11.08.2002 - Anonym
Das Besondere an den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon sind weder die Zahl der Opfer, noch die Zahl x-beliebiger Menschen, deren Tod bei der Zerstörung eines "legitimen Zieles" billigend in Kauf genommen wurde. Auf der Rennstrecke zur "Enttabuisierung des Militärischen" (Bundeskanzler G. Schröder) ragen diese Anschlägen nicht heraus - sondern reihen sich dort ein. Das Besondere an diesen Anschlägen war und ist, dass die USA zum ersten Mal in ihrer Geschichte damit konfrontiert waren, dass ein solch kriegerischer Akt auf ihrem Territorium stattfand. Nicht die friedliebende und Freiheit-spendende Verfaßtheit der USA wurden dabei erschüttert, sondern der feste Glaube an die eigene (militärische) Unverwundbarkeit.
Um als radikale Linke zu den Anschlägen auf das WTC und das amerikanische Verteidigungsministerium, das Pentagon, Stellung zu nehmen, braucht es weder einer Erklärung der Attentäter, noch der vielen diskurstheoretischen und ideologiekritischen Einordnungen. Es gibt kein emanzipatorisches, kein revolutionäres Ziel, das die Entführung von Passagierflugzeugen, ihre Verwandlung in "dreckige" Bomben, rechtfertigt. Den sicheren Tod von Zivilisten zum Bestandteil eines Angriffes machen, tritt nicht aus dem Schatten einer mörderischen, staatsterroristischen Politik, sondern verlängert ihn. Wer auch immer das World Trade Center und das Pentagon mit Mitteln angreift, die sich in der Logik derer bewegen, die mit diesem Anschlag getroffen werden sollen, verbreitet keine Hoffnung, sondern Terror. Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon mögen auf vielschichtige Weise Hass und erlittene Ohnmacht befriedigen. Nichts, aber auch gar nicht scheint darin auf, was über die Herrschaft aus Vernichtung und Demütigung, was über soziale, gesellschaftliche Prozesse der (Selbst-)Zerstörung hinausweist.
Am 11.9.1973 wurde in Chile die aus Wahlen hervorgegangene sozialistische Regierung unter Salvador Allende durch einen Militärputsch gestützt. Zehntausende Menschen wurden inhaftiert, gefoltert, ermordet. Viele der bis heute ?Vermissten? wurden im Zuge dieses Militärputsches tot oder lebendig aus Helikoptern ins Meer geworfen. Im Westen wurde diese Militärdikatur als letztes Mittel zur Verhinderung eines blutigen Bürgerkrieges, als äußerstes Mittel gegen "kommunistische Umtriebe" verkauft. Für den Vorwurf der Linken, es handele sich dabei um einen Putsch, den die USA unterstützte, wenn nicht gar ermöglichte, gab es damals kaum Beweise. Stattdessen wurde der Linken Antiamerikanismus, schlichte Weltbilder und billige Verschwörungstheorien vorgeworfen. 20 Jahre nach diesem Militärputsch beweisen regierungsamtliche Unterlagen, dass der Vorwurf nur eine schwache Abbildung von dem war, was tatsächlich an politischen, militärischen und terroristischen Hilfestellungen vonseiten der USA geleistet wurden, um die Hoffnung auf einen friedlichen Weg zum Sozialismus "im Blut zu baden"(chilenischer Ex-Diktator Pinochet). Es gibt keinen Grund für eine radikale Linke, den vom Westen behaupteten Zusammenhang zwischen den Anschlägen vom 11.9.2001, dem "Verteidigungsfall" der Nato und dem als "Allianz gegen den Terror" angekündigten Weltkrieg Glauben zu schenken.
Der als Antwort auf die Anschläge vom 11.9.01 ausgerufene (Welt-)Krieg hat nicht das geringste mit einem ?Kampf gegen den Terror? zu tun. Weder die USA noch die Alliierten haben in den letzten 50 Jahren Krieg geführt, um Terror und Gewalt zu bekämpfen, sondern das Monopol darauf zu behaupten. Ein Monopol, das von verdeckten Kriegen (wie gegen Nicaragua) bis Massenmord und chemische Kriegsführung (wie in Vietnam) bishin zur biologischen Kriegsführung (wie gegen den Irak 1991 und Jugoslawien 1999) reicht. Ein Monopol auf Vernichtung, das Voraussetzung dafür ist, imperiale und kapitalistische Interessen auch ganz "friedlich" durchzusetzen. Gibt es einen Grund, der vermuten ließe, dass ausgerechnet der US-alliierte Krieg in Afghanistan oder die in der Vorbereitungsphase sich befindlichen Kriege andere Ziele verfolgen? Der nicht gerade als Antiimperialist verschrien ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (in dessen Regierungszeit die von ihm angeordneten terroristischen Maßnahmen gegen die gewählte Regierung Allendes in Chile fällt) sieht jedenfalls andere: In dem "fortdauernden, gnadenlosen weltweiten Feldzug" gehe es nicht "nur darum, Terroristen aufzuspüren", sondern vor allem darum, sich nicht die außergewöhnliche Gelegenheit nehmen zu lassen, die sich für eine Umgestaltung des internationalen Systems ergeben hat? ("Die Herausforderung Amerikas", Konkret 5/2002).
Für die US-Interventionen in Grenada und Panama, für den nicht erklärten Krieg gegen Nicaragua brauchten die USA keinen "11.September". Nicht die US-Alliierten brauchen einen "11.September" für ihren Krieg gegen Afghanistan und den in Vorbereitung befindlichen Krieg gegen den Irak, sondern vor allem jene Linke, die sich über einen "gerechten Krieg" den Beistandfall erklären will.
An die linke Denkfigur, dass US-alliierte Kriege, das "eigentlich Falsche", das "jetzt Richtige" seien, um die bloße Chance auf emanzipative Prozesse zu wahren, muss man sich gewöhnen. Ihre Wirkung liegt nicht darin, dass sie sich an den realen Veränderungen beweist, die den US-alliierten Kriege gegen den Irak, gegen Jugoslawien oder Afghanistan folgen. Entscheidend ist vielmehr die Unterstellung, dass die US-alliierten Kriege noch schlimmere Verhältnisse beseitigen als die, die sie mit ihren Kriegen verteidigen bzw. (wieder) herstellen. Ex negativum werden die Verhältnisse hier, die schlimmer sein könnten, zum inneren und äußeren Verteidigungsfall. Damit zeichnet sich ein Normalzustand durch, den mehr teilen als die BefürworterInnen US-alliierter Kriege: Man schenkt den "unbeabsichtigten" Wirkungen US-alliierter Kriege mehr Aufmerksamkeit und Vertrauen als den eigenen emanzipativen Prozessen, die in den zusammen gedachten Kämpfen über die kapitalistischen Verhältnisse "hier" und den reaktionären, religiösen Antworten "dort" hinausweisen.