land in sicht ordnungswidrige aktionstage 16. bis 22. august 2002 in hamburg

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Lustfaktor nullkommanull über normal

22.06.2002 - Neben der Spur

"In Hamburg gibt es fast alles, was es sonst auf der Welt auch gibt: Armut, Reichtum, Rassismus, Glück, alternative Nischen, Drogen, Sex, Linke antirassistische Gruppen, Kapitalismus, Abschiebeknäste und jede Menge Leute die das alles auch noch so gut und richtig finden. Da ist es höchste Zeit uns auch da öffentlich einzumischen!" text aus einem Aufruf auf der Internetseite

[...wird Rassismus noch ganz Dialektisch mit antirassitischen Gruppen ergänzt, steht der Sex auf der Sonnenseite des Lebens. Alternative Nischen, Glück und Drogen werden versprochen. Na dann ist ja alles in Ordnung. Obwohl....]

Lustfaktor nullkommanull über normal

No alternativ Sextours

Schon zu Beginn des Land in Sicht Camps störte uns der verklärte Blick auf die Hamburger Topographie. Die Welt in der Elbmetropole ist zwar nicht in Ordnung, aber dennoch besser als anderswo. Da gibt es deutschsprachige Popmusik, die Hafenstrasse und alles was dem "alternativ Touristen" so einfällt, wenn er an Hamburg denkt. Wasser, Schiffe, Land und, natürlich, wo der Matrose Land erblickt, darf auch der Sex nicht fehlen, die geile Meile. Ausnahmsweise allerdings nicht auf der Reeperbahn, sondern ganz selbstorganisiert auf dem Abendplenum des "Land in Sicht"-Camps. So assoziativ stellen sich jedenfalls die fantastischen Tage vor.

Nicht das wir grundsätzlich etwas dagegen hätten Sexualitäten zu diskutieren, aber schon die Art und Weise in der sich dieser Diskurs nähert, schreckt uns ab. Während einzelne dem Crossover Summercamp in Berlin ablehnend bis feindlich gegenüberstehen, sehen andere gemeinsam mit diesen, im Rahmen der "Land in Sicht" Tage die Gegebenheiten erfüllt, mal so locker über "Sex, Sexismus und Sexualitäten im 21. Jahrhundert zu plaudern". Mag ja sein das sich die Welt weitergedreht hat, aber wie kommt ein Teil der Vorbereitung auf die Idee diese Diskussion könnte Bestandtteil eines Camps gegen autoritäre Formierung sein???

Zum besseren Verständnis ist ein Rückgriff erforderlich. Sommer 1994. Noch kein Land in Sicht, aber viele krisengeschüttelte Autonome. Und weil es in Berlin die meisten davon gibt, findet dort der "Autonomie Kongress", ein bundesweites Treffen der undogmatischen Linken statt. Oha. Am zweiten Tag ging's damals ja auch schon um Sexismus. Aber wo blieb denn da die Sexualität. Gab es nicht. Dafür eine Menge Streit.

Der damalige Konflikt lief unserer Meinung nach inhaltlich so ab, das von einem Teil versucht wurde, die Selbstorganisation von FrauenLesben und MigrantInnen als identitär in Frage zu stellen und stattdessen eine vermeintlich gleichberechtigte, gemeinsame Diskussion zu setzen. Identitätskritik war zum Zauberwort geworden, wenn es darum geht autonome Organisierungen von FrauenLesben oder MigrantInnen in Frage zu stellen. Was Anfang der Neunziger lediglich in wenigen FrauenLesben, Männer- und abgehobenen Unizirkeln diskutiert wurde, hat sich seit Mitte der Neunziger in der Linken zu einer breiten Diskussion mit vielfältigen Wirkungen entwickelt.

Unter dem postmodern daherkommenden Motto Identitätskritik wurde daher auf der aufkommenden Welle der Dekonstruktion gesurft, um erkämpfte Positionen von FrauenLesbengrupen aufzuweichen. Über Sexismus solle wieder gemischt diskutiert werden und Frauenlesbenzusammenhänge sich dem Projekt der "gemeinsamen" Diskussion unterordnen. Das lief beim Autonomie-Kongress allerdings noch schief und zwar völlig.

Da die politisch Auseinandersetzung um Sexismus 1994 in vielerlei Hinsicht festgefahren war, entwickelten sich zwei Pole in der weiteren Diskussion und dieselbe Auseinandersetzung würde sich heute wohl an einigen Punkten anders darstellen. Einerseits weil viele Positionen von FrauenLesben-Gruppen heute nicht mehr so wie damals vertreten werden, was in erster Linie an deren interner Auseinandersetzung mit Geschlechterkonstruktion und der Infragestellung von Identitäten liegt. Die selbstkritische Auseinandersetzung um "Sex & Gender" und die darausfolgende Öffnung und Suche nach gemeinsamer Diskussion, haben, in einstmals strikt autonom organisierten Strukturen den Wunsch nach transidentitärer Diskussion geweckt und unter bestimmten Voraussetzungen, gemischte Diskussionen möglich gemacht. Eine aktuelle Anknüpfung an diese Diskussion liefert beispielsweise das Summercamp in Berlin. Dort wird eine Diskussion weiterentwickelt die bewusst nicht nur eine Fragestellung nach Sexualitäten wahrnimmt, sondern diese auch noch mit einer weitergreifenden Gesellschaftsanalyse verknüpft. In diesem Umfeld erschiene uns eine Diskussion über Sexualitäten daher auch folgerichtiger und vertrauenswürdiger.

Einen anderen Pol stellt eine Ausgabe der Zeitung ?Arranca? dar, die das Thema Sexualität in der gemischten Linken hoffähig machen sollte. Bei der Arranca stand der Tabubruch und ein Brechen der vermeintlich von FrauenLesben aufgestellten Denkverbote im Vordergrund. Sie knüpfte, ebenfalls im Verbund mit moderneren Formen des Sex und Gender Diskurses, an die Diskussion um "befreite Sexualität" der frühen Siebziger an. Schon das Sprechen über Sexualität, die Enttabuisierung der Lust, wurde als Mittel zur Überwindung der sexuellen Gewaltverhältnisse wahrgenommen. Freier Sex stellte sich vor diesem Hintergrund als etwas natürliches, Gutes dar, Sexismus als Missverständnis durch die eigene Entfremdung/Deformation aufgrund vorhandener Rollenzwänge. Zu überwinden galt es diese durch das lebende Versuchsobjekt und die Alternative Vorstellung eines "Richtigen Lebens im Falschen" System.

Dass die Dinge nicht so einfach liegen, wie mensch selber auf der Matraze, zeigte sich, als nach anfänglichem großen Hallo, diese Diskussion wieder ebenso schnell vom Erdboden verschwand, wie sie aufgekommen war. Schnell wurde wieder zur Tagesordnung übergegangen. Sex wurde wieder in der Beziehung oder mit TherapeutInnen ausgehandelt und neue Fälle von Sexismus wurden nach wie vor, im alt bekannten Schema zwischen wir-müssten-mal-drüber-reden und abdafürundschluss behandelt.

Was allerdings bestehen blieb, war eine Position innerhalb der Szene, die Sexismus zwar als sexualisierte Gewalt und mögliche Konsequenz der Sexualität wahrnahm, aber in der Sexualität selbst keine solchen Strukturen sah. Feministische Politikansätze wurden im folgenden als hegemoniale Machtansprüche und pauschal als Identitätspolitik kritisiert. Feministische Politikansätze hatten sich vor dieser Sicht der Dinge überlebt und taugten nicht mehr für die Kämpfe im neuen Jahrtausend. Diese Linie führte in ihrer weiteren Entwicklung dann zu Blüten, wie z.b. die von Thomas von der Osten-Sacken, der in der Bahamas oder Jungle World unverblümt, und ohne redaktionellen Widerspruch, von der linken Inquisition gegen angebliche Vergewaltiger spricht. Nun kann die Arranca sicherlich nichts für Thomas von der Osten Sacken und dennoch lassen sich aus dieser Geschichte einige Kontinuitäten herauslesen. So hat die innerlinke Diskussion um Sexualität Mitte der Neunziger die ideologischen Andockmöglichkeiten für den Sexismus und Antifeminismus der Bahamas und von Teilen der Jungle World geschaffen.

Wir wollen mit dem Land in Sicht Camp nicht den Eindruck erwecken, wir würden uns in dieser Tradition bewegen oder als wären wir uns dieses Umstandes nicht bewusst.

Wir wollen dabei gar nicht verhehlen, das Sex eine spaßige Angelegenheit sein kann oder sollte, aber die Grenzen zur sexualisierten Gewalt sind bekanntermaßen fließend und wie berücksichtigt mensch diese bei einer großen, offenen Diskussion? Gerade die Verknüpfung der Diskussion um Sexismus mit Sexualität, unter der Betonung auf Sex, zeigt unserer Meinung nach, einen zwar nicht gesprochenen aber doch vorhandenen Subtext auf, der an die Arranca-Diskussion anknüpft. Einen konstruierten Gegensatz von Lust, die für Lebensbejahung steht, und von intellektueller Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt, die für destruktiv und lebensfeindlich steht. Kurz die Definierung von Antisexismus als Spaßbremse.

Doch auch wenn diesem Subtext widersprochen würde. Es gibt auch andere gute Gründe, auf dem Camp eine große gemischte Diskussion über Sexualität abzulehnen. Zumeist berührt dieses Thema sehr stark die eigene Person, und ein freies Sprechen darüber fällt im allgemeinen daher eher schwer. Nicht das wir das gut finden aber es spielt doch eine Rolle, nämlich dann wenn hinterfragt wird, weshalb gerade der Plenums Camprahmen der Ort der Rede sein soll. Bei wohl keinem anderen Thema Lügen wir uns so sehr in Tasche wie beim Sex. Was ist also zu erwarten in einer Runde von mehreren hundert CampteilnehmerInnen? Wir glauben jedenfalls, das aus diesem Grund männliche Selbstdarstellung und heterosexuelles Hegemonialbestreben an diesem Runden Tisch der Sexualitäten dominieren wird.

Dies liegt nicht bedingt daran, das dies das politische Ziel (das Wollen der Sprechenden) wäre, sondern erklärt sich vor allem dadurch, das allein der Wunsch nach einer herrschaftsfreien Diskussion, noch keinen hierarchiefreien Raum herstellt. Das Sein verstimmt nach wie vor das Bewusstsein. Aufgemacht wird aber ein politischer Raum mit Außenwirkung, der notwendigerweise mit individuellen und damit schwer zu kritisierenden Erzählungen, den zwar diffusen aber dennoch kollektiven, politischen Umgang mit Sexismus in Frage stellt, mit dem wir zwar an verschiedenen Punkten auch Unzufrieden sind, der nach dem Zustand der Geschichte aber vorläufig der einzig angemessene ist.

Mag ja sein, das noch mehr Frauen und Männer das Bedürfnis nach einer gemischten Diskussion über Sex im Rahmen des Camps teilen. Wir wollen munteren Diskussionsrunden im Schatten ihrer Zelte auch gar nicht im Wege stehen. Wie könnten wir auch. Aber ohne den ProtagonistInnen im Einzelnen persönlich Böses zu unterstellen, glauben wir aus den oben skizzierten Gründen, das diese Diskussion, als offizielles Plenum, politisch nur dazu führen kann, das die Denunzierung von FrauenLesben-Organisierung und Antisexismus auf dem Camp ein öffentliches Forum erhält. Einen solchen Umstand wollen wir aber keinesfalls aktzeptieren. Wir hoffen doch stark, das dies auch die Position der meisten vorbereitenden Gruppen ist und das damit das im Raum schwebende Großplenum "Sex, Sexismus und Sexualität.." aus dem Programm ersatzlos gestrichen ist.

gruppo neben der spur/hamburgo 22.06.02
kontakt: nebenspur@yahoo.de