Sonntag Abend: Gera 2002. Hintergrundtext zur Antifademo
von atag - 16.07.2002 15:47
Was wirklich alle über Gera wissen ist, dass es ein selbstbewusstes und reichhaltiges Angebot an Nazis gibt. Seit Jahren schon vertreten sie ihre Meinung mit voller Überzeugung und gehören zum Stadtbild Geras dazu. Ohne den geringsten Widerstand belagern sie Stadtviertel wie Lusan, Bieblach, das Ostviertel und auch Teile der Innenstadt.
Der Platz der Republik im Stadtzentrum ist einer der beliebtesten Treffpunkte für "ACAB-Gera", "Gersche Jungs", "Anti-Antifa Ostthüringen" und natürlich auch der Kameradschaft Gera. Des weiteren hat der bundesweit bekannte rechtsextreme Inter-netversandhandel "Aufruhr-Versand" seinen Hauptsitz in Gera und verkauft von dort aus rechtsradikale Propaganda, Musik und Markenklamotten. Die Situation schien sich in den letzten zwei Jahren allerdings etwas zu beruhigen. Viele bekannte Nazis aus Gera haben mittlerweile eine Familie gegründet, sind voll und ganz mit dem gut florierenden "Aufruhr"-Versandhandel beschäftigt oder saßen im Knast. Doch der Schein trügt: Die nächste aktive Generation wächst heran. Mit dem Naziübergriff auf das besetzte Haus 2001 und den drei NPD-Aufmärschen 1999, 2000 und 2001 zeigten sie, dass Gera trotz alledem als Hochburg bezeichnet werden kann. Und die Tendenz steigt. Immer mehr Angehörige der rechten Szene und brutaler Schlägertruppen verlagern ihren Wohnsitz von Ronneburg, Altenburg und Greiz nach Gera. Diese Gruppen treffen sich in Geraer Szenekneipen, wie dem "Podium" in der Innenstadt. Auch der "Prellbock" im Hauptbahnhof zählt mittlerweile zur "nationalbefreiten Zone". Resultat: Mit den ersten Sonnenstrahlen entdecken wir zunehmend neue Nazigesichter. Nicht nur dieser Zustand, auch die Ankündigung der Kameradschaft Gera, "Dieses Jahr wird ein Kampfjahr", gibt einen Anlass für diese Demonstration.
Dieses düstere Bild soll nicht den Eindruck erwecken, die sichtbare Dominanz rechter Jugendkultur in weiten Teilen der ehemaligen DDR solle der hauptsächliche Gegenstand unserer antifaschistischer Aktivität sein. Bilder wie die aus Gera, Wurzen und Saalfeld sind nur sichtbarer Ausdruck einer politischen Entwicklung, in der sich die politische Lage in der BRD seit der "Wiedervereinigung" kontinuierlich nach rechts bewegt.
...raus, aber schnell!
Mit dem voraussichtlichen Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetz wird der Rechtsstatus von Menschen ohne deutschen Pass in einem ähnlichen Maße eingeschränkt wie es schon beim Asyl-kompromiss 1993 der Fall war. Der schon vorher schwierige Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt wird nun fast unmöglich: BewerberInnen dafür müssen 60 Rentenversicherungsbeiträge, ausreichende schriftliche Sprachkenntnisse und eine Staatsbürgerkundeprüfung nachweisen bevor Ihnen das Recht zugestanden wird, dauerhaft in der BRD zu bleiben. Der Nachzug von Kindern wird grundsätzlich nur bis zum 11. Lebensjahr gewährt. Vollends gestrichen wird die Anerkennung von Nachfluchtgründen im Asylfolgeverfahren, d.h. die Anerkennung von exilpolitischen Aktivitäten als Asylgrund - de facto ist politisches Engagement für Flüchtlinge somit eine zu große Gefahr.
Die Entscheidung über Nicht-Verfolger-Staaten, bisher gesetzlich geregelt, obliegt in Zukunft dem Bundesamt für die Anerkennung von Flüchtlingen - Damit ist die Entscheidung über Leib und Leben von Asylsuchenden der Willkür einer Behörde überlassen. Die Ausweisung von unerwünschten Personen wird erheblich vereinfacht: Wer "die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet" oder "Verbindungen zu Personen oder Organisationen, die der Unterstützung des internationalen Ter-rorismus verdächtigt (!!!) werden" hat, kann nun abgeschoben werden.
Das Grundrecht auf Asyl, eine Lehre, die die alte BRD aus dem Nationalsozialismus gezogen hat, ist damit entgültig zur Farce geworden.
Der Weg führt von Rostock-Lichtenhagen über den Asylkompromiss zum neuen Zuwanderungsge-setz. Die Nazi-Parole "Deutschland den Deutschen", hat sich mit diesem Gesetz materiell verwirklicht. Wer zu uns kommen darf, wird nach Gesichtspunkten der Nützlichkeit entschieden. Dass der Staat gerade jetzt mit zahlreichen Antifa- und Antira- Projekten die aus dem Ruder gelaufenen hässlichen Deutschen wieder von der Einhaltung bürgerlicher Verkehrsformen überzeugen will, ist kein Wunder. Zur ideologischen Begründung für die "raus, aber schnell" (Schröder)-Gesetze zur Bekäm-pfung der "durchrassten Gesellschaft" (Stoiber) waren brandschatzende Nazi-Horden vielleicht funktional, jetzt wo das Projekt Abschottung verwirklicht ist, überwiegt der Schaden, den sie "Deutschlands Ansehen in der Welt" zufügen.
Neben der bedrohlichen Wirkung, die diese Entwicklung für Menschen ohne Deutschen Pass hat, macht sie deutlich, dass die Nachkriegszeit vorbei ist: "Wir sind unter uns", so die Botschaft, die die völkische Berliner Republik qua Recht bestätigt.
Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!
Auch nach Innen nehmen Ausgrenzung und Selektion zu. Mit der Privatisierung des Gesundheitswe-sen und von Teilen der Altersversorgung wird Alter und Krankheit für ärmere Menschen zum Risiko.
Die Umgestaltung der Arbeitsämter zum modernen Dienstleistungsunternehmen erhöht den Druck auf die "Arbeitslosen". Die Ideologische Begleitmusik zum Arbeitszwang liefert der Kanzler, wenn er das "Recht auf Faulheit" aberkennt.
Karoshi, das ursprünglich aus Japan kommende Phänomen des "plötzliche Managertods", bei dem der Held der Arbeit ohne ersichtlichen Grund plötzlich tot über der Arbeit zusammenbricht ist in Deutschland angekommen und um die ganze Maschine am laufen zu halten, sollen Frauen sich gefälligst wieder auf die Familie konzentrieren.
Das Sortierkriterium ist die Arbeit, die Frage an die Träger der Arbeitskraft, ob sie willens und in der Lage sind, die ihre voll und ganz zu geben. Wer wegen seines Passes nicht ausgewiesen werden kann, wird im Lande entsorgt, abgeschoben in das löchrige Netz der sozialen Sicherung und von da aus weitergereicht an die Suppenküchen. Mit dem Ende der sozialen Marktwirtschaft landet der Kapitalismus nun wieder da, wo er angefangen hat: Adam Smith nannte es den "natürlichen Kampf aller gegen alle", wir nennen es beim Namen: Sozialdarwinismus; Bestandteil sowohl der liberalen als auch der faschistischen Ideologie.
Wenn die Rede vom "Volk" ist, liegt der Gedanke nahe, den "Volkskörper" gesund zu halten. Wer ob der wirtschaftlichen Lage nicht mehr gebraucht wird oder - schlimmer noch - mit Verweigerung das Zwangssystem Arbeit fragwürdig macht, muss geradezu ausgegrenzt, bestraft und in letzter Konsequenz - so geschehen mit Kranken, "Behinderten", Arbeitsscheuen und "Asozialen" im Nationalsozialismus - vernichtet werden - zur und sei es nur, um dem anderswo brav plackenden Humankapital zu zeigen, daß die Lohnarbeit ihren Alternativen vorzuziehen ist.
Antisemitismus
Die Abgrenzung nach unten ist durch Rassismus und Sozialdarwinismus abgedeckt. Nun wird unter dem Label des "Tabubruches" wieder laut gesagt und getan, was seit 1945 oft allein gedacht wurde: Antisemitismus gehört wieder zum "Guten Ton" in Deutschland. Durch Mecklenburg-Vorpommern geht eine Welle der Friedhofsschändungen, auf dem jüdischen Friedhof in Charlottenburg detoniert eine Bombe und Menschen, die äußerlich als JüdInnen erkennbar sind werden auf der Straße angegriffen. Auch diskursiv breitet sich der Antisemitismus wieder gehörig aus. Die wahnhafte Projektion vom Juden als personell Verantwortlicher für die Übel des Kapitalismus wird von vielen Deutschen geteilt und auch Teile der Linken tut das Ihrige dazu, wenn sie den Kapitalismus als bewusstes Projekt einer Handvoll finsterer Strippenzieher zu denunzieren suchen. Die Ideologie, die sich in Walsers Rede von der Moralkeule Auschwitz über die Pöbeleien gutbürgerlicher Subjekte bei der Eröffnung der Ignatz-Bubis-Brücke zu Möllemanns Verständnis für die palästinensischen SelbstmordattentäterInnen ausbreitet zeigt uns: Die nach dem Nationalsozialismus widerwillig eingehaltene Schonzeit für Juden ist vorbei. "Wir sind wieder wer", und die Greuel der Vergangenheit sollen gefälligst dem Vergessen anheim fallen, damit sie nicht den Blick auf das neue Ziel trüben: Dem Ziel, als europäische Hegemonialmacht die USA im Kampf um wirtschaftliche und politische Bedeutung zu besiegen.
Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!
Wer den neuen Werbespruch der CDU im Wahlkampf liest, wird vielleicht erahnen, wie ein solcher Rechts - Ruck aussehen wird. Wurde die deutsche Vergangenheit jahrelang tabuisiert, dient sie heute zur Legitimation der Außenpolitik. Bundeswehreinsätze gehören wieder zum gängigen Instrument um in der neuen Weltordnung seine Rolle gebührend zu feiern. Umso selbstsicherer Deutschland wieder in Kriegseinsätzen mitmischt, umso sicherer muß die eigene Innenpolitik gestaltet und umgesetzt werden. Denn ein Krieg nach außen setzt die Zustimmung der Bevölkerung voraus. Obwohl der Großteil der Bevölkerung mit den Einsätzen und den Verschärfungen konform geht oder sich zumindest kein größerer Protest artikuliert, wird das Sicherheitsnetz weiter ausgebaut und strukturiert. Doch die Überwachung greift erst durch die Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung. Ein großer Teil der "illegalen" EinwandererInnen wird nicht etwa durch die großartige Ermittlungsarbeit der staatlichen Behörden sondern durch die "gute Mitarbeit" der BürgerInnen gefasst - ähnlich sieht es bei der Jagd auf SprayerInnen aus. Der Sicherheitswahn kommt also da zum Tragen, wo Menschen nicht so recht in das Konzept des bestehenden Systems passen. Alternative Jugendliche, Obdachlose, Junkies, BettlerInnen, Punks und Skater werden aus den sauberen Einkaufsmeilen durch Polizei und private Sicherheitsdienste vertrieben oder ihnen wird der Zugang zu Bahnhöfen oder touristisch attraktiven Orten verwehrt. In Gera sammelten LadenbesitzerInnen der "Shopping-Meile" Unter-schriften gegen Jugendliche, die dort über mehrere Tage für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum demonstrierten. Doch diese so offensichtlich betriebene Repression ist noch lange nicht das Ende, denn da wo Polizei und Wachschutz nicht ständig sein können, werden von privater und auch staatlicher Seite Kameras zur permanenten Überwachung der Bevölkerung eingesetzt. Wer meint, sich dem nationalen, sauberen, arbeitsfähigen, deutschen Konsens entziehen zu müssen, wird gnadenlos ausgegrenzt, wer dagegen Widerstand leistet, bekommt die volle Härte der Repression zu spüren.
Die Antwort auf die verschärften Zustände kann nicht der Weg zurück in die soziale Marktwirtschaft der alten BRD sein - dieser Weg ist seit 1989 mit der Notwendigkeit, gegenüber dem Ostblock zu zeigen, dass es auch einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz gäbe, endgültig überholt.
Angezeigt ist statt dessen der Aufbau von tragfähigen Strukturen, die in der Lage sind, die Zumutungen des Systems radikal zu kritisieren und den Widerstand dagegen zu organisieren.
Antifaschistische Strukturen aufbauen!
Antifaschistische Gruppen stehen vor allem in kleineren Städten vor dem Problem, verbindliche Strukturen aufzubauen. Viele Menschen ziehen weg um woanders zu studieren oder um dem Klein-stadtmief zu entkommen. So ist es oftmals nicht schwer für faschistische Kameradschaften, Fuß zu fassen und Organisationspotenzial zu verbreitern. Gera hatte Anfang der 90er Jahre eine relativ starke autonome Szene mit einem besetzten Haus und Szenetreffpunkten. Nach dem Wegfall dieser Gruppen und Einzelpersonen gelang es der Naziszene sich zu etablieren und zu strukturieren. Flüchtlinge, Linke und Alternative sind oft Einschüchterungsversuchen ausgesetzt, was weiteren Rückzug zur Folge hat. Doch auch in Gera gibt es gerade auch aus diesem Grund immer noch Leute, die sich nicht haben einschüchtern lassen und am Aufbau einer antifaschistischen Struktur interessiert sind. Zusammen mit AntifaschistInnen von der Antifaschistische Wander Aktion, die 2003 nach Gera ziehen werden, wird versucht kontinuierlich linksradikal zu agieren.
Neben der simplen Notwendigkeit, in Gera gegen die braune Hegemonie die antifaschistische Selbsthilfe zu organisieren, besteht die Chance in organisierter Vernetzung eine gemeinsame Diskussion und Praxis antifaschistischer Arbeit anzugehen.
Um diesen Prozess zu stärken und aus Solidarität mit den antifaschistischen Strukturen vor Ort rufen wir dazu auf, die Demonstration in Gera zu unterstützen und weiterhin am Aufbau antifaschistischer Strukturen mitzuwirken - jetzt, hier und überall!
Homepage: http://puk.de/atag/