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Die EU und der Nationalstaat - Gegensatz oder unheilige Allianz?

12.10.2001 - Arachne

Referat gehalten auf dem BuKo24 (12-14.10.2001)

Teil 1: Aus den Höhen in die Niederung.

Allgemeine Reflexionen zum Zusammenhang von "Globalisierung", Supranationalität und Nationalstaat

Gliederung des Referats

Globalisierung: Allgemeine Begriffsbestimmung

Der Begriff "Globalisierung" wird in der öffentlichen Diskussion ebenso inflationär wie schwammig gebraucht. Er beschreibt zum einen komplexe Zusammenhänge, ist aber zum anderen von einer erheblichen inhaltlichen Unklarheit geprägt. Je nach politischem und theoretischem Standpunkt wird unter "Globalisierung" höchst verschiedenes verstanden. Für die einen enthält sie das Versprechen auf eine bessere und friedlichere Welt, für die anderen verbindet sich mit ihr die Vorstellung eines globalen Chaos. Konkret heißt das, dass unter Globalisierung eine Vielzahl von Prozessen subsumiert werden (ökologische, ökonomische, kulturelle, politische, "zivilgesellschaftliche"), so dass der Begriff jegliche Trennschärfe einbüßt.

Zweitens ist trotz der Vehemenz, mit dem der Begriff "Globalisierung" ins Zentrum gesellschaftlicher Diskurse gerückt wurde und wird nicht der Nachweis erbracht worden, dass die Vielzahl der sich zum Teil gegenseitig widersprechenden Prozesse tatsächlich global - also weltweit - stattfinden. Es scheint viel eher ziemlich sicher zu sein, dass aus einer einseitigen Interessenslage heraus eben diese Suggestion aufrecht erhalten werden soll. Richtiger ist jedoch, dass der überwiegende Teil der unter dem Begriff "Globalisierung" subsumierten Prozesse, eben nicht "global", sondern in den Regionen der Welt stattfindet, die über die ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Ressourcen verfügen, eben diese umzusetzen, genauer gesagt in den Industrienationen der Welt.

Erste Annäherungen

Im wesentlichen lassen sich folgende Bedeutungsebenen des Begriffes Globalisierung unterscheiden.

Ursachenforschung

Als Hauptursache für alle "Prozesse" im Zusammenhang mit Globalisierung lässt sich die Weltwirtschaftskrise der 70er Jahre ausmachen. Zu diesem Zeitpunkt erreichte das als Fordismus bezeichnete Akkumulations- und Regulationssystem des Kapitalismus die Grenzen seines möglichen Wachstums. Charakteristisch für den Fordismus ist zunächst eine Akkumulationsstrategie, die auf tayloristischer Massenproduktion, einer starken Ausdehnung der kapitalistischen Lohnarbeit und der Durchsetzung eines Massenkonsummodells beruht. Die Folge dieser Entwicklung war eine fortschreitende Durchkapitalisierung der Gesellschaft in der Weise, dass traditionelle Formen der Subsistenzproduktion durch kapitalistisch produzierte Waren verdrängt und die sozialen Beziehungen insgesamt in erheblichen Umfang kommerzialisiert wurden.

Die Durchsetzung dieses Akkumulationssystems war an die Etablierung eines politisch-sozialen Regulationssystems gebunden, welches durch folgende Merkmale gekennzeichnet war:

Der Fordismus kann durchaus als globales System bezeichnet werden, denn dem Fordismus in den Metropolen entsprach ein "peripherer", der sich einigen der abhängigen Länder im Zuge der nachholenden Industrialisierung herauszubilden begann. Gleichzeitig blieb der Fordismus im Kern nationalstaatlich organisiert. In seinem Zentrum stand die Erweiterung der Binnenmärkte auf der Basis einer erweiterten Staatsintervention und staatlich institutionalisierter Klassenkompromisse. Anfang der 70er Jahre zeigte sich jedoch, dass sich die Kapitalprofite im Rahmen der bestehenden tayloristischen Technologien und Arbeitsprozesse nicht beliebig steigern ließen. Die wohlfahrtsstaatliche Regulationsweise geriet mehr und mehr in Konflikt mit den Profitinteressen des Kapitals. Somit ist die Krise des Fordismus weniger eine Krise des Wohlfahrtsstaates, als das die Vereinbarkeit von Kapitalprofit und Massenwohlfahrt ein Ende gefunden hatte.

Krisenverschärfend erwies sich, dass die verstärkte Internationalsierung der Produktion und der wachsende Einfluss multinationaler Konzerne, die Grundlagen der nationalstaatlich orientierten, auf die Entwicklung des inneren Marktes gerichteten, Akkumulations- und Regulationsweise mehr und mehr untergruben.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Hält Mensch sich Ursachen vor Augen ist es nun leicht nachzuweisen, dass die technologischen, politischen und ideologisch-kulturellen Erklärungen für die Entwicklung der Globalisierung nicht hinreichen. Es handelt sich bei der Globalisierung um einen im Kern ökonomischen Vorgang. Somit haben wir es hier mit einer Strukturveränderung des Kapitalismus zu tun, die dieser Gesellschaftsform ein ganz neues Gesicht und eine ganz neue Bedeutung verleiht. Dies bedeutet, dass es sich um eine massiv eingesetzte Strategie des Kapitals zur Lösung der Akkumulations- und Regelweise handelte, die sich in der Hauptsache auf die Entwicklung der Binnenmärkte sowie die Entwicklung eines übergreifenden Klassenkompromisses konzentriert hatte

"Globalisierung" im ökonomischen Sinn, also die radikale Liberalisierung des Waren-, Geld- und Kapitalverkehrs soll nun die Voraussetzungen für eine erneute, systematisch und "weltumspannend" durchgeführte Rationalisierung des kapitalistischen Produktions- und Arbeitsprozesses schaffen. Folgende Ziele werden dabei verfolgt:

  1. Die Durchsetzung von Technologien und Arbeitsprozessen, die dem Kapital einen erneuten umfassenden Rationalisierungsschub versprechen. So wird auch deutlich, dass die Durchsetzung neuer Technologien keinesfalls die Ursache, sondern Zweck der Globalisierung ist.
  2. Die strukturelle Verschiebung der gesellschaftlichen Einkommensverhältnisse zugunsten des Kapitals, der Abbau des Sozialstaates und die Zerstörung der diesem zugrunde liegenden Klassenkompromisse.
  3. Das internationale Kapital soll in die Lage versetzt werden, ohne Rücksicht auf nationale Grenzen die jeweils kostengünstigsten Produktionsstandorte auszunutzen und im Rahmen weltumspannender Unternehmensnetzwerke mit einander zu kombinieren ("wordwide sourcing"), bzw. damit drohen zu können.

Durchgesetzt werden diese strategischen Ziele durch das internationalisierte Kapital in Zusammenarbeit mit neoliberalen Regierungen, die infolge der Krise des Fordismus an die Macht gekommen waren. Entscheidendes Ziel ist eine Struktur- und Funktionsveränderung des Staates, die eine soziale Regulierung und eine wohlfahrtsstaatliche Politik im traditionellem Sinne unmöglich macht. Somit ist die aktuelle Globalisierung im Kern ein Projekt des kapitalistischen Klassenkampfes.

Tausend Scherben

Ein Trugschluss ist die Annahme, ein "globalisierter Kapitalismus" führt zu einer einheitlichen, harmonischen und kooperativen Weltgesellschaft. Das neoliberale Versprechen zunehmender Wohlfahrt und fortschreitender Demokratisierung hat sich längst als Lüge erwiesen und ist insofern auf seinen propagandistischen Gehalt zu untersuchen.

Tatsächlich nämlich bedeutet Globalisierung eine wachsende ökonomische, soziale und politische Fragmentierung, die sich auf verschiedenen Ebenen feststellen lässt.

  1. Die Pluralisierung des kapitalistischen Zentrums. Eine Folge der Krise des Fordismus ist auch das Ende der ökonomischen US ? Hegemonie. In der Nachkriegs ? Weltordnung konnten Japan und Westeuropa ökonomisch zu ebenbürtigen Konkurrenten heranwachsen. Das kapitalistische Zentrum besitzt nun die Gestalt einer Triade, deren drei Teile in eine sich intensivierende Konkurrenz verstrickt sind. Damit verschiebt sich die Achse der internationalen Auseinandersetzung vom Ost-West Gegensatz zu einem Konflikt zwischen den kapitalistischen Metropolen. Somit wird deutlich, dass die der Globalisierung zugrunde liegende Tendenz zur Liberalisierung und zum Freihandel nicht Ausschluss sondern Bedingung für den gleichzeitig wachsenden regionalen Protektionismus und die Existenz zumindest latenter Wirtschaftskriege ist.
  2. Die Ausdifferenzierung der kapitalistischen Peripherie. Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist sozial ? räumlich erheblich komplexer geworden. Von einer eindeutig lokalisierbaren "Dritten Welt" im traditionellen Sinne kann heute nicht mehr gesprochen werden. So ist die dritte Welt eher in die erste Welt expandiert, während es in der Dritten Welt eine partielle Zunahme von Schichten gibt, die in "Erstwelt"-Lebensbedingungen leben.
  3. Die Vermögensunterschiede sind größer als jemals, ganze Weltregionen scheinen von jeder wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt und der absoluten Verelendung preisgegeben zu werden (dazu gehören große Teile Afrikas, einige asiatische Staaten und auch Teile der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten).
  4. Statt einer gemeinsamen, demokratisch legitimierten "Weltregierung", bedeutet Globalisierung, dass die Nationalstaaten zwar ihre Funktion und ihre Bedeutung stark verändert haben aber immer noch entscheidend die Weltordnung bestimmen. Der Standortwettkampf bedeutet massive Re-Nationalisierung, innergesellschaftliche Klassenspaltung und sozialen Kannibalismus.

Europäische Union

Bei der Untersuchung des Projektes Europäische Union lässt sich ein unmittelbarer Zusammenhang mit dem Begriff der Globalisierung feststellen. Hier sollen das Verhältnis von Nationalstaat und Supranationalität sowie die Herausbildung neuer Formen der politischen und ökonomischen Regulation entwickelt werden.

Ähnlich wie der Begriff Globalisierung, subsumieren sich unter dem Begriff Europäische Union, neben den realen Strukturen und Prozessen, eine Vielzahl unterschiedlichster Visionen und Angstszenarien. Regierungen starten Werbeoffensiven, das europäische Aufgaben- und Überraschungspaket ihren Bürgerinnen und Bürgern nahe zu legen, Innenminister diskutieren über gemeinsame Maßnahmenkataloge zur Bekämpfung von Terrorismus und so genannter organisierter Kriminalität, Justizminister fordern einheitliche Rechtsstandards, Außenminister fordern eine europäische "Verteidigungsdoktrin", deren Anfänge im Krieg gegen Jugoslawien bereits zu besichtigen waren. Mit anderen Worten und darüber hinaus: Jenseits der bewusst erfahrenen Lebensrealität ist Europa in den Köpfen längst angekommen - als bürokratischer Wasserkopf in Brüssel, als übernationale Gerichtsbarkeit, als Chiffre für vielfältige Chancen, Probleme und Zwänge, als Währung, als Idee und nicht zuletzt ? das ist die andere Seite der Geschichte - als Abschottungs- und Gefährdungsgemeinschaft, deren Insassen sich gegen die, die nicht dabei sein sollen, immer perfekter abschirmen.

Ursachenforschung II

Der Kern des europäischen Projektes bestand zuerst in der Schaffung einer einheitlichen wirtschaftlichen-, monetären- und erst daran anschließend einer politischen Union. Diese Geschichte reicht bis in die 50er Jahre zurück, wo die ersten Verträge über eine gemeinsame Zollunion verabschiedet wurden.

In den 70er Jahren zum Beginn der Krise des Fordismus kam es in einem zweiten Schritt nicht zuletzt unter dem Eindruck der Krisenerscheinungen des bislang stabilen Regulationszusammenhangs zu Diskussionen um eine gemeinsame europäische Währung. Die angestrebte Währungsunion war dabei auch eine direkte Reaktion auf den Zusammenbruch eines internationalen Währungssystems, in dem der US-Dollar stellvertretend für alle anderen Währungen an den Goldstandard gebunden war und damit einen stabilen Rahmen für die internationale Handels- und Finanzpolitik unter der politischen Führung der USA garantierte.

Der Abschied von diesem System warf um so dringlicher die Frage auf, wie die europäische Integration in einen angestrebten gemeinsamen Markt zu vollziehen sei und vor allem, wie es gelingen könnte, die Kosten für Finanz- und Warengeschäfte nachhaltig zu senken.

Alter Wein in neuen Schläuchen II

Bei der Zollunion ging es darum, das europäische Kapital in die Lage zu versetzen, ohne Rücksicht auf nationale Grenzen die jeweils kostengünstigsten Produktionsstandorte auszunutzen und diese dann im Rahmen mit einander kombinieren zu können ("worldwide sourcing" in diesem Fall europeanwide sourcing )

Bei der Währungsunion, die jetzt ? 30 Jahre später - endgültig realisiert ist, geht es um zweierlei: Zum Einen um die Vereinheitlichung der ökonomischen Leistungen der einzelnen beteiligten Nationalstaaten, zum Anderen um einen Prozess, in dem die Bedingungen für die notwendigen Angleichungen politisch erst geschaffen werden müssen. Nicht zuletzt diesem Ziel dienten die im Vertrag von Maastricht formulierten Konvergenzkriterien, die in allen beteiligten Staaten mit Hilfe umfangreicher Deregulierungsmaßnahmen erfüllt werden mussten. Darunter fällt sowohl die als "Verschlankung des Staates" bezeichnete Privatisierung von Betrieben wie auch die Kürzung sozialer Leistungen, Maßnahmen, die nicht zuletzt im Verweis auf "Sachzwänge" politisch durchgesetzt werden. Ziel ist somit die strukturelle Verschiebung der gesellschaftlichen Einkommensverhältnisse zugunsten des Kapitals, sowie der Abbau des Sozialstaates und die Zerstörung der diesem zugrunde liegenden Klassenkompromisse

Theoretisch zumindest lautet die Logik dieses Prozesses so: Auf die Zollunion und den darin angelegten Wegfall kapitalhemmender Hindernisse folgt die Kosten senkende Währungsunion. Die Währungsunion wiederum drängt zur politischen Union. Faktisch jedoch vollziehen sich diese Prozesse nicht nacheinander, sondern parallel, nicht zuletzt, weil die höhere Integrationsstufe jeweils die Voraussetzung für die niedrigere Integrationsstufe darstellt. Ohne gemeinsame politische Entscheidungen jedenfalls konnte weder die Zollunion, noch die Währungsunion zustande gekommen. Der Vertrag von Maastricht stellt dabei in dieser Abfolge politischer Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene einen qualitativen Sprung dar, weil hier zum ersten Mal die Realisierung der politischen Union eng mit der Vereinheitlichung der Währung verknüpft wurde.

Tausend Scherben II

Ebenso wenig wie der "globalisierte Kapitalismus" seine Heilsversprechen einzulösen vermag, ist die Europäische Union ein Ort des Friedens im Meer der Seligkeit. Den Weg zur Europäischen Union kennzeichnen weniger Ein- als vielmehr Ausschlüsse und die hegemonialen Ansprüche vor allem der kerneuropäischen Nationalstaaten sind der Garant für zahlreiche Brüche bei den Entscheidungsfindungen.

Politische Einigungen werden nur in einzelnen Feldern erzielt und selbst sie sind mit nationalstaatlichen Privilegien, Zuwendungen und Kompromissen erkauft.

Diese unterschiedlichen Interessenlagen und die hierarchische Grundstruktur der EU, auf deren Grundlage sie zur Verhandlung kommen, zeigen sich auch in der Diskussion um die EU-Osterweiterung. Die ursprüngliche Konzeption eines politisch und wirtschaftlich vereinigten Europas ist nicht zuletzt mit dem Zusammenbruch des realsozialistischen Machtblocks am Ende der 80er Jahre an ihre Grenzen geraten, um in den 90er Jahren in zwei gegenläufigen und sich dennoch einander ergänzenden Prozessen zum Ausdruck zu kommen. Zum Einen werden weiterhin die Bemühungen zur Integration "Kerneuropas" verfolgt, zum Anderen werden Strategien diskutiert, wie in einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten" osteuropäische Beitrittskandidaten assoziiert werden können. Die aussichtsreichsten Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft, wie Polen, Ungarn oder Tschechien haben sich dabei weit reichenden "Strukturanpassungsprogrammen" unterziehen müssen, ein besseres Wort für die radikale Öffnung für den Weltmarkt und hemmungslose Deregulierung. Andere Länder, wie Rumänien, Bulgarien oder Albanien werden im Prozess der europäischen Konsolidierung voraussichtlich nicht einmal als Billiglohnstandort mitspielen dürfen, sondern schlichtweg abgekoppelt oder ? finanziell alimentiert ? auf die Rolle von Vorposten gegen unerwünschte Migration verpflichtet.

Zusammen gefasst ergibt sich damit ein Bild von Europa, das mehrere Dimensionen aufweist. Zum Einen stabilisiert sich in all diesen Prozessen ein nach außen gerichteter Abschottungszusammenhang, der allen Beteiligten unterschiedliche Rollen zuweist. Zum anderen vollzieht sich parallel im Inneren des EU-Projektes ein über nationalstaatliche Grenzen hinaus reichender Harmonisierungsprozess, der vor allem ökonomisch und sicherheitspolitisch stattfindet. In den Bestrebungen, gemeinsame Standards der Kapitalverwertung, der "Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung" oder der militärischen Zusammenarbeit zu schaffen, wird immer wieder auch die Absicht deutlich, ein Ernst zu nehmender Akteur auf der Bühne des globalen Geschehens zu werden. Zum dritten erfolgt in diesem Prozess aber auch die Zunahme autoritärer Politikangebote im Inneren der einzelnen Nationalstaaten. Ausschließung und Integration, europäische Harmonisierung und Bedeutungszuwachs der Nationalstaaten sind damit Teile ein und desselben Prozesses.

Nationalstaat

Unter Nationalstaat verstehen wir zentralisierte und bürokratisierte Herrschaftsapparate, die nach der Auflösung der ständisch-feudalen europäischen Gesellschaftsordnung die konzentrierte Macht ("Gewaltmonopol") über ein definiertes Territorium mit den darin lebenden Menschen errungen haben.

Im ethnisch-kulturellen Sinne "national" waren diese Staaten höchstens dem Anspruch nach. In der Regel haben sich nicht "Nationen" einen Staat gegeben, sondern die Inhaber staatlicher Gewalt haben ? mit oft gewaltsamen Methoden - "Nationalität" als herrschaftlegitimierendes und ?stabilisierendes Mittel erst geschaffen. Demnach drückt der Begriff "Nationalstaat" vor allem ein Verhältnis gewaltsamer Ein- und Ausgrenzung herschaftsunterworfener Bevölkerung aus. Am Ursprung der Nationalstaaten steht somit nicht kulturelle Gemeinsamkeit und "Identität", sondern Macht, Gewalt und Herrschaft. "Die Nation definiert sich über ihre Geschichte, aber die Geschichte muss erst geschrieben werden." (Luhmann)

Im Zuge des Globalisierung bezeichneten Prozesses kommt es auch zu einer grundlegenden Transformation des Nationalstaates, deren Eigenart darin besteht, dass die vorhandenen institutionellen Strukturen des liberaldemokratischen Repräsentativsystems weitgehend unberührt bleiben. Diese Entwicklung ist kein automatischer oder quasi naturgesetzlich notwendiger Prozess, sondern sie wird politisch durch die Regierungen vorangetrieben.

Welcher Staat transformiert sich?

Da es nicht einen kapitalistischen Staat gibt, der sich historisch durchgesetzt hat, setzt sich die o.g. Transformation vor allem in den Staaten durch, in denen sich die als "Fordismus" bezeichnete spezifische Akkumulations- und Regulationsweise durchgesetzt hatte, also der Typus des "fordistischen" oder "keynesianistischen" Staates in den Metropolen und ansatzweise auch in der Peripherie. Merkmale des fordistischen Staates sind:

Seine Basis war die Institutionalisierung umfassender Klassenkompromisse durch Einbeziehung sozialdemokratischer Parteien und Gewerkschaften in den politischen Regulierungsprozess.

Ökonomisches Wachstum wurde vor allen Dingen durch die Entwicklung des inneren Marktes erreicht, Grundlage hierfür war ein fordistisch-tayloristisches Massenproduktions- und Massenkonsummodell. Konzentration auf die inneren Märkte bedeutete aber zugleich relative Abkoppelung der nationalen Ökonomien vom Weltmarkt mittels einer politischen Kontrolle des grenzüberschreitenden Geld- und Kapitalverkehrs.

Wieder mal die Krise der 70er

Anfang der 70er Jahre zeigte sich jedoch, dass sich die Kapitalprofite im Rahmen der bestehenden tayloristischen Technologien und Arbeitsprozesse nicht beliebig steigern ließen. Die wohlfahrtsstaatliche Regulationsweise geriet mehr und mehr in Konflikt mit den Profitinteressen des Kapitals. Der sozialstaatlich-korporative "fordistische" Klassenkompromiss wurde zu einem entscheidenden Hindernis für die Profitabiltät des Kapitals. Dies bedeutete, dass die ökonomischen und gesellschaftlichen Grundlagen des fordistischen Staates unterminiert werden mussten. Instrumente dieser Politik waren vor allem eine umfassende Liberalisierung nicht nur des Waren- und Dienstleistungsverkehrs- sondern vor allen Dingen des Geld- und Kapitalverkehrs. Die Folge dieser Entwicklung ist, dass der Inhalt und der Bewegungsspielraum der nationalstaatlichen Politik direkter und unvermittelter von den internationalen Kapitalbewegungen bestimmt wird.

Dafür nur einige Beispiele:

Die unmittelbare Folge ist ein absolutes Primat der "Standortpolitik" und die Entwicklung des "nationalen Wettbewerbstaates" (Hirsch).

Der nationale Wettbewerbsstaat

Der Begriff beschreibt einen Staat, dessen innere Struktur und dessen Politik entscheidend von den Zwängen der internationalen Standortkonkurrenz bestimmt wird. Ihn kennzeichnen vor allem zwei Merkmale:

  1. In funktionaler Hinsicht hört der Staat auf, die nationale Ökonomie auf der Basis administrativ organisierter Klassenkompromisse zu regulieren. Sein vorrangiges Ziel ist nun vielmehr die Optimierung der Kapitalverwertungsbedingungen auf nationaler Ebene in Bezug auf den "globalisierten" Akkumulationsprozess in fortwährender Konkurrenz mit anderen nationalen "Standorten". Dies geschieht ohne Rücksicht auf einen internen sozialen und politischen Interessensausgleich, materielle Wohlfahrt oder die Anforderung einer gleichgewichtigen Entwicklung der sozialen Räume und Sektoren. Wirtschaftliches Wachstum ist keinesfalls mehr mit zunehmenden Massenwohlstand verbunden, sondern führt zur Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung. Staatliche Wirtschaftspolitik im Sinne von "Standortpolitik" erweist sich somit als Umverteilungspolitik zugunsten des Kapitals.
  2. Strukturell vollzieht sich damit eine Entdemokratisierung innerhalb des institutionellen Rahmens der liberalen Demokratien. D.h. grundlegende politische Entscheidungen werden von demokratischen Willensbildungsprozessen und den sich darin ausdrückenden Interessen der Bevölkerung abgekoppelt. Staatliche Politik unterwirft sich immer mehr den "Sachzwängen" des Weltmarktes

Der nationale Wettbewerbsstaat stellt somit eine historisch neue Form des autoritären Staates dar.

Er ist, entgegen der Theorie vom "schwachen Staat", ein durchaus starker, ökonomisch und sozial in erheblichem Umfang intervenierender Staat. Dies wird nicht zuletzt daran deutlich, dass sich der Abbau des Sozialstaates mit einem äußerst zügigen Ausbau des Polizei- und Überwachungsstaates verbindet. Nationale Grenzen werden zwar innerhalb der kapitalistischen Zentren teilweise durchlässiger, verwandeln sich aber gegenüber der Peripherie in militärisch immer perfekter kontrollierte Festungswälle. Und die staatlichen Militärpotentiale werden angesichts des Ende des Kalten Krieges keineswegs vermindert, sondern zu technologisch hochgerüsteten Instrumenten der globalen "Krisenintervention" umgebaut.

Literaturverweise

Teil 2: Zum Beispiel Bürgerblock.

Hamburg vor und nach der Wahl, der Aufstieg des Herrn Schill und "seines" Themas "Innere Sicherheit.

Am 23. September 2001 wurde in Hamburg eine neue Bürgerschaft gewählt. Der vorangegangene Wahlkampf hatte im wesentlichen ein Thema: die "Innere Sicherheit". Alle Versuche der regierenden Koalition aus Sozialdemokraten und GAL, andere Themen in den Wahlkampf einzubringen, scheiterten kläglich. Weder die Wahl Hamburgs als Produktionsstätte des Airbus, bei der Rostock ausgestochen worden war, noch die Vermarktung Hamburgs als weltoffene, kreative Metropole mit einem expandierenden Arbeitsplatzangebot in den New Media-Berufen, wollte Begeisterung beim Wahlvolke für "die schönste Stadt Deutschlands" und ihre Regierung aufkommen lassen.

Im Mittelpunkt des Medieninteresses stand vielmehr ein Mann, der auch gleichzeitig seine eigene Partei war und ist, Ronald B. Schill. Dieser Ex-Richter und Parteineugründer gab die Themen vor, die anderen Parteien mussten darauf eingehen. Beseelt von ungeheurem Geltungsdrang und von der leicht an Verfolgungswahn gemahnenden Überzeugung getrieben, die "68er" hätten sich in allen staatlichen Institutionen speziell in denen Hamburgs wohlig eingerichtet, übte Herr Schill bereits sein Amt als Strafrichter auf sehr spezielle Art und Weise aus. Sei es, dass er eine psychisch kranke Frau, die einige Autos zerkratzt hatte zu zwei Jahren Haft verurteilte, sei es, dass er für nicht sofort erfolgtes Strammstehen im Gerichtssaal drei Tage Ordnungshaft verhängte. Herrn Schill gelang es, sich einen ständigen Platz in den Medien zu sichern und sein Image als furchtloser Sheriff stets neu mit Leben zu erfüllen. Dem tat weder die Tatsache Abbruch, dass die meisten seiner Urteile in der Revision kassiert wurden, noch dass er vom Straf- ans Zivilgericht versetzt wurde, noch dass gegen ihn gegenwärtig ein Verfahren wegen Rechtsbeugung anhängig ist. Schill und seinen AnhängerInnen war immer klar, dass es sich hier um einen Rachefeldzug der "68er" handelt, die den einzig aufrechten Sheriff der Stadt gerne loswerden wollten. Im Zuge seiner Strafversetzung ans Zivilgericht des öffentlichkeitswirksamen Betätigungsfeldes beraubt, sah Herr Schill sich plötzlich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ein schwach dahinvegetierendes Pflänzchen vor der völligen Vernichtung zu bewahren: Den Rechtsstaat, speziell dessen Exekutivorgane. Um diese Mission zu erfüllen, gründete Schill die "Partei rechtsstaatliche Offensive", die aber immer nur unter dem Namen Schill-Partei in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Als Ziel seiner Politik der harten Hand hatte Schill bereits diverse Feinde ausgemacht: Erstens die jugendlichen Kriminellen, die der armen Polizei auf der Nase herumtanzen, zweitens die Autonomen, die der armen Polizei auf der Nase herumtanzen, drittens die (ausländischen) Drogendealer, die der armen Polizei auf der Nase herumtanzen, viertens die schlappen RichterInnen, die mühsam eingefangene Exemplare der vorgenannten Spezies wieder laufen lassen und somit der armen Polizei auf der Nase herumtanzen und last but not least die rot-grüne Regierung, die, natürlich aus "68ern" bestehend, alles dafür tut, dass der armen Polizei ordentlich auf der Nase herumgetanzt werden kann. Bei Schill wurde die "schönste Stadt" im Handumdrehen zur "gefährlichsten Stadt" und Schuld war nur die SPD.

Dies ist um so erstaunlicher, als die Sozialdemokraten sich in der Vergangenheit nicht gerade als zimperlich erwiesen hatten, was das Vorgehen gegen Kriminelle und gesellschaftliche Randgruppen anging. Die massive Aufrüstung der Hamburger Bahnhöfe, sowie der U-und S-Bahn-Stationen mit Kameras, die Verstärkung der Polizei im Bahnhofsbereich durch den BGS und nicht weniger als vier verschiedene Sicherheitsdienste und die daraus resultierende Vertreibung der Hamburger Drogenszene vom Hauptbahnhof ins Schanzenviertel war ebenso Teil der SPD/GAL-Politik wie die Einrichtung von Polizei-Sondereinheiten, deren spezielle Aufgabe es war und ist, "Autonome", "Drogendealer" und alle anderen irgendwie Unangepassten zu schikanieren. Dies alles begleitet von rassistischen Kampagnen, die faktisch alle Schwarzen in bestimmten Vierteln zu Drogendealern erklärten und medienwirksamen Razzien in AsylbewerberInnenheimen. Auf der anderen Seite wurde der Versuch unternommen, bestimmten "Problemstadtteilen" mit Hilfe von Anti-Müll-Einheiten und Runden Tischen den Glanz der sauberen Weltstadt anzupolieren.

Trotzdem ließen sich die Regierungsparteien, von Schill und dem CDU-Spitzenkandidaten v. Beust angetrieben, bereitwillig dazu herbei, im Zuge des Wahlkampfs noch einen Gang höher zu schalten. Vier Monate vor der Wahl wurde der angeblich zu lasche Innensenator Wrocklage durch Olaf Scholz ersetzt, der auch brav nach seiner Ernennung verkündete: "Ich bin Minister für Law and Order" und "In Hamburg wird effektiver abgeschoben als in Bayern." Gesagt, getan, flugs wurde die so genannte Brechmittelverordnung eingeführt, eine menschenunwürdige Behandlung, die angeblich reihenweise Drogen aus dem Magen heimtückischer Dealer zu Tage fördert. Mobile Polizeicontainer wurden in der Stadt verteilt und täglich sah man den Innensenator durch irgendwelche "Problemstadtteile" flanieren. Andererseits gab die SPD aber auch das Bollwerk gegen Schill, der ja das ach so weltoffene und liberale Image der Hansestadt beflecke und deswegen auch für "die Wirtschaft" schädlich sei. Dass eine Partei Liberalität für sich in Anspruch nimmt, die Gestalten wie Schily, Schröder und Scholz in ihren Reihen duldet, mag befremdlich wirken. Der Umgang mit dem Phänomen Schill zeigt aber, dass aus Sicht der SPD nur die Person Schill, nicht aber seine Inhalte gefährlich sind.

Auch die in Hamburg traditionell eher kraftlose CDU witterte Morgenluft, allerdings gelang es ihr neben dem Original Schill nur, sich als ein schwacher Abklatsch zu profilieren. Zaghafte kritische Stimmen erhoben sich nur vereinzelt, dann traten tapfer alle CDU-Größen vor die Kameras, verkündeten eine 98%ige Übereinstimmung ihrer Inhalte mit dem Schill-Parteiprogramm, erklärten, dass all das in Bayern ja bereits erfolgreiche Praxis sei und machten sich schon einmal daran, die Schill-Partei eventuell zu beerben, falls das Hamburger Experiment scheitern sollte.

Mitten in den Wahlkampf platzte dann die Nachricht, dass zwei der mutmaßlichen Selbstmordattentäter in Harburg gelebt hätten. "Ist die liberale Metropole auch noch bevorzugter Unterschlupf für ausländische Terroristen?" fragte Springers Hamburger Abendblatt daraufhin besorgt. Die Folgen sind allseits bekannt: Schill erhielt sensationelle zwanzig Prozent, CDU und FDP waren sogleich zur Stelle und es sieht so aus, als würde Hamburg demnächst vom so genannten "Bürgerblock" regiert. Klar ist, dass Schill den Komplex der Inneren Sicherheit oder vielmehr des Fehlens derselben nicht erfunden hat. Schill und seine WählerInnen sind nur die besonders widerwärtige Spitze eines gesamtgesellschaftlichen Eisbergs. Das Thema Innere Sicherheit hat nicht erst seit Auftauchen des Herrn Schill und auch nicht erst seit dem 11. September Hochkonjunktur und wird von den unterschiedlichsten Gruppen vorangetrieben. Trotzdem erhält das Thema durch Schill neue Brisanz: Gebetsmühlenartig wurde nach Schills Erfolg von den Medien der Vorwurf erhoben, die etablierten Parteien hätten die "Ängste" der BürgerInnen nicht ernst genommen und jetzt die Quittung kassiert. Schill ist zwar irgendwie Pfuibäh, weil Rechtspopulist, aber die Richtigkeit seiner Fragestellungen wird nie grundsätzlich in Zweifel gezogen. Und die etablierten Parteien, deren Stammwählerschaft auf den harten Kern zusammen geschmolzen ist, hätten natürlich auch nichts dagegen, sich von dem hier vorhandenen Potenzial das eine oder andere Prozentchen abzugraben. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, die hier gekennzeichneten innenpolitischen Verschiebungen mit dem Prozess, der allgemein Globalisierung genannt wird, zusammen zu führen.

Der Bezug aufs große Ganze - Fragmentierung der Gesellschaft als Teil des Globalisierungsprozesses

Die zunehmende Inklusion nationaler Ökonomien in eine "Geoökonomie", die sich ausdrückt in dem Schlagwort von der Standortkonkurrenz hat ihre Kehrseite in der Exklusion der nicht wettbewerbsfähigen Elemente. Diese sind Menschen, Unternehmen, Branchen oder ganze Regionen. Die Angleichung der nationalen Ökonomien an angebliche Weltmarktbedingungen ("günstige Standortfaktoren") gelingt nur um den Preis der Exklusion der nicht benötigten Arbeit in die Arbeitslosigkeit oder in ungeregelte (informelle) Beschäftigungsverhältnisse.

Informalisierung meint die Auflösung bisher gültiger gesellschaftlicher Modelle, in diesem Fall der Regelung der Arbeitsverhältnisse. Informalisierung der Arbeit heißt also die Zunahme derjenigen Beschäftigungsmodelle, die nicht mehr einheitlich, also tarifvertraglich und gesetzlich, also eingebunden in ein System von Sozialleistungen, geregelt sind. Dies sind in Deutschland vor allem die Bereiche der "Schwarzarbeit", der Scheinselbstständigkeit, der ungesicherten Heimarbeit. Solche informellen Tätigkeiten werden bevorzugt von denjenigen eingegangen, die nie Teil der Gesellschaft werden durften (Illegalisierte, AsylbewerberInnen) oder durch die oben beschriebenen Exklusionen aus dem Arbeitsmarkt heraus gefallen sind (Menschen ohne Ausbildung, allein erziehende Mütter, Nicht-Deutsche).

An der Zunahme der informellen Arbeit lässt sich deutlich erkennen, dass sich der Sozialstaat fortschreitend selbst aushöhlt. Erst werden im Sinne der Rationalisierung und Kostensenkung "Arbeitskräfte" in die Massenarbeitslosigkeit entlassen (meist mit der Folge, dass die am Arbeitsplatz Verbliebenen sich halb tot schuften dürfen) und dann wird ihnen die staatliche oder staatlich organisierte materielle Unterstützung entzogen. Und da agrarische Subsistenzwirtschaft in Städten schwer machbar ist, drängen all diese "Outgesourcten" auf den informellen Markt. Im letzten Schritt wird die Verantwortung für diese Entwicklung den Betroffenen selbst eingeschrieben - als persönliches Versagen vor den Ansprüchen der modernen Gesellschaft, in der jede und jeder für sich Verantwortung zu tragen hat. Eigentlich sollte davon ausgegangen werden, dass eine Gesellschaft, der wenigstens am sozialen Frieden gelegen ist, das Ziel hätte, informelle Arbeit zu reintegrieren und allgemein eine Entkoppelung von Lohnarbeit und Existenzsicherung anzustreben, aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Lohnarbeit wird immer vehementer als einzige Form der würdevollen, menschlichen Existenz postuliert. Somit wird nicht mehr davon ausgegangen, dass der Mensch ein soziales oder politisches Wesen ist, sondern der Mensch ist in erster Linie Arbeitskraft und TeilhabendeR am ökonomischen Produktionsprozess und erst daraus leitet sich seine gesellschaftliche Existenzberechtigung ab, 1944 warnte Polanyi vor einer Entfesselung des Marktes aus den gesellschaftlichen Bindungen mit folgender, noch im Konjunktiv gehaltener Aussage: "Das System, das über die Arbeitskraft eines Menschen verfügt, würde gleichzeitig über die physische, psychologische und moralische Ganzheit "Mensch" verfügen, der mit dem Etikett Arbeitskraft versehen ist" (zit. nach Altvater/Mahnkopf, S.92) Ob wir von solchen Zuständen noch weit entfernt sind, mag ermessen, wer sich die letzte Faulenzerkampagne ins Gedächtnis ruft. Hier wurde dem "Humankapital" klargemacht, dass es an seiner Lage selbst schuld und moralisch dazu verpflichtet sei, jede auch noch so krankmachende Arbeit anzunehmen. Allen die dazu nicht bereit waren oder sind, wird die physische Existenzgrundlage entzogen. Das Ganze wird flankiert von psychologischen Studien, die jeder nicht lohnarbeitenden Person schwerste psychische Störungen und sehr negative Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die private "Zeitökonomie" und das enge soziale Umfeld nachweisen. Dem in die Ware Arbeitskraft verwandelten Menschen, bleibt hier nur noch innigste Dankbarkeit über jedes Arbeitsverhältnis, da er/sie sonst der Existenzberechtigung verlustig ginge.

Nötig ist so eine Kampagne aus der Sicht des Staates allemal, denn sie ist der "ideologischen Kitt", der die post-fordistische Gesellschaft in ihrem Innersten zusammen hält. Zwar gibt es schon eine große Anzahl von Menschen, die gezwungenermaßen aus ungesicherten, krankmachenden Arbeitsverhältnissen ihren Lebensunterhalt bestreiten, aber einige sind noch nicht bereit, für einen Hungerlohn zu schuften und machen es sich lieber in der "sozialen Hängematte" gemütlich. Und für den widerstandsfreien Abbau der letzten sozialen "Errungenschaften" ist es unerlässlich, deren EmpfängerInnen als völlig nutzlose Elemente darzustellen, die auf "unser aller" (da geht das "Wir" auf einmal leicht über die Lippen ) Kosten ein Leben in Saus und Braus führen.

Der Arbeitsmarkt ist aber nicht der einzige Bereich, in den der Staat bisher wenigstens zu einem Teil sozialregulierend eingegriffen hat und aus dem er sich jetzt zurückzieht. Auch die Bildung die Rentenversicherung und die Krankenkassen werden in Zukunft nur noch den BeitragszahlerInnen offen stehen. Der Rest muss sich mit einer "Grundversorgung" begnügen und das war´s. Dabei sollte hier nicht der Eindruck entstehen, der Staat gedenke plötzlich abzudanken: An die Stelle staatlicher Hochschulen treten staatlich subventionierte private "Eliteschmieden", an die Stelle von Sozialleistungen Repression und Überwachung. Fazit: Der Prozess der Globalisierung geht als erstes daran, die dem Sozialstaat zugrunde liegenden Klassenkompromisse zu zerschlagen. Dies hat den sozialen Abstieg ganzer Bevölkerungsschichten zur Folge, die dann entweder als nutzlos gewordene "Arbeitskräfte" in den informellen Sektor drängen oder verelenden. Und den wenigen, denen noch ein Anspruch auf Sozialleistungen zugebilligt wird, wird deren Verzehr so ungemütlich wie möglich gemacht wird. Diese, dem angeblich naturhaften Fortschreiten des Kapitalismus geschuldete, Fragmentierung der Gesellschaft hat massive Folgen.

Erstens gibt es eine immer größere Anzahl von Menschen, die sowohl von Erwerbsarbeit als auch von Sozialleistungen ausgeschlossen sind und denen oft nur der Weg in "kriminelle" Geldbeschaffungsmöglichkeiten bleibt (wobei die Grenze zwischen "informeller" und "krimineller" Arbeit ohnehin fließend ist). Zweitens werden im Zuge des Rückzuges des Staates aus den sozialen Regulierungssystemen dringend Sündenböcke gebraucht, die für den Abbau von sozialen Rechten verantwortlich gemacht werden können. Drittens muss, da sozialer Friede endgültig kein Ziel der Politik mehr ist, die Repressionsmaschinerie aufgerüstet werden, um den GlobalisierungsgewinnerInnen das Elend in Form von BettlerInnen aus den Augen oder in Form von Kleinkriminellen vom Halse zu schaffen. Und viertens müssen für das völlig vereinzelte Individuum, das sich nun als eigenständiger Unternehmer und Gestalter seiner Biographie in der Konkurrenz aller gegen alle als eigener Standort vermarkten muss, kollektive Identitäten geschaffen oder wiederbelebt werden. Seien diese nun national ("Wir Deutsche"), regionalistisch ("Wir Bayern, die immer in den Länderfinanzausgleich zahlen und denen zum Dank noch das Kruzifix von der Wand gerissen wird") oder sozialdarwinistisch ("Wir ehrlichen Steuerzahler, wahlweise Beitragszahler").

Als die Axt in den Wald kam, sagten die Bäume: "Wenigstens der Stiel ist einer von uns." (Goldene Zitronen)

Der Diskurs über Innere Sicherheit als Ausdruck eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Oder: Der starke Staat rüstet sich zum Gefecht. Immer wieder anlässlich eines besonders widerwärtigen Sexualverbrechens, der jährlichen Veröffentlichung der Kriminalstatistik oder auch selbsterfundener Skandale ( "Terrorzentrale Rote Flora", "Die Drogenschiffe von Hamburg-Altona", "Deutschland, ein komfortables Nest für Geldwäscher und das Organisierte Verbrechen") kommen sie alle hervor, die professionellen MahnerInnen für eine sichere Gesellschaft.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei der historisch als vierte Macht im Staate apostrophierte Apparat der MedienarbeiterInnen. Die Funktion von Medien in einer hochkomplexen Welt besteht nicht allein darin, über eine im wahrsten Sinne sich global abschöpfende Bilder- und Nachrichtenflut einen realen Eindruck von einer zusammen wachsenden Welt zu schaffen und immer weniger darin, den politischen Apparat und die politischen Verhältnisse kontrollierend und kommentierend zu ergänzen.

Vor allem besteht ihre Aufgabe darin, zu skandalisieren. In der Reproduktion von Bildern und Nachrichten wird Wirklichkeit nicht einfach abgebildet, sondern vervielfacht. Die empirische Grundlage dessen, was Medien den KonsumentInnen in ihre private Welt liefern, ist dabei im mindesten zweifelhaft. Gerade im Hinblick auf das Thema Innere Sicherheit sind es vor allem die Medien, die zur Schaffung von Bedrohungsszenarien dienen. Nachhaltig deutlich wurde diese Systematik noch einmal nach den Ereignissen vom 11. September. Globalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur, in einem nie gekannten Maße zeitnah am den globalen Katastrophen teilzunehmen. Sie bedeutet auch die empirisch in weitaus geringerem Maße verifizierte Ahnung, dass das Flugzeug beim nächsten Mal nicht im World Trade Center, sondern auf dem Münchner Oktoberfest, im Hamburger Volksparkstadion, auf dem Bottroper Flohmarkt oder gleich im eigenen Wohnzimmer einschlägt. Die medial hergestellte "globale Gefährdungsgemeinschaft" ist insoweit wahnhafter Unsinn und gleichzeitig doch wahr, weil Menschen daran glauben, dass es so sein kann, wie es wohl nicht sein wird. Zum anderen vermittelt sich in dem Bild der enge Zusammenhang von "Globalisierung" und "Fragmentierung", denn keine Konsequenz ist nahe liegender, als die global erfolgende Befestigung in fragmentierte Verteidigungseinheiten, seien sie supranationaler Art (EU), nationaler Art oder vollständig individualisiert. An die Funktion des Medienapparates schließt sich somit auch die dauerhafte Mobilisierung der Medienkonsumenten an, deren Richtung variabal ist, im Zweifelsfall aber darin besteht, Ordnungs- und Sicherheitsappelle lustvoll umzusetzen. Die zweite Säule in diesem Arrangement ist die Exekutive selbst, diejenigen, die damit beauftragt sind, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die Polizei ist natürlich immer unterbezahlt, in der Minderzahl, schlecht ausgerüstet, ein einsamer Kämpfer für Recht und Gesetz. Selbst wenn die Kriminalitätsstatistik rückläufige Zahlen vermelden sollte, heißt das natürlich nicht, dass der Polizeiapparat vielleicht auch schrumpfen könnte. Die Verbrechen sind dann einfach "brutaler" und die Verbrecher raffinierter geworden. Die Polizei, das kennzeichnet ihr Wesen im politischen Diskurs, ist aus Prinzip erfolgreich und erfolglos zugleich. Deshalb ist ihre Arbeit gut, aber nie gut genug. Wo Politik zunehmend auf ordnungspolitische Faktoren zusammengedampft wird, verschärft sich diese Tendenz noch weiter. Last but not last die PolitikerInnen. Die Parteien sind in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg immer unspezifischer geworden, was ihre gesellschaftliche Bindung angeht. Im Grunde genommen gibt es nur noch zwei Parteien (umkreist von jeweils einem Zwergtrabanten), die nicht mehr bestimmte gesellschaftliche Gruppen vertreten, wie auch das Wort "Volksparteien" zeigt. Diese werden immer ununterscheidbarer voneinander. Oft wird behauptet, sie hätten sich im Zuge von Deregulierung und Standortsicherung aus dem Prozess des sozialen Regulierens weit gehend zurückgezogen und damit zunehmend keine Verteilungsspielräume mehr. Dies ist jedoch nur der halbe Befund, denn gerade das Beharren, keine Verteilungsspielräume mehr zu haben, ist zum Inhalt der neuen Form der sozialen Regulation geworden. In gewisser Weise sind jetzt alle Parteien neoliberal, nicht einmal ihre Rhetorik unterscheidet sie noch sonderlich voneinander.

Damit ist es heute mehr denn je Aufgabe der Parteien "Systemzwänge" an die Betroffenen zu vermitteln. Dabei werden gerne zur Ablenkung von ökonomischen und sozialen Problemen Rassismus, Nationalismus, Faulenzerhass oder eben irrationale Angst vor Kriminellen mobilisiert. Letztere natürlich nie ohne den Zusatz, die Lösung dieses "Problemes" bereits in der Schublade zu haben. Die Skandalisierung der Politik ist darum mehr denn je Grundlage des politischen Überlebens, die einzige Möglichkeit, sich noch irgendwie vom politischen Gegner abzuheben und die kommerziellen Medien spielen begeistert mit. Außerdem hat mit dem Wegfall des Staatssozialismus auch die Ideologie des Antikommunismus erheblich an Zugkraft verloren und es müssen neue diffuse Bedrohungsszenarien her, um den Ausbau der staatlichen Repressionsapparatur zu rechtfertigen. Da kommen die "Russenmafia" und die "Drogenbosse" gerade recht. Zu attestieren ist damit nicht die völlige Erfolglosigkeit und Entmächtigung des politischen Apparates, sondern allenfalls die Krise einer historischen Form der politischen Repräsentation, deren Auflösung in neuen Repräsentationsformen besteht. Politik entkoppelt sich von der Vorstellung der demokratischen Legitimität und wird zur Verwaltung. Ein Prozess, der in den demokratisch kaum zu kontrollierenden supranationalen Strukturen der EU im gleichen Maße zu bestaunen ist, wie in den innenpolitischen Auseinandersetzungen, in denen sich der Staat in die Menschen einschreibt.

Hinzu kommt, dass das Feld der Kriminalität moralisch sehr aufgeladen ist, starke Emotionen freisetzt und deshalb leicht beackert werden kann. Wenn das gute arme Opfer vom bösen Kriminellen geschunden wird, wer möchte da nicht gern Luke Skywalker sein? Und nebenbei lässt sich auch noch wunderbar der politische Gegner als "Verbrecherfreund" diffamieren.

Bei keinem Thema lassen sich die unterschiedlichen und bewusst geschürten Ressentiments so wunderbar vereinen wie bei diesem. Der unintegrierbare, undankbare, ausländische Asylbeweber, der sich nebenbei als Mitglied der Drogenmafia eine goldene Badewanne verdient und im Mercedes beim Sozialamt vorfährt, bedient rassistische, nationalistische und sozialdarwinistische Klischees gleichermaßen. Das Politikfeld "Innere Sicherheit" ist sozusagen die Königsdisziplin des politischen Abschaums.

Wenige spielen auf dieser Klaviatur so brillant wie Herr Schill. Er hat es geschafft, innerhalb von zwei Jahren zum absoluten Medienliebling zu avancieren. Selbst überregionale Zeitungen widmen dem "Phänomen Schill" ganze Seiten.

Während Republikaner, DVU und natürlich die NPD von den konservativen Kräften und Parteien noch weitestgehend stigmatisiert wurden, gibt es, was Herrn Schill betrifft, weit weniger Berührungsängste. Zu groß ist die Versuchung in Zeiten der "Politikverdrossenheit", wo es immer schwieriger wird, selbst die eigene Stammwählerschaft zu mobilisieren, ein Themenfeld vorzufinden, das im Mittelpunkt des Medieninteresse steht, sich mit markigen Sprüchen beackern lässt und eine treffliche Begründung für die Abschaffung all jener sozialen und Freiheitsrechte abgibt, die im Zuge der Standortsicherung ohnehin weichen müssten. Roland Koch, der die Wahl in Hessen dank seiner unverhohlen rassistischen "Doppelpass"-Unterschriftenaktion gewonnen hat und ein erklärter Feind aller FaulenzerInnen ist, macht sich schon mal daran, Schill rechts zu überholen und sich damit für den Posten des Kanzlerkandidaten zu empfehlen. Fazit: Schill hat den Nerv getroffen und alle wollen dabei sein. Im Zuge der neoliberalen Deregulierung und der "Verschlankung" des Staates ist klar, dass ein großer Teil der hier lebenden Menschen keinerlei Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand mehr erreichen wird. Teil der widerwärtigen Inszenierungen "Innere Sicherheit" und "Faulenzerkampagne" ist es, allen das Gefühl zu vermitteln, die ausgemusterten "Arbeitskräfte" seien selbst schuld an ihrem Elend und müssten aufs härteste dafür bestraft werden.

VOR DIESEM HINTERGRUND MÜSSEN WIR DEN WIDERSTAND ENTFALTEN - LOKAL, ABER OHNE LOKALPOLITIKERINNEN ZU WERDEN

Wenn ein Widerstand sich gegen globale Entwicklungen richtet, kommt er nicht umhin, die höchst unterschiedlichen lokalen Ausprägungen globaler Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, die auf der selben globalen Entwicklungsdynamik beruhen. Was dies für das "Herz der Bestie" bedeutet, soll im Folgenden noch einmal erläutert werden.

Es ist fraglich, ob Widerstand, dem es genügt, sich an vorgegebenen Terminen zusammenzuziehen, um seine mediale Vervielfältigung zu erfahren, Widerstand ist, der Perspektiven hat. Dazu kann er erst werden, wenn er das Verhältnis von Globalisierung und gesellschaftlichen Fragmentierungsprozessen auf der lokalen Ebene erfasst. Die Grundlage nämlich, auf der sich Widerstand entwickelt, ist ? in manchen Fällen expliziter als in anderen ? der lokale Raum, der konkrete Erfahrungshintergrund, vor dem aus einigen sich unwohl fühlenden Menschen eine Gruppe von Handelnden wird. Moralische Betroffenheit allein, die angesichts der medialen Flutung ohnehin zu einer immer schwierigeren Kategorie wird, hat noch nie ausgereicht, eine solche lokale Politik zu entwickeln. So wenig die 68er-Bewegung ihre Stärke aus den Bildern von Vietnam speiste, so wenig kann es eine "Anti-Globalisierungsbewegung" geben, die sich aus dem "Geist von Seattle", Prag oder Genua erschafft. Sie bleibt ein Gespenst - medial vielfach aufgegriffen, für alle möglichen Ziele verwertet, aber dennoch unsichtbar. Die Protagonisten fahren zurück und warten auf das nächste Ereignis, und ? dies ist sicherlich für Deutschland eine nicht ganz falsche Beobachtung ? sie spielen eine vor Ort längst eingebüßte Stärke vor, ohne sich an ihr in einer Weise aufzuladen, die positive Folgen für die politische Praxis vor Ort hätte.

Wenn aber die These von der ursächlichen Verkettung von Globalisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung stimmig ist, dann liegen die Handlungsspielräume möglicherweise vor uns wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem einfach nur einmal gelesen werden muss. Möglicherweise gibt es die sozialen Kämpfe auch schon, die direkt auf den Prozess der Globalisierung verweisen. Die andere Seite der Globalisierung ist eine Gesellschaft, die keine Ahnung mehr von ihrer Gesellschaftlichkeit hat. Dieser Befund ist das direkte Ergebnis der Transformationsprozess vom Fordismus zum Post-Fordismus, vom Sicherheitsstaat zum Wettbewerbsstaat, von der Disziplinargesellschaft zur Gesellschaft der Kontrolle.

Wo der fordistischen Sicherheitsgesellschaft zumindest ideologisch der klassische Begriff des "volonté générale" eingeschrieben war, wird er im Kontrollgesellschaftsparadigma durch den "volonté particulière" ersetzt. Die ökonomische Exklusion - im globalen Maßstab, als auch im Inneren der Gesellschaften - findet dabei ihre Ergänzung in der Verdrängung der Exkludierten aus der öffentlichen Wahrnehmung, aus dem Denken und der gesellschaftlichen Fragmentierung.

Diese gesellschaftlichen Fragmentierungen - Rassismus, Nationalismus, Sexismus, um nachhaltige zu nennen - sind keine neuen Phänomene. Dennoch ist festzuhalten, dass sich ihre Artikulationsmuster mit den beschriebenen Transformationsprozessen verändern. Bis hinein in die Phase der Krise des Fordismus hatte Politik im herkömmlichen Verständnis etwas mit der Gestaltung - und damit Veränderung ? sozialer Verhältnisse zu tun. Grundlage der fordistischen Regulation gesellschaftlicher Verhältnisse war das Bestreben des Ausgleichs, die Vorstellung, dass Interessen, gesellschaftliche Ziele und Ordnungsmodelle in konstruktiven Auseinandersetzungen verhandelbar sind. Wenn dies auch, wie ein Blick auf die vielfältigen gesellschaftlichen Konflikte auch jener Phase beweist, niemals unter kapitalistischen Verhältnissen möglich war, so liegt das spezifisch Neue doch darin, dass nicht nur der Gedanke der Gestaltungsfähigkeit der Vergangenheit überantwortet wurde, sondern auch der demokratische Charakter im bürgerlich-liberalen Sinne fragwürdig geworden ist. Das Spannungsverhältnis zwischen emanzipativen Forderungen und bürgerlichen Rechten auf der einen und den Grundbedürfnissen der kapitalistischen Akkumulation hat sich unter den globalen Entwicklungen in eine Richtung aufgelöst. Die neue politische Philosophie, die Ausdruck dieser Entwicklung ist, betrachtet Politik heute zunehmend als Verwaltung des Bestehenden und Anpassung an vermeintliche Sachzwänge. An diese Philosophie dockt das kontrollgesellschaftliche Paradigma an. Wo der fordistische Sicherheitsstaat noch Sicherheit in zweifacher Hinsicht versprach - materiell als auch in seinem Vormarsch in private Räume - ist die Kontrollgesellschaft die zeitgemäße Ergänzung des Wettbewerbsstaates. Kontrollgesellschaft kommt ohne den starken Staat nicht aus, geht aber gleichzeitig weit über ihn hinaus. Der sich in ihr entwickelnde Common Sense ist in seiner Grundstruktur von dem Common Sense zu unterscheiden, der die fordistische Wohlfahrtsgesellschaft zusammen hielt. Er besteht paradoxerweise aus lauter Partikularismen, die in der Vorstellung der Subjekte nichts miteinander gemeinsam haben außer der Tatsache, nichts miteinander gemeinsam zu haben. An einem nahe liegenden Beispiel illustriert: Wo der öffentliche Drogenkonsument dem Bürger in seiner Sehnsucht nach Ordnung ein dauerhaft sichtbares und bedrohliches Ärgernis darstellt, muss es keinen Widerspruch darstellen, dass eben jener sich - obwohl eine kommunikative Verständigung sicherlich nirgends stattfindet - auf essentielle Ordnungsvorstellungen mit dem Bürger einigen kann. Unterschiedliche Lebensführungen, unterschiedliche materielle Absicherungen, unterschiedliche soziale Stati fügen sich somit als "öffentliche Meinung" zu einem auf ein Ziel ausgerichteten Programm zusammen.

Das Partikularinteresse der "Anständigen" gegen die "Außenseiter" und der "Fleißigen" gegen die "Faulen" - und es handelt sich tatsächlich um ein Partikularinteresse, weil eine leise Ahnung von Gesellschaft gar nicht mehr vorhanden ist - wird als allgemeines Interesse generiert. In der gesellschaftlichen Fragmentierung und Fraktionierung besteht - auch dies ist ein weiteres Paradox - nur noch eine Fraktion, die in verschiedenen Varianten das Selbe sagt und meint. Der Junkie, der im Fernsehinterview Vertreibungsmaßnahmen und "härteres Vorgehen" gegen seinen Dienstleister umjubelt, mag in seiner zugespitzten Form ein Einzelfall sein, er ist aber gleichzeitig ein Indiz dafür, dass auch die Opfer von Ausgrenzung selbst sich auf die Seite derer schlagen, die ausgrenzen. Die Partikularität von Forderungen nach mehr Sicherheit - vor allem geäußert von jenen, die kaum konkret von gesellschaftlichen Unsicherheiten geschüttelt werden - wird zum allgemeinen Interesse Aller. Das Paradigma der Kontrolle - und dies ist ihr Wesenskern - erschöpft sich nicht in staatlichen Maßnahmen und dem Aufstand der Kleinbürger gegen eine Welt, die ihnen zu entgleiten droht, es schreibt sich in die Menschen ein.

Die einzige Ahnung, die eine Gesellschaft solchen Typs von Gesellschaftlichkeit haben kann, bringt sie in ihrer Dauermobilisierung zu verschiedenen, geradezu beliebig variablen Themen zum Ausdruck, deren Wesenskern jedoch immer das Selbe ist. Immer geht es um Bedrohungen. Es geht um Kampfhunde, Hooligans, jugendliche Kriminelle, ausländische Kriminelle, ausländische Terroristen, Sachbeschädigungen, aggressive Bettler und Drogenkonsumenten. Die wirkungsmächtigste Klammer, die diese Diskurse zusammen hält, ist der nationalstaatliche Raum und das damit zusammen hängende System von Inklusion und Exklusion.

Es geht als um Folgendes: Internationale Politik muss begriffen werden als Zusammenspiel verschiedener Nationalstaaten, in dem Interessengegensätze in einem hierarchischen Modell ausgehandelt werden, gleichzeitig aber auch eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft ihre über den nationalstaatlichen Raum reichende Umsetzung erfährt. Die Folgen sind global, aber auch innerhalb der Gesellschaften zu besichtigen. Eine direkte Konsequenz ist die Zuspitzung globaler Ungerechtigkeiten und die Zunahme innergesellschaftlicher Fragmentierungen. Diese Fragmentierungen sind politisch nur angreifbar, wenn die Kritik in der Lage ist, Akteure dieses Prozesses zu benennen. Nicht diffuse, im Verborgenden wirkende Strukturen treiben diese Entwicklungen voran, sondern recht reale Akteure in recht realen kapitalistischen und nationalen Machtstrukturen. Mit diesem Prinzip gedanklich zu brechen, heißt einen Begriff von Gesellschaft zu entwickeln, der sich gegen Globalisierung und Nationalstaatlichkeit, gegen gesellschaftliche Fragmentierung und die Universalisierung von Ausbeutung richtet und in eine lokale Praxis mündet, die darauf beharrt, Verhältnisse zu verändern statt sie zu verwalten. Nur dann wird aus dem Ende der Geschichte auch der Anfang einer neuen Geschichte.

Literaturverweise

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