05.06.2002 - Frankfurter Vorbereitungskreis
Von Harry Nutt
In den kleinen Krisen des Alltags pocht der Städtebewohner gern mal auf Grundsätzliches. Als der Berlin-Sprinter der Deutschen Bahn kürzlich erkennbar überbelegt in ein verlängertes Wochenende startete, bildete sich vor dem Speisewagen eine Sprechwolke des Unbehagens. Konsumierfreudige Fahrgäste mussten sich von der Bedienung mit der Auskunft abspeisen lassen, dass voraussichtlich bis zum Erreichen des Bahnhofs Zoo in Berlin kein Platz im Boardrestaurant mehr frei würde. Sie könne da leider nichts tun. "Das sollten Sie aber zu Ihrer Sache machen", sagte einer der Wartenden mit anhebender Stimme und riet der Mitropa-Mitarbeiterin in apodiktischem Ton, man solle Platzbelegungen im Restaurant allein in Verbindung mit einer gültigen Platzkarte zulassen. Die tapfere Angestellte wies den Verbesserungsvorschlag zwar freundlich, doch bestimmt mit Verweis auf die allgemeinen Beförderungsbestimmungen zurück, doch es war zu spüren, dass ihr an einer raschen Beendigung des ihr aufgezwungenen Gesprächs lag.
Eine solche Szene lässt sich als Fallstudie zum avancierten Nörgeln betrachten, das den Verlauf von der gemeinen Unmutsäußerung bis hin zu einer formalen Beschwerde weitgehend ersetzt zu haben scheint. Der avancierte Nörgler will das kleine Spiel der Kontingenz, dem zufolge er im Speisewagen keinen Platz bekommen hat, nicht einfach hinnehmen. Es gilt einen Systemfehler anzuklagen: in diesem Fall der Nachweis, dass der Belegung des Speisewagens in überfüllten Zügen ein Gerechtigkeitsproblem zugrunde liegt. Die parasitäre Kundschaft ohne Reservierung, der eigentliche Adressat der Nörgelei, bezahlt die unterlassene Reservierung nachträglich mit Kaffee und Kuchen und fläzt sich vor einer Schar wartender Gäste auf dem bequemen Restaurantmobiliar.
Der avancierte Nörgler sieht sich als kompromissloser Regler. Einer wie er wüsste schon für Ordnung zu sorgen. Wenn man ihn nur ließe, verstünde er es, den Behinderungsmix aus Bestimmungen und Klauseln in pragmatisches Fließen zu überführen. Wo andere nur darauf aus sind anzukommen, sieht der avancierte Nörgler überall Verbesserungsvorschläge. Der Nörgler als Systemverbesserer hat keine Probleme, sich auszudrücken. Ist das nuschelige Mosern des Kleinbürgers eine Ausdrucksweise unterhalb der Schwelle zur Artikulation, die Handlungsunfähigkeit zur Klage erhob, so lässt sich das Nörgeln nun als politischer Akt beobachten.
Jenseits der Alltagskommunikation hat dieser Typus längst seine Marktchancen ausgelotet. Schon vor ein paar Jahren erschienen in großer Auflage Bücher, die sich nicht ohne einen gewissen Ordnungszwang ganze Institutionen und Branchen vorknöpften, um ihnen ihr jeweiliges Versagen vorzurechnen. Der Reihe nach folgten auf die Nieten in Nadelstreifen die in den Chefetagen der Großindustrie die Ressourcen verschlampten, die faulen wie geldgierigen Professoren, die Abzocker aus dem Bankgewerbe sowie die verantwortungslose politische Klasse. Das Eliten-Bashing hat bis auf weiteres Konjunktur, weil in dieser Disziplin Unterlegenheitsgefühle in einen kommunikablen Durchblickersound umgewandelt werden können.
Verfeinert der avancierte Nörgler seine Sprechweisen, klopft er schnell an die Tore der Politik. Als Adresse an das Wahlvolk wird dann schon einmal eine modernde Holztreppe abgeräumt, die einst ein Kunstwerk war, während andernorts aufsteigende Lokalpolitiker selbst Hand anlegen, wenn es gilt, den Verkehrsfluss störende Poller zu entfernen. Derlei hemdsärmliger Rigorismus lässt im Zeichen eines Populismus beschreiben, der zunächst einmal nicht zwangsläufig als Rechtspopulismus zu identifizieren ist.
Ein Kennzeichen des Populismus, den ein Kasseler Bürgermeister ebenso praktiziert wie Vertreter der Schill-Partei in Hamburg, ist für den Soziologen Ralf Dahrendorf das Überspringen von institutionellen Verfahren und das Aussetzen vermeintlich langwieriger Debatten. Diese Form von Antipolitik verschafft sich ihre Legitimität direkt durch das Volk und nicht durch die demokratischen Institutionen. Was heute geschieht, so Dahrendorf, sei der Versuch eines Führers oder einer Nomenklatura, "Entscheidungen möglichst jenseits aller Kontrollen zu treffen, und dies angesichts einer grundsätzlich desinteressierten und apathischen Bevölkerung. Der Autoritarismus beruht ja geradezu auf dem freiwilligen Verzicht auf Protest. Und auf Apathie, der Nicht-Beteiligung und der Schwäche von Institutionen der Kritik und des Protests wie der Parlamente, Oppositionsparteien oder unabhängigen Medien."
Das unterscheidet den Populismus grundsätzlich von den historischen faschistischen Bewegungen, die auf die Mobilisierung und Politisierung aller gesellschaftlichen Bereiche aus waren. Der entideologisierte Populismus der neuen Art benötigt leicht erhitzbare, aber ebenso schnell wieder abkühlende gesellschaftliche Klimata. Eine mobilisierte Klientel möchte man im Grunde nicht allzu lange bedienen müssen. Anstelle langwieriger politischer Bindekräfte, die im Enttäuschungsfall nur lähmen, präferiert der Populist eine Art politischer Pasteurisation, ein in der Milch verarbeitenden Industrie bewährtes Verfahren zur Haltbarmachung durch Ultrahocherhitzung. Die politische Debatte, deren zentraler Ort einmal das Parlament war, ist einer verschwörerischen Debattenplanung gewichen, deren Spielstätte ubiquitäre Medien abgeben.
Vielleicht finden die auffälligen Wandlungen der FDP gar nicht vor dem Hintergrund einer Umarbeitung des deutschen Geschichtsbildes statt, sondern sind vielmehr erste Mutanten aus dem Versuchslabor eines parteipolitischen Strategiedesigns. Es ist ja gerade das Merkmal neuer populistischer Formationen, mit geringer Aufwendung ideologischer Energie schnell vorzeigbare Ergebnisse zu simulieren. Während Ideologie sich aus einem vergleichsweise mühselig entwickelten Traditionsapparat und Epiphanien speisen muss, versteht sich der Populist dieser Tage auf Frame-switching, auf das alerte Wechseln von Bezugsrahmen und Bedeutungssystemen. Was zur Zeit noch als Antisemitsmusstreit verhandelt wird, ist so gesehen der Proband für ein gesellschaftliches Steuerungsinstrument, das sich die die Aggregatzustände des Sozialen anzueignen weiß.
Was den neuen Populismus grundsätzlich von gegenwärtigen rechtsextremen Bewegungen unterscheidet, ist das Meiden von Subkulturen. Die extreme Rechte hatte die Zuschreibung vom braunen Sumpf angenommen und gewann so vor allem Anhänger, die die Bereitschaft zur Selbststigmatisierung mitbrachten. Ähnlich wie der englische Punk in seiner ersten Phase spielten diese mit den Zeichen des Schmutzes. Ihre ganze Erscheinung verwies auf eine anale Fixierung.
Der neue Populismus hat ein umgekehrtes Schmutzproblem. Wenn es hierbei um Ideologie geht, dann um eine der Ordnung. Der Populismus geriert sich als Systemsteuerung, die Fehlentwicklungen nicht diskursiv lösen, sondern durch eine Art Selbstreparatur beheben möchte. Der populistische Rigorismus und seine Neigung zum Autoritarismus wäre demnach sozialtechnisch motiviert.
Auf die besondere Dialektik von Ordnung und Schmutz hat vor einigen Jahren der polnische Soziologe Zygmunt Bauman aufmerksam gemacht. "Das Gegenteil von Reinheit - Schmutz, Unrat, Verunreinigung -", so Bauman, "steht für Dinge, die fehl am Platze sind. Nicht eine ihm innewohnende Eigenart macht etwas zu Schmutz, sondern einzig und allein seine Platzierung, genauer gesagt, die Platzierung in der Ordnung der Dinge, wie die Reinheitssucher sie sich vorstellen. Was in der einen Umgebung Schmutz ist, kann durch bloßes Versetzen rein werden - und umgekehrt. Wunderbar geputzte Schuhe werden zu Schmutz, wenn man sie auf den Esstisch stellt."
Es gehört zu den Eigenschaften des populistischen Reglers, die Dinge aus Mangel an Tradition permanent umzustellen. Sein pragmatisch erscheinendes Handeln wird durch obsessive Säuberungsphantasien geleitet. So war es denn auch die erste erfolgreiche politische Tat des als "Richter Gnadenlos" bezeichneten Ex-Richters Schill, die Drogenszene vor dem Hamburger Hauptbahnhof zu beseitigen. Der Populist definiert sich durch Regelungsfuror und Neuorganisation. Seine Affekte gegen die Unordnung versucht er mit permanenter Neusortierung zu beheben.
Auch wenn der Populismus im Zeichen einer Entideologisierung beschrieben werden kann, operiert er weiter im ideologischen Feld. Das Vorgehen gegen Fremde ist nicht primär rassistisch motiviert, sondern erscheint als ein Fall von Ordnungspolitik. Dass diese keineswegs unschuldig ist, legt Zygmunt Bauman nahe wenn er schreibt: "Den Boden fegen und Verräter stigmatisieren", schreibt Bauman, "oder Fremde ausweisen - alles scheint von demselben Motiv auszugehen, Ordnung zu bewahren, die Umgebung begreifbar und für vernünftiges Handeln empfänglich zu machen oder zu halten." Dem Willen zur Ordnungspolitik kann sich kein Gemeinwesen entziehen, und so gehört es zur populistischen Praxis, sich Fremde zu schaffen. Jedes Reinheitsmodell erzeugt seinen eigenen Schmutz, der weggekehrt werden muss, und das Ordnungschaffen wird ununterscheidbar vom Verkünden ständig neuer Anomalien.
Fast ist es so, als erschiene das Zusammentreffen von Populismus und Antisemitismus wie zur Warnung als Farce. Zum nächsten Akt könnte eine Identifizierung schon schwerer fallen.