land in sicht ordnungswidrige aktionstage 16. bis 22. august 2002 in hamburg

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Campen in Hamburg? Land in Sicht!

08.05.2002 - Hamburger Vorbereitungskreis

Mit der Regierungsbeteiligung der Partei Ronald Schills ist in Hamburg eine Grenze überschritten. Bis dahin hatte sich das Institutionengefüge der alten Bundesrepublik - trotz aller reaktionären Tendenzen - gegenüber den Parteien des rechten Rands als relativ stabil erwiesen. Auch wenn es Parteien des rechten Rands immer wieder gelang in einzelne Landtage einzuziehen, hatte bisher keine der bürgerlichen Parteien den mehr oder weniger expliziten Konsens durchbrochen, die eigene Regierungsmacht nicht an die Beteiligung der Rechtsextremen an dieser Macht zu binden. Die Regierungsbeteiligung der Schill-Partei zeigt insofern eine wichtige Verschiebung in diesem Institutionengefüge, über deren Bedeutung allerdings noch Unklarheit besteht.

Haben wir es bei den Erfolgen Schills rechtspopulistischer Mobilisierung mit einem langfristigen Phänomen oder nur mit einem Strohfeuer zu tun? Wie ist der Wahlerfolg Schills zu erklären? Welche Konsequenzen sind zu erwarten? Welche Rolle spielt der Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurs? Und worin unterscheidet sich der Rechtspopulismus Schills von den anderen Parteien des rechten Rands sowie von der rechten SPD oder der CDU?

Um diese Fragen - aber keineswegs nur um diese - soll es auf dem ab dem 16. August diesen Jahres in Hamburg stattfindenden "Land-in-Sicht-Camp" gehen.

Mindestens genauso wichtige Themen werden sein: das Verhältnis von kapitalistischer Globalisierung, Migration und Antirassismus, der Grenzregime und der Hafen als Schengen-Außengrenze, die Privatisierung des öffentlichen Raums, die Normalität des Kriegs und die Einschränkung der BürgerInnenrechte nach dem 11.9., sowie eine Reflexion des eingespielten linken Aktionsrepertoires.

Wieso Land in Sicht, wenn die Zeichen doch eher auf Verzagtheit zu stehen scheinen und der erschütternd hohe Wahlerfolg der Rechtspopulisten einer der Anlässe sind? Mit dem "Land-in-Sicht-Camp" soll dieses Jahr in Hamburg an die Tradition der Grenzcamps an der deutschen Ostgrenze und letztes Jahr und Frankfurt/M. angeknüpft werden. Neben zwei Grenzcamps in Thüringen (12.-19.7.) und Strasbourg (19.-28.7.) wird sich mit dem "Land-in-Sicht-Camp" in Hamburg die Chance bieten, in konzentrierter Form emanzipatorische, gegen die herrschende (Welt-)Ordnung widerständige Politikansätze zu diskutieren und zu schärfen, Streitkulturen weiter und neu zu entwickeln und all dies in Aktionen und Aktiönchen auch an die Öffentlichkeit zu tragen. Ein hoffentlich wunderschöner Platz wird es leicht machen, warme Sommertage und politischen Aktionismus zu verbinden.

Das "Land-in-Sicht-Camp", das im besten Falle eine Coproduktion von Menschen aus einem breiten politischen Spektrum sein wird, öffnet sich die Möglichkeit einer symbolisch mächtigen Intervention im Feld der "inneren Sicherheit" kurz vor den Bundestagswahlen. Vor dem Hintergrund eines Hafens, dessen industrieromantische Pracht die stählerne Fassade eines europäischen (Post-)Kolonialismus darstellt und der als Inbegriff eines immer wieder leicht zu verdrängenden Grenzregimes immer noch für Flüchtlinge nur die Nähe zum offenen Meer kennt. Für einen bundesweiten Blick auf die Symbolik der Flüchtlingsschiffe, für eine gemeinsame Suche nach den Grenzen und Möglichkeiten der Vernetzung mit MigrantInnen und Flüchtlingen, jenseits von Paternalismus und instrumenteller Zusammenarbeit. Für Schrecken und Lust an interner Provokation und Vorläufigkeit, für einen Versuch den komplexen städtischen innen- und außenpolitischen Fragen nicht in Schwarz-Weiß-Logiken auszuweichen. Für mutige, und manchmal ruhig auch beherzte Schritte in Richtung Glück und Befreiung im 21. Jahrhundert.

Rechtspopulismus?

Der Erfolg der Schill-Partei macht eine Debatte über dessen Gründe und mögliche Gegenstrategien notwendig, an deren Anfang einige Thesen zum Rechtspopulismus im Allgemeinen und Schill im Besonderen stehen könnten:

  1. Die Wahlerfolge der Populisten in Europa sind ein neues Phänomen, sie stützen sich auf zwei Säulen: (a) Ausgrenzung und Rassismus und (b) Unzufriedenheit mit den politischen Parteien und dem politischen System insgesamt. Beide Säulen sind wichtig und erst ihr Zusammenspiel ermöglicht die rechtspopulistischen Erfolge, die dadurch einerseits an die rassistische Thematisierung des Themas Migration und andererseits an die vielfältigen Korruptions- und Filz-Skandale anschließen können. Der Erfolg Berlusconis Forza Italia stützte sich auf die rechtsextremen Parolen der Alleanza Nazionale sowie der Lega Nord und auf die Korruptionsskandale der etablierten Parteien. Haiders FPÖ machte einen offen rassistischen Wahlkampf und präsentierte sich gleichzeitig als Alternative zum korporatistischen System Österreichs mit seinen engen Verflechtungen von Ökonomie und Politik. In Hamburg konnte Schill von der Anti-Filz-Kampagne der CDU profitieren und gleichzeitig das gesamte rechtsradikale WählerInnenpotenzial binden. Zwei vorläufige Thesen lassen sich hier formulieren:

    • Eine wichtige Voraussetzung für die Erfolge der populistischen Parteien sind die Filz- und Korruptionsskandale.
    • Zum Verständnis der Phänomens Rechtspopulismus muss nach den Gründen für ein Ausgrenzung forderndes und akzeptierendes Weltbild gefragt werden.
    Die Renaissance dieses autoritären Weltbildes ist es, die dem "Phänomen Schill" über die Stadtgrenzen Hamburgs hinaus Bedeutung verleiht.

  2. Die populistischen Parteien appellieren an autoritäre, antidemokratische Vorstellungen. Diese umfassen: (a) die Forderung nach Ordnung und (b) ein Misstrauen gegenüber Widersprüchen und Aushandlungsprozessen.

    Die Forderung nach Ordnung äußert sich einerseits in der Bedienung eines Kriminalitäts- und Sicherheitsdiskurses. Dabei eignet sich das Thema "Sicherheit und Ordnung" zwar hervorragend als Spielfeld einer symbolischen Politik und Wahlkampfthema. Da Sicherheit aber niemals vollständig erreicht werden kann, ist dieses Thema im Regierungshandeln kaum zu operationalisieren. Sicherheit ist immer nur in ihrer Abwesenheit zu bestimmen, niemals in ihrer positven Einlösung. Der Sicherheitsdiskurs apelliert vor allem an ein subjektives Unsicherheitsempfinden, das sich nicht oder nur in sehr geringem Maße an konkreten Bedrohungserfahrungen festmachen lässt.

    Die dem populistischen Sicherheitsdiskurs zugrunde liegende Ordnungs-Sehnsucht entfaltet ihre Wirkung aber nicht nur im Kriminalitätsdiskurs. Sie enthält - und dieser Punkt ist viel weitreichender - eine statische oder rückwärtsgewandte Gesellschaftsvorstellung, die Wandlungsprozesse (sowohl emanzipative als auch modernisierende) als Bedrohung versteht. Das in den Äußerungen der Schill-Partei zutage tretende Weltbild erinnert an die BRD der 1950er Jahre, an eine formierte Gesellschaft mit nur formal funktionierenden demokratischen Institutionen. Dazu passt auch, dass "die 68er" als Schuldige für Liberalisierung und Unordnung ausgemacht werden. Die Populisten präsentieren keine Revolutionsvorstellung - und unterscheiden sich damit z.B. von der Propaganda der NPD - in ihrem 68er-Feindbild geht es eher darum, stattgefundene Veränderungen wieder rückgängig zu machen.

    Die bei den WählerInnen Schills - und darüber hinaus - zu konstatierende Restauration eines autoritären Bewusstseins könnte mit den ungebrochenen autoritären Traditionen, die im Osten den Boden für die breite Akzeptanz sog. "national befreiter Zonen" abgeben, noch eine explosive Mischung ergeben, die den Handlungsspielraum jeglichen von der Norm abweichenden Verhaltens deutlich einzuengen droht. Vor diesem Hintergrund steht zu befürchten, dass - angenommen es fände sich eine ausreichend charismatische Führungsfigur - das populistische Potenzial im Osten enorm ist.

    Teil des autoritären Ordnungsmodells ist die Abneigung gegenüber Streit, Widersprüchen und Interessengegensätzen. Konflikte werden nicht als notwendige Teile des Sozialen gesehen, sondern sollen entweder vermieden oder ordnungspolitisch eingedämmt werden - daher auch die große Affinität zu Knast und Strafe als Antwort auf soziale Konflikte.

    Die Tendenzen autoritärer (Re-)Formierung führen zu einigen weiteren Fragen und Thesen:

    • Äußert sich im Ruf nach Ordnung eigentlich ein Gefühl ökonomischer Unsicherheit? Oder liegt der Ausgrenzungspolitik eine autoritäre Persönlichkeitsstruktur zugrunde?

    • Der Rassismus der Rechtspopulisten unterscheidet sich von dem der traditionellen Rechten - ihm liegt nicht unbedingt eine Überlegenheitsvorstellung (weder biologisch noch kulturell) zugrunde.

    • Die Strategie gegen den Rechtspopulismus kann nicht beim "Ernstnehmen der Bedrohungsgefühle" stehen bleiben, sondern muss Akzeptanz für die notwendige Konflikthaftigkeit einer demokratischen Gesellschaft schaffen. Die Ordnung muss immer zerstört werden, in ihrer Affirmation liegt kein emanzipatives Potenzial.

  3. Die Politik der Populisten zielt auf persönliche Macht und ist letztlich antiinstitutionell.

    Es ist kein Zufall, dass die populistischen Parteien um eine zentrale Führungsfigur strukturiert sind, um die sie weitgehend gesichtslose ParteigängerInnen scharen. Während das Führungspersonal der anderen Parteien sich auf den Parteiapparat stützt, stützt sich der Parteiapparat der populistischen Parteien auf die Führungspersonen. Das Auftreten konkurrierender Führungsfiguren führt zur Spaltung der Parteien.

    Während die anderen politischen Parteien einer Institutionenlogik folgen, die auf die Kontrolle der Apparate abzielt, geht es den Populisten um persönliche Macht charismatischer Führungsfiguren. Die Verfügung über die Macht erinnert an Clan-Strukturen und folgt keinen institutionellen Regeln.

    Die Populisten haben - und hier trifft sich die organisationelle Praxis mit dem autoritären Bewusstsein - keine Vorstellung von so etwas wie einem demokratischen Prozess. Sie haben kein Konzept für Konflikt oder auch nur Interessenausgleich. Widersprüche werden als Bedrohung gesehen und versucht, durch Ausgrenzug zu lösen. Die öffentlich geäußerte Position Schills, das "Problem" einer offenen Drogenszene dadurch zu lösen, sie in die Umlandgemeinden abzuschieben, spricht hier Bände.

    Der ganz andere Zugriff auf die Macht und die Institutionen macht den wichtigsten Unterschied zwischen den Rechtspopulisten und den Rechten der etablierten Parteien aus. Für die nahe Zukunft lassen sich folgende Erwartungen formulieren:

    • Das Charisma einzelner Führungsfiguren wird wahrscheinlich nicht ausreichen um die den Clan-Strukturen folgende absehbare Bereicherung und Vorteilsnahme der Führungsfiguren wettzumachen. Es ist also damit zu rechnen, dass Personen wie Schill sich nicht lange werden halten können. Das von ihnen repräsentierte autoritäre Bewusstsein wird allerdings die Parteiprojekte überdauern und, wenn es nicht gelingt dem etwas entgegenzusetzen, die politische Landschaft nachhaltig bestimmen.

    • Die antiinstitutionelle Ausrichtung des Rechtspopulismus wird entweder von den bürgerlichen Parteien als Bedrohung wahrgenommen und bekämpft werden oder sie wird zu einschneidenden Veränderungen im Institutionengefüge der BRD führen.

Um Interventionspunkte gegen die autoritäre Formierung, um Strategien der Etablierung eines Un-Ordnungsbewusstseins und die Störung der Ordnung und um vieles mehr wird es im August in Hamburg gehen. An der Vorbereitung des Camps beteiligen sich inzwischen bundesweit Gruppen und Einzelpersonen. Die in den nächsten Wochen anlaufende Mobilisierung ist darauf angelegt, den Kreis noch zu erweitern. Gerne gesehen ist jeder/jede, ob als Gruppe oder Einzelperson, der/die Lust hat, sich mit Energie und Tatendrang in das politische Projekt von "Land in Sicht" einzubringen. "Verhandlungssprache" des Camps wird deutsch sein, die Mehrsprachigkeit aber durch Übersetzungen ermöglicht.

SH & HB, HH