Protokoll des ersten "Land in Sicht" Treffen in Hamburg
21.02.2002 - Hamburger Vorbereitungskreis
Zu dem Sondierungs- und Vorbereitungstreffen zu den »Schill-y-out-days«
/ »Land-in-Sicht-Tagen« in Hamburg waren ca. 50 Menschen aus Hamburg,
Berlin, Wuppertal, Erfurt, Frankfurt/M., Kiel, Wendland, Bremen und
Braunschweig gekommen.
Beredet wurden:
- Anlässe der Entstehung der Idee
- Diskussion verschiedener Erwartungen
- Motivationsrunde
- Thematische Zuspitzung: Rechtspopulismus
- Organisatorische Verdichtungen
1. Vorgeschichte
Anfangs wurde sehr kurz die gedankliche Entstehungsgeschichte dieser Tage
angerissen, die sich aus der Entwicklung der Grenzcamps und der um die
Grenzcamps herum geführten Debatten um das Verhältnis zu Antirassismus und
Flüchtlingsunterstützung, zum Spagat zwischen Selbstorganisierung und
Effizienz, um die verschiedenen Politikstile und den Stellenwert einer
umfassenden Gesellschaftskritik speisten. Nach der im Dezember in Göttingen
gefällten Entscheidung, das Grenzcamp dieses Jahr in Thüringen stattfinden
zu lassen und damit einen Schwerpunkt auf die notwendige und sinnvolle
Kampagne von »The Voice« gegen die Residenzpflicht zu legen, sahen einige
der an den bisherigen Grenzcamps Beteiligten ihre Vorstellungen und Wünsche
in diesem Rahmen nicht mehr realisierbar. Statt sich nun aus der
Vorbereitung ganz zurück zu ziehen, entstand die Idee, im August diesen
Jahres (angepeilt ist die zweite August-Hälfte) ein zusätzliches Camp in
Hamburg zu organisieren unter dem Arbeitstitel »Schill-y-out-Tage«
bzw. »Land-in-Sicht-Camp«.
Dieses Camp versteht sich ausdrücklich nicht als Gegenveranstaltung zum
Grenzcamp in Thüringen, sondern verfolgt - ähnlich wie das Internationale
No-Border Camp in Strasbourg oder das aus der Crossover Konferenz
hervorgegangene Summercamp - einfach eine andere thematische und politische
Zielrichtung.
2. Zugänge und Begründungen
Diesem kleinen Input schloss sich eine erste Diskussionsrunde an, in der
sehr frei über Zugänge und Begründungen für ein
mögliches »Land-in-Sicht-Camp« oder »Schill-y-out-days« in Hamburg im Sommer
geredet wurde. Dabei wurden durchaus unterschiedliche Gründe und Zugänge
genannt und diskutiert, die zum Teil später bei der Benennung der eigenen
Motivation noch mal auftauchten.
- Hamburg habe mit dem Freihafen eine grosse Schengen-Innen/Aussen-Grenze
. die Notwendigkeit, eigene und andere Zukunftsentwürfe als die
handelsüblichen als Gegenentwürfe öffentlich zu präsentieren, auch intern
verrückte Debatten zu führen
- die guten und intensiven Erfahrungen mit internen Diskussionen und
Gesprächen wurde mehrfach erwähnt und als notwendiger Bestandteil eines
zukünftigen Camps benannt. Diese Diskussionen benötigten allerdings auch
einen Rahmen, in dem sie zusammengeführt und ggf. auch nach außen in
Aktivitäten umgemünzt würden. Für ein Camp und die davor stattfindenden
Diskussionen sei die Konzentration auf wenige Themenfelder sinnvoll, damit
nicht so oberflächlich diskutiert wird
- die Wahlkampfzeit im Sommer und das Agieren auf einer größeren Bühne, um
in die rassistischen und um »innere Sicherheit« zirkulierenden Diskurse
gemeinsam und in größerem Rahmen zu intervenieren
- antirassistische Tage gegen Rassismus als Teil der patriarchal-autoritären
gesellschaftlichen und institutionellen Formierung
- die Notwendigkeit, aus dem Organisierungsloch herauszukommen
- den Kriegen und der autoritären Tendenz zu widersprechen
- um auch interne schwarz-weiß Logiken und Autoritarismen diskutierbar zu
machen
- das Verhältnis von kapitalistischer Globalisierung, Migration und
Antirassismus zu fassen zu bekommen
- mehrere Äußerungen, die sich auf Schill und Schily, die Schwierigkeiten
des Umgangs mit dem Begriff der Inneren Sicherheit bezogen sowie
- den Ausdruck des Rechtspopulismus als Politikform, wie er sich durch die
Person und Partei des Innensenators Schill manifestiert, darin auch die
Politik des und die Sehnsucht nach dem starken Staat
- die Probleme mit der populistischen Art der deutschen Leitkultur als
Abgrenzung und Ausgrenzung. Hier seien Mitmacher und Mitläufer ein riesiges
Problem
- neben die Betrachtung der repressiven Aspekte der gesellschaftlichen
Entwicklungen sollten auch die integrativen Wirkungen und Bemühungen
betrachtet und analysiert werden; auch was die eigene Lebenswirklichkeit
anbelangt
- der Versuch, mit einem anderen Kriminalitätsdiskurs zu intervenieren, der
die »Normalität« von Kriminalität betont, und deshalb auch intern sicher
nicht streitfrei sei
- vermisst wurde ein explizit antipatriarchaler Grundkonsens
Dem Einwand, ob das alles nicht auch auf dem Grenzcamp in Thüringen möglich
sei, wurde mit den Erfahrungen mit einer auf die Residenzpflicht
fokussierten Kampagne und den Erwartungen auf eine starke Diskussion um
Flüchtlingspolitik orientierten Camp in Thüringen geantwortet.
3. Motivationen
Mit diesen verschiedenen Begründungen im Hinterkopf wurde in einer Runde die
Motivationen für mögliche Diskussions- und Aktionstage in HH erfragt. Den
Ausgangspunkt in diesem Sommer ein »Land-in-Sicht-Camp« in Hamburg zu
veranstalten bildet der in seiner Höhe überraschende Wahlerfolg der
rechtspopulistischen Schill-Partei bei den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft
im Herbst 2001. Alle Beteiligten waren sich aber auch darin einig, dass
Schill nicht zum alleinigen Schwerpunkt eines Hamburger Camps werden solle.
Bei einer Sammlung möglicher Themen- und Politikfelder kristallisierten sich
fünf zentrale Themenfelder bzw. Fragestellungen heraus:
- Rechtspopulismus
Der Erfolg der Schill-Partei ist Ausdruck einer allgemeinen Tendenz
rechtspopulistischer Mobilisierung in Europa. Das »Phänomen Schill« muss im
Zusammenhang mit dem Aufstieg Berlusconis in Italien, Blochers in der
Schweiz und Haiders in Österreich gesehen werden.
Aktions-/Diskussionspunkte für das »Land-in-Sicht-Camp« sind z.B.:
- Es wäre wichtig, auf die Erfahrungen aus Italien und Österreich
zurückzugreifen.
- Es sollte ein Gegenmodell zum Modell des autoritären, starken Staats
präsentiert werden.
- Stehen die rechtspopulistischen Erfolge für einen Übergang von der
Kontroll- zur Disziplinargesellschaft?
- Kriminalitätsdiskurs
Schill ist es in HH gelungen, den Kriminalitätsdiskurs am erfolgreichsten zu
bedienen. Er profilierte sich dabei aber nur als Konsequentester Vertreter
einer Politik, die von allen bürgerlichen Parteien bedient wird.
Das bedrohliche am Kriminalitätsdiskurs ist seine Schrankenlosigkeit:
Niemals ist sicher sicher genug, der Ruf nach Sicherheit und
Kriminalisierung kommt daher nie an ein Ende.
Aktions-/Diskussionspunkte für das »Land-in-Sicht-Camp« sind z.B.:
- Was sind die Sicherheitsversprechen, die so viel Resonanz finden?
- Warum gibt es keinerlei vernehmbare Gegenstimmen gegen die
Sicherheitsgesetze?
- Welche aktionistischen Ansatzpunkte bieten sich im Bereich »innere
Sicherheit«?
- Theorie und Aktion
Das Camp sollte auf jeden Fall nicht nur aus Diskussionen bestehen. Die
aktionistische komponente ist wichtig und für einige sogar zentral. Von
verschiedenen Seiten wurde allerdings kritisiert, dass Aktionen auf dem
letzten Grenzcamp vor allem für Außenstehende nur schwer verständlich waren.
Zu selten haben wir uns über die Vermittlung der Aktionsideen genügend
Gedanken gemacht.
Auf dem »Land-in-Sicht-Camp« könnten wir die Situation nutzen, um
- exemplarische Aktionen auszuprobieren,
- im Anschluss an Aktionen ihre Durchführung und Wirkung zu reflektieren um
evtl. schon am nächsten Tag eine veränderte Aktionsform auzuprobieren,
- mit Aktionen zu polarisieren,
- darauf zu achten, dass Aktionen irritieren, statt zu polarisieren,
- die Mobilisierung auf dem Camp zu nutzen um z.B. Diskussionen des
Vormittags am Nachmittag in Aktionen umzusetzen.
- Die Welt nach dem 11.9.
Beim »Land-in-Sicht-Camp« sollte genügend Zeit und Raum dafür sein, die
Bedeutung der veränderten weltpolitischen Situation nach dem 11.9. zu
diskutieren.
- Ferienkommunismus
Viele haben die intensiven Diskussionen auf den letzen Grenzcamps als
außerordentlich interessant erfahren. Auf dem »Land-in-Sicht-Camp« sollte
genügend Raum für Debatten, Streit und Austausch sein. Im Nachhinein war
der Frankfurter Versuch, die Anzahl der großen Plena zu reduzieren, nicht
die richtige Konsequenz aus den negativen Groß-Plenums-Erfahrungen des
vorangegangenen Camps.
Das »Land-in-Sicht-Camp« sollte gerade einen Ort bieten, über den lokalen,
klein- oder großstädtischen Rahmen hinaus unter dem sozialen Zwang der
Camp-Vergesellschaftung im größeren Rahmen Debatten zu führen.
Nach dieser unsystematischen Runde gab's eine Pause in der untypischen
Hamburger Nachmittagssonne. Danach waren noch etwa 35 Menschen da, der Rest
hatte die Pause zum angekündigten oder stillschweigenden Verlassen der Runde
genutzt.
4. Rechtspopulismus/Schill
Die Moderation versuchte sich in einer Zusammenfassung des bisherigen
Treffens und machte den Vorschlag, anhand der häufig gestellten Fragen zum
Verständnis des modernen Rechtspopulismus und der Person des Innensenators
Schill Zugänge zu Interessen, Verknüpfungen und Interventionen im Rahmen
eines möglichen »Land-in-Sicht-Camps« herauszufiltern. Nach ein paar
Unsicherheiten zu den Verfahrensfragen entwickelte sich eine gute
Diskussion, die mit ein paar Thesen eingeleitet wurde:
- Schill sei lediglich ein Ausdruck autoritärer gesellschaftlicher
Tendenzen, nichts ungewöhnliches oder spezifisch neues
- Schill sei eine spezifische Form, Rechtspopulismus als diffuses
ideologisches Mischmasch, das ganz andere politische Antworten erfordere als
die traditionelle reaktionäre Rechte bzw. die Neofaschisten
In der nachfolgenden Diskussion wurde noch einmal auf die Verbindungslinien
des Kriminalitätsdiskurses zu den Selbstwidersprüchen hingewiesen. Danach
erfolgte vor allem für Nicht-HamburgerInnen noch ein Abriss der Aktivitäten,
die bislang aus radikale linker Sicht gegen Schill und v.a. dessen Politik
gelaufen seien. Hierzu wurde die Politik und das Versprechen Schills von
einem Teil der Anwesenden noch einmal in die Kontinuität rot-prüner
Regierungspolitik gestellt. Ein großer Teil der Diskussion drehte sich dann
um Unterschiede des Rechtspopulismus zur »etablierten« Politik:
- Abschied von der Idee der Re-Sozialisierung und Re-Integration, Hinwendung
zu Kontrolle und Disziplinierung
- innerhalb dieser Tendenz der Übergang von der Kontrollgesellschaft
(Rot-Grün) zur Disiplinierungsgesellschaft: »die Bösen sollen leiden«
- In diesen Bereich fallen auch Berichte und Erfahrungen, die nach dem
Brechmittel-Mord an Achidi Jon gemacht wurden: Auf Demonstrationen gegen
diesen Mord seien die TeilnehmerInnen von der Bevölkerung angepöbelt worden
wie schon seit mehr als 10 Jahren nicht mehr (= neue Qualität rassistischer
Bilder und Aggressivität) [Allerdings hat der Protokollant perönlich auf
einer der Anti-Brechmittel-Demos ganz andere Erfahrungen gemacht, dass
nämlich PassantInnen eher großes Interesse an den Flugblättern hatten und
der Demo eher Sympathie entgegen brachten].
- Der Diskurs »kleiner Mann gegen die da oben« wird durch das Klischee der
staatsfernen Rechtspopulisten bedient Andererseits ist die Vettern- und
Pfründewirtschaft in quasi-staatlichen Einrichtungen eine Realität.
- Der Rechtspopulismus in Europa bediene sich vorwiegend rassistischer
Diskurse bzw. sei vorwiegend rassistische strukturiert, in Deutschland und
Österreich sei Rassismus wg. NS aber offiziell schwerwiegender tabuisiert
als in z.B. Dänemark, Norwegen, Italien; deshalb trete der Rechtspopulismus
auf anderen Feldern (innere Sicherheit, Kriminalität) auf, diese seien aber
als versteckte Rassismen zu dechiffrieren.
- Demgegenüber wurde vertreten, dass der Rechtspopulismus in seinen Inhalten
veränderbar und nicht so festgelegt sei
- Dagegen wird die Argumentation vertreten, dass die sog. innere Sicherheit
eines der »letzten Politikfelder des Staates« sei, der sich aus anderen
Politiken und Versprechen weitgehend verabschiedet habe.
- In Bezug darauf wurde an die alten Theorien von Adorno / Horkheimer und
der Arbeit mit den sog. »Faschismus-Skalen« (F-Skala) angeknüpft und deren
mögliche Aktualität in der Erklärung jetziger Phänome in dem Sinne
behauptet, dass diese Form des Rechspopulismus eine zugespitzte
Handlungsfähigkeit des Staates ausdrücke, also auf ein sehr eingeengtes
Verständnis von Politik verweise.
Auf der Ebene von Perspektiven der gesellschaftlichen Intervention könnten
daraus verstärkte Formen von Kommunikationsguerilla, Theater etc folgen.
- Das Verhältnis von Rechtspopulismus und bürgerlichen Parteien wurde nicht
ganz unumstritten ausgehend von Erfahrungen aus Österreich als durchaus
widersprüchlich gedeutet: Grundsätzlich gebe es zwischen den bürgerlichen
Parteien und den Rechtspopulisten einen Widerspruch im Zugriff auf die
staatliche Macht. Den bürgerlichen Parteien geht es darum, den Staat als
institutionellen Rahmen zu kontrollieren, der einen Zugriff auf ökonomische
und militärische Ressourcen erlaubt. Letztlich geht es ihnen um
institutionell geregelte Verteilungsmacht.
Das rechtspopulistischen Projekt appelliert dagegen nur noch an die
Ressentiments der Stammtische. Ihnen geht es nicht um die Herrschaft über
die Institutionen, sondern um die Zerschlagung der Institutionen. Dort wo
sie an die Macht gelangen installieren sie ein autokratisches
Klientelsystem. In dieser Sichtweise ist der Rcchtspopulismus ein Angriff
auf institutionelle Garantien, die den bürgerlich-demokratischen Staat genau
von Autokratien und Diktaturen unterscheiden. Es gibt also einen
wesentlichen Interessengegensatz zwischen bürgerlichen Parteien und
Rechtspopulismus. Allerdings haben die bürgerlichen Parteien von Italien bis
Norwegen oft den Weg für den Rechtspopulismus bereiten, bieten also keine
Alternative.
5. Weitere Planungen
Das hohe Maß an Beteiligung und die überwiegend positiven Äußerungen zu
einem möglichen »Land-in-Sicht-Camp« in Hamburg wurden als Interesse
interpretiert, den Prozess der notwendigen organisatorischen Verdichtungen
tatsächlich in Angriff zu nehmen. Als möglicher Termin des Hamburger Camps
wird die zweite August-Hälfte angepeilt.
Nachdem noch einmal betont wurde, dass es sich dabei nicht um eine
Konkurrenzveranstaltung zu den Camps in Jena, Strasbourg, Summercamp
handele, wurde der Charakter des »Land-in-Sicht-Camps« in Hamburg bewusst
noch offen gelassen.
Die Koordination und der Austausch zu diesem möglichen Event laufen über:
- die Camp01-Liste bei Nadir.org
- Hamburger lokale Treffen
- und bundesweite Vorbereitungstreffen
Das nächste bundesweite Vorbereitungstreffen findet am Sonntag, dem 17. März
von 11 bis 17 Uhr in Hamburg statt. Der genaue Ort wird noch rechtzeitig
über die Camp01-Liste bekannt gegeben.
Auf der Tagesordnung des nächsten Treffens sollten folgende Punkte
vorkommen:
- Aktionsformen
- Wie kann es gelingen, auf dem Camp genügend Raum für inhaltliche
Diskussionen zu lassen?
- Organisationsstrukturen des Camps
- Wo gibt es Anknüpfungspunkte im offiziellen Tourismusprogramm Hamburgs?