "anders", "weniger wichtig" und "schwach" markiert. So Cornelius Yufanyi von The Voice: "Die Gesetze machen uns Flüchtlinge
schwach und so sehen uns auch die Deutschen. Diese Gesetze sind der Nährboden für rechte Gewalt." Und Christopher Nsoh von der Brandenburger Flüchtlingsinitiative: "Die deutschen Gesetze haben `minderwertige´
Menschen entstehen lassen."
Dieser Artikel ist eine gekürzte Version eines Artikels, der zuerst unter http://www.d-a-s-h.org/Dossier/Dossier1/03.shtml veröffentlicht wurde.