13.08.2002 - Heinz Xhantippa
In der Diskussion um die Land in Sicht Tage werden zwei Veranstaltungen von Hamburger VertreterInnen in der Vorbereitung mit Angst und Misstrauen betrachtet: die Veranstaltung zu Sexualität, und die Veranstaltung zum Antisemitismus, Israel und Palästina.
Gegenüber der Veranstaltung zur Sexualität besteht das Misstrauen, dass das Ziel oder Ergebnis dieser Veranstaltung die Revision feministischer Positionen sein, dass ein Roll Back zuungunsten von Frauen stattfinden könnte, und letztlich der sexuelle Zugriff von Männern auf Frauen bestärkt würde, dass letztlich über Verletzbarkeiten hinweggegangen würde, und die Debatte nur dazu diene, die quälende Sexismusdebatte zu beenden.
Gegenüber der Israel/Palästina -Veranstaltung wurde die Befürchtung geäußert, dass andere linke Fraktionen (Antideutsche und AntiimperialistInnen) die Versammlung zu ihrem Schlachtfeld machen werden, letztlich aber auch die Angst vor einem antisemitischen Vorfall und Skandal.
Der dunkle Schatten von Pessimismus, der Angst vor Ohnmacht, Verletzung und Unterlegenheit fällt auf das Land in Sicht Camp, er verfolgt uns, und wir werden ihn nicht los.
Ich möchte hier persönlich zu beiden Veranstaltungsvorschlägen Stellung nehmen, mich umdrehen, und lächelt ruhig über das Bild, den Schatten überspringen. Ohne Mut, Selbstbewußtsein und Streitlust nehmen wir ein Scheitern in diesen öffentlichen Versammlungen schon vorweg.
Zur Sexualität und Angst vor Einsamkeit
In der Diskussion wurde den BefürworterInnen der Veranstaltung unterstellt, sie wollten locker über befreite Sexualität plaudern. Ich wies in der Diskussion darauf hin, dass die Vorstellung einer befreiten Sexualität selbst von sexistischen Verhältnissen geprägt ist, die Sehnsucht danach auch aus den realen sexistischen Verhältnissen entspringt.
Meine Perspektive ist eine ganz andere: "Am degout ((Ekel, Abscheu) tragen weniger die erschöpften Sinne schuld als das Institutionelle, Erlaubte, Eingebaute, die falsche Immanenz (Enthaltensein) der Lust in einer Ordnung, von der sie zugerichtet wird und sie zu etwas Todtraurigen macht in dem Augenblick, in dem sie sie verordnet. Solcher Widerwille vermag so anzuwachsen, dass schließlich aller Rausch inmitten der Versagungen lieber unterbleibt, als das durch Verwirklichung an seinem Begriff zu freveln." (Adorno, Minima Moralia, Spielverderber)
Diese Ordnung, nicht nur eine äußere der Gesellschaft, sondern gleichzeitig eine innere der Wünsche, Bedürfnisse und Ängste, zu ergründen und zu befragen, ist mein persönliches Bedürfnis. Sexualität kann nicht losgelöst von dieser inneren und äußeren Ordnung verhandelt werden, nicht getrennt von Liebe, Romantik, Ehe/ Zweierbeziehung, Pornographisierung und Puritanismus. Mir geht es also nicht darum, die Sexismusdebatte hinter uns zu lassen, sondern einen anderen Blick, einen anderen Fokus auf die gesellschaftliche Ordnung der Sexualität zu werfen: nicht alternativ, ersetzend, sondern ergänzend und in Spannung zur Sexismusdebatte.
Einige Fragen, um den Zusammenhang zu erhellen:
Wollen wir über "Sexualität" diskutieren, weil wir dort noch "Befreiung, Utopie, Veränderung und Emanzipation" erwarten, weil der gesellschaftliche Sinn zum Beispiel in Arbeit und Politik verlorengegangen ist, die Sinnsuche in Sexualität Sinnlosigkeit kompensiert ?
Wird in Sexualität, in unserer sexuellen Existenz Selbstbestätigung und emotionale Befriedigung gesucht, weil sie nirgends sonst noch zu finden ist ? "Die Liebe...Sie rettet Verlorenes als Gegenwart und schafft Zukunft aus dem Verlust. Nichts ist befreiender für die angespannte Seele, nichts belebender für die verhärtete, nichts stärkender für die kranke. Die Liebe macht die kleine Seele groß."(Volkmar Sigusch, Das gemeine Lied der Liebe)
Wenn wir weder glücklich werden mit Askese (ich brauche keine Sexualität, um glücklich zu sein), noch mit einem Hedonismus, der zur Sexualität verpflichtet (nur mit möglichst viel Sex bist du glücklich), wie dann ?
Auch wenn wir eine Anschauung verwerfen, die Sexualität mystifiziert als etwas Anarchisches, Subversives, Natürliches, daß es nur zu befreien gälte, ist Lust nicht an sich eine Kraft der menschlichen Existenz, die der nichtinstrumentalen Unmittelbarkeit angehört, sich nicht auf Technik reduzieren läßt, nicht im Logos aufgeht, und geregelten Ordnungen (zum Beispiel der Ehe) widerspricht ?
Die Hingabe, der Rausch, der Wahnsinn, Sexualität als Sprache ohne Worte, als wechselseitige Verpersönlichung, wie können wir den Wert von Sexualität öffentlich und politisch schätzen: mit Illusionen, oder pessimistisch, romantisch oder durch "Desillusionsromantik" (Lucacs) ?
Ausgehungerte Körper
"Eine Welt, in der niemand wagt, etwas kennenzulernen, was ihn im Innersten berührt - außer vielleicht den Schmerz; denn sollten wir Freude erfahren, so wird sie uns augenblicklich und gewaltsam von den anderen entrissen - so ausgehungert sind wir danach, und so eifersüchtig wachen wir über uns."(William Carlos Williams)
"Die amerikanischen Psychoanalytiker legen in dieser Hinsicht instruktives Zeugnis ab: Der Typ des Verdrängten, der für die viktorianische Epoche kennzeichnend war, verschwindet, dafür tauchen subtilere Symptome auf: Verlust des affektiven Unterscheidungsvermögens, Unfähigkeit zu lieben und zu hassen. Ihre Patienten beklagen sich mehr und mehr, nicht mehr den affektiven Einsatz ihrer ganzen Persönlichkeit im Geschlechtsakt erfahren zu können, den Geschlechtsakt ohne Liebe zu vollziehen" (Paul Ricoeur, Das Wunder, die Abwege, das Rätsel "Sexualität")
Dabei scheint die Erfüllung so nah, so erleichtert, so belanglos, so vielfältig interessant diversifiziert, überall die Reklame für bezahlbare und kostenlose Lust und Sättigung des Hungers und der Sucht nach Körper, starken Gefühlen, Orgasmen, Liebe. Diese Warenförmigkeit des Sex, der die Beziehungen der individuellen Liebe in der bürgerlichen Gesellschaft schon immer durchzieht (die Ökonomie des wieviel investiere ich, was erhalte ich), in seiner virtuellen, designten, wahllosen, technisierten, millionenfach verfuegbaren, beschleunigten (just in time), neoliberalen globalisierten Form stürzt die sexuelle Existenz in seine tiefe Krise:" die unangenehme Lektion des virtuellen Sex ist ja, daß wir stimuliert werden von gehaltlosen Bildern, mit denen uns der Bildschirm bombardiert. Die Lektion, die dahinter steckt , besteht in der viel unangenehmeren Erfahrung, daß es wirklichen Sex nie gegeben hat. Sex war immer und überall ein Spiel, das wir, um uns selbst zu befriedigen, in unserer Phantasie betrieben haben. Das landläufige Verständnis der Masturbation ist der Geschlechtsverkehr mit einem in der Phantasie vorgestellten Partner. Ich treibe es mit mir selbst, während ich mir vorstelle, wie ich es mit einem anderen treibe. Lacans Behauptung, es gebe keine sexuellen Beziehungen, kann als Umkehrung verstanden werden: Was ist, wenn realer Sex nichts ist als Selbstbefriedigung mit einem wirklichen Partner ? Und während ich es mit einem realen Partner treibe: was ist, wenn der Spaß, den ich dabei habe, von den geheimen Phantasien herrührt, die ich darauf verwende ?" Slavoj Zizek, Die Kamera liebt dich - Unser Leben als Seifenoper
Gibt es keine wirklichen Begegnungen mehr, begegnet das Individuum nur immer sich selbst ? Ist dann der Hunger der Körper ein Hunger nach sich Selbst, Selbstvergewisserung, Bestätigung der eigenen Existenz ? Während in der modernen Gesellschaft die trostlose Erfahrung der Scham immer häufiger wird,"das Gefühl, daß der eigene Körper ein nicht adäquater Entwurf des Selbst ist" (Anthony Giddens, Wandel der Intimität), steigert sich die suchende Sucht nach dem Körper, der eigenen Lust, dem erfüllenden Partner, der attraktiven, sorglosen, imponierenden und verführerischen Pose in Cabrio, Yacht und Penthouse, dem Designentwurf der eigenen Attraktivität, insgesamt nach dem idealen Entwurf des eigenen Lebens?
Die modernen Ratgeber der Gesellschaft versprechen, daß wenn Sexualität schon belanglos und zwanghaft ist, sie wenigstens interessant gestaltet werden kann, dass sie wenigstens zum Erlebnis wird im Akt selbst. Dem Selbstmanagement werden Techniken, Phantasien, Dienstleistungen, Stimulationen angeboten, um Beziehung und individuelle Sexualität aufzupeppen und zu euphorisieren, daß jede und jeder sich selbst dazu verführen sollte, um sich selbst und anderen zu imponieren. Der sexuelle neoliberale Vergnügungspark des neoliberalen Indiviuduums, der ein vergeblicher Versuch ist, die gesellschaftliche Kälte zu überwinden, den gesellschaftlichen Hunger zu befriedigen.
"Die nostalgie du dimanche ist nicht das Heimweh nach der Arbeitswoche, sondern nach dem von dieser emanzipierten Zustand; der Sonntag läßt unbefriedigt, nicht weil an ihm gefeiert wird, sondern weil sein eigens Versprechen unmittelbar zugleich als unerfülltes sich einstellt; wie der englische ist jeder Sonntag es zu wenig" (Minima Moralia)
Willst du nicht allein sein
"Ein anderer Auffüllungsmechanismus (der auf verblaßte romantische Vorstellungen als narzistischer Stuck aufgeklatscht wird), ist die Umkehrung der Blickrichtung von Themen und Geschehnissen außerhalb der Beziehung ins Beziehungsinnere, das Bespiegeln der Partnerschaft durch pausenloses Reden über Wünsche, Probleme, Konflikte usw. ,als sei die Umwelt nur noch Innenwelt. Nun ist Kommunikation ein wünschenswertes Ziel; zum Selbstzweck geworden führt sie zu einer hypochondrischen Einstellung zur Partnerschaft, und wie bei der Hypochondrie züchtet sie die Krankheit, die sie fürchtet. Beim Reden über Probleme kann eine scheinbare Intimität hergestellt werden, der ein direkterer Weg verbaut ist. Ob man dabei die Probleme löst, über die man spricht, verliert angesichts des emotionalen Gewinns des Gesprächs an Bedeutung - im Gegenteil, die Lösung ist unerwünscht, da sie das Gespräch beendet. Partnerschaft wird zum Thema von Partnerschaft, es wird über etwas geredet, anstatt etwas gemeinsam zu machen. Beziehung wird nur noch im Gerede - zweiter Hand - spürbar, man fühlt, was man denkt was man fühlt. Immer steht die Illusion Pate, daß Beziehung und Sexualität für alles herhalten kann und muß, was an Sinnleere, Enttäuschung, Langeweile und Selbstzweifeln da ist." (Gunter Schmidt, Erotik ist nur noch Alleinsein)
Die Innenwelt soll also retten, was verloren scheint: daß das nicht geht, wissen alle, trotzdem glauben alle daran. Beziehung ist Alltagsreligion oder "Die kleinste gesellschaftliche Einheit ist nicht der Mensch, sondern zwei Menschen" (Bertolt Brecht) Selbst der CDU /CSU schwant jedoch, daß die alte patriarchale Familie mit der Ordnung um Generationen /Erbfolge /Fortpflanzung, der Sexualität untergeordnet war, nicht nur durch die "moderne Ehe und Partnerschaft", in der Sexualität Gebären einschloß, bedroht ist, sondern beide von Erfahrungsverlust und Persönlichkeitsentleerung, dem Bewußtsein oder unguten Gefühl, daß ihr Dasein etwas zutiefst Defizitäres ist. Affairen, Trennungen, Singlebewegung, Eskapismus, Partner-vermittlungen, Internetchats, Swingerclubs, Blind dates, Sextourismus, Heiratsshows, Telefonsex, Flirtratgeber, Fitnessstudios und Bauch-Beine-Po, überall eskapistische Fluchtbewegungen aus der Unsicherheit oder Alltagsreligion.
Die Welt der Bindungen (christlich - konservativ oder sozialdemokratisch - klassenbewußt) in Familie, Betriebszugehörigkeit und Geschäft, Dorf und Viertel, Verein und Kirche, Partei und Staat, schon lange mit der Konkurrenz der Welt der Bedürfnisse konfrontiert und vermittelt: Sexualität und Verdienst, Erholen und Freizeit, Kommunikation und Wohnen, Erfahrung und Konsum, der die moderne Partnerschaft, die auf dem Land zwar wohnt, aber in der Stadt arbeitet, kinderlos bleibt und Weltreisen unternimmt, Bayern München Fan ist, aber nicht im Dorfverein, entspricht. Verändern sich heute die ökonomischen Lebenswelten in mehrere Jobs, in verschiedene Qualifikationen, vom unkündbaren Beamten zum rechtloseren Angestellten, vom Arbeiter zum Scheinselbständigen, KAPOVAZ und Teilzeit, zu beschleunigter Mobilität und Chancenverwertung, sind diese Veränderungen und Krisen der ökonomischen Welt auch Ursache der Veränderung und Krise der Beziehungen ?
Zum Glück
In den Knien der Geliebten widerstrahlt in den minutes heureuses das vergessene Leben des Geliebten, der Geliebten aller Geschlechter möchte ich hinzufügen, so schön hat Adorno die Lust beschrieben, die außer in diesen Momenten nicht sei. Begehren als kultivierteste und gleichzeitig freieste Form erscheint literarisch als Zärtlichkeit, als Obsession, in der sich Kuß und Duft mit dem Gespräch vereinigt, in dem der Morgen danach nicht kalt ist, sondern der Beginn eines lächelnden Tages. Ist die Sehnsucht danach der Grund, sich immer wieder zu verlieben ? "Wer nicht illusionär verkennt, wer nicht liebt, wird krank. Doch das ist unter den hiesigen Verhältnissen höchst gefährlich, ein Wagnis ersten Ranges, weil wir auf Abwehr und Erstarrung, auf das Niederhalten der Gefühle und das Prüfen der Realität ebenso angewiesen sind. Man kann es sehen: wer im Orgasmus den Kopf verliert, dem ist nicht zum Lachen. Die Liebe - ein Kunststück, ein akrobatischer Seiltanz ohne Netz. Und viele liegen am Boden. Und viele brechen sich das Kreuz."(Sigusch, a.o.)
Und der reine Sex, die Gier und Geilheit, die übereinander herfällt, sich lockt und verführt, anmacht und packt, hat sie keinen ehrenwerten Platz im Dasein, in den Schmuddelkinderkeller verbannt ? Macht sie uns sprachlos, Angst, sie ist nicht von uns, befremdet, fremdgemacht als animalischer Trieb ? Das gegenseitige Einverleiben, etwas Unmenschliches, Unwürdiges ?
"Bedecken will ich dein Geschlecht mit Äpfeln Mangonektar Erdbeerfleisch. Dein Körper ist Frucht. Umarm ich dich, so rollen Mandarinen ich küsse dich und alle Trauben ergießen den heimlichen Saft ihres Herzens auf meinen Mund. In deinen Armen spürt meine Zunge den süßen Saft der Orangen In deinen Beinen bewahrt der Granatapfel seinen erregenden Samen
Ich will die saftigen Früchte ernten die im Schweiße deiner Poren reifen: Mein Mann aus Pfirsich und Limonen laß mich trinken aus den Quellen der Aprikosen, Bananen und Trauben aus Kirsch.
Dein Körper ist das verlorengegangene Paradies aus dem mich nie ein Gott wird vertreiben. Giaconda Belli, Zauber gegen die Kälte
Ach nein, sie gehört zu uns, auch die Wollust, ist kein Feind der Zärtlichkeit, der Liebe, der Ethik und Moral, sie ist nicht wahrer, weil sie unmittelbar ist, oder natürlicher, weil sie spontan wäre, und doch ist sie freundlich, und nicht feindlich, nicht bedrohlich, sondern singend mit lauter Stimme. Dieses Plädoyer ist keines für die glückliche Mösen und die glücklichen Schwänze, und eines für sie. Geilheit sollte meiner Ansicht nach nicht aus einem Konzept von Begehren ausgenommen sein, weil sie so leicht zu trivialisieren und pornographisieren ist, weil sie als phallische so eng mit patriarchaler Macht verknüpft ist, das schwierige ist, sie aus dieser Identifikation zu befreien, ohne sie zu disziplinieren.
Frieden für Israel und Palästina !
Diese Debatte fordert die Linke ganz, es ist unmöglich, sie zu hintergehen. Nichts wühlt im Moment die Gemüter so auf, nirgends wird so heftig und grundsätzlich diskutiert. Die Linke, wenn man und frau sie so nennen will, kann aus dieser Auseinandersetzung nur lernen, oder in ihr vollkommen scheitern. Daß es ums Ganze geht, und damit ist nicht gemeint eine Hegemonie einer Fraktion über die andere, sondern tatsächlich um die Zukunft einer Linken, ist deutlich zu spüren. Aus keinem Anlaß habe ich mich so existentiell gefragt, warum ich je Linker geworden bin, welche Maßstäbe noch verbindlich sind, welche Regeln der Argumentation noch gelten, und sei es nur, dem anderen zu zuhören, und welche Lügen und Entstellungen, welche Ignoranz in der Linken noch möglich ist. Daß persönliche Denunziation und billigste Polemik zum Standardstil einer Linken zu werden drohen, warum ist dies noch weiter zu ertragen ?
Das Geflecht sich kreuzender Strategien der Dominanz zu zerstören, dazu will ich einen Beitrag leisten. Die programmatische Idee von "Frieden für Israel und Palästina" soll auch ein Beitrag sein, die antideutsche Position der ausschließlichen Solidarität mit Israel, welche die Realität von Diskriminierung, Besatzung und Enteignung nicht wahrnimmt, und die antizionistische Position der aussschließlichen Palästinasolidarität, welche die Realität von Israel als Ergebnis und Konsequenz des europäischen Antisemitismus nicht anerkennt, dialektisch zu überwinden.
In der Auseinandersetzung kulminieren Entwicklungen in der radikalen Linken, die glaubt, sich nicht mehr mit der materialistischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse auseinandersetzen zu müssen. Sie glaubt mit Halbwissen, normativen Setzungen und überlegener Moral Position beziehen zu müssen, Antworten auf Lieblingsfragen zu geben, und andere Fragen zu ignorieren, mit der Zitierweise von Staatsanwaltschaften Anklageschriften zu formulieren, und nur noch zu reden wie die diplomatische Vertretung ihrer Lieblingsstaaten und Nationalbewegungen.
Hier endet der Imperialismus (Inschrift Flughafen von Burkina Faso)
Diese Verstaatsbürgerlichung der Linken ist nicht neu, sie war auch in den Solidaritätsbewegungen der 70er und 80er Jahre vorhanden. Sie begann irgendwann emphatisch, als sich die neue Linke 1967 von der alten DKP-Parole "Frieden für Vietnam" abwandte, um sich der Parole "Sieg für den Vietcong" zuzuwenden, sich damit solidarisch mit den nationalen Befreiungsbewegungen des Trikont zu erklären, die in ihren nationalen und antikolonialen Kämpfen "den Imperialismus" und Kolonialismus militärisch besiegen und beenden wollte. Diese Form endete zum Teil im Fiasko der maoistischen K-Gruppen, die schließlich jede außen- und innenpolitische Wendung der neuen Nationalstaaten mitmachten, und sich heillos in Widersprüchen, Legitimationszwängen und Propagandaparolen verstrickten. Die Linke wandte ihren Antiimperialismus nun ebenso auf den Nahen Osten an, auf den Palästina - Israel ? Konflikt, obwohl der mit der Logik von fremder Kolonialmacht, die eine einheimische Oligarchie unterstützt und protegiert, mit der Geschichte und Ursachen dieses Konflikts nicht übereinstimmt. Mit dem Antizionismus wollte die radikale Linke mehrheitlich ihre Position zur zionistischen Landnahme in Palästina legitimieren, indem die israelische Gesellschaft als rassistisches Kolonial ? und Grenzregime und Statthalter des Imperialismus zum Feind erklärt wurde, selbst wenn feinsinnig die israelische ArbeiterInnenklasse als abstrakt erwünschter Bündnispartner von der Feindschaft ausgenommen wurde. Das Bild vom "Feind der Menschheit", daß insbesondere die deutsche Linke von Israel zeichnete, indem immer wieder der Vergleich mit den Taten des NS-Regimes verwendet wurden, unterfütterte diesen Antizionismus, der den deutschen Antisemitismus mit bediente. Zum Beispiel Sabra und Schatila: zwei Flüchtlingslager, in die auf Befehl von Ariel Sharon, damals Verteidigungsminister, 1982 beim Libanonfeldzug der israelischen Armee , rechtsgerichtete libanesische Milizen eindrangen, um diese von PLO ?Kämpfern "zu säubern". Sechsunddreißig Stunden lang massakrierten die Milizionäre PalästinenserInnen unter den Augen der Israelischen Armee, die die Lager abriegelte und jede Flucht vereitelte. Am 25.September 1982 demonstrierten 400.000 Menschen in Israel gegen den Libanonkrieg und das Massaker (10 Prozent der jüdischen Bevölkerung), und ein Plakat erinnerte mit einem Gedicht Über das "Schlachten von Ch.N. Bialik an ein berüchtigtes Pogrom an Juden 1903", andere jüdische Linke verglichen Sabra und Schatila mit dem Massaker von Ukrainern in Babi Jar unter den Augen der SS, und waren darüber entsetzt und schockiert . Die deutsche Linke wußte schon gleich die Antwort: Israel bereitet Endlösung der Palästinenserfrage vor, der zionistische Völkermord müsse zerschlagen werden, so Losungen von AntimperialistInnen 1982. Diese Linken wußten schon immer, daß die Juden und Zionisten Nazis sind, die sich jetzt vor der Weltöffentlichkeit demaskiert und entlarvt haben. Und sie bestanden rechthaberisch auf den Vergleich mit Auschwitz, davon wollten sie sich nicht abbringen lassen. Können sich nicht die Henker und ihre Kinder erleichtert fühlen, wenn die Opfer genauso schuldig sind, ging es mehr um die Genugtuung darüber, das die ehemaligen Opfer endlich schuldig geworden sind und schuldig gesprochen werden, um Auschwitz vergessen zu machen ?
Die Demonstrationen in Israel, die Verweigerung und Desertion von Soldaten und Offizieren in der Stärke von zwei oder drei Divisionen war für sie gleichgültig, es spielte für ihre Befindlichkeit und Bedürfnis nach Entlastung von Schuld keine Rolle. Mit einem solchen monströsen Feind konnte ein Frieden nur undenkbar sein, er konnte nur zerschlagen werden. Und endlich konnten sie gleichgültig gegenüber dem Schicksal der Juden sein, war die Rücksichtslosigkeit vom Wechsel der hohen Moral gedeckt.
Ohne Zweifel war Israel schuldig geworden, in seiner jetzt fünfzigjährigen Geschichte nicht das erste Mal. Doch warum sollte ausgerechnet die deutsche Linke ihr Richter sein ? Konnte Israel von der deutschen Gesellschaft Empathie und Solidarität erwarten, welche die europäische Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in sich aufnimmt, und Israel als Konsequenz dieser Geschichte anerkennt ?
Zweimal 8. Mai 1945
Am 8.Mai 1945 feierten zehntausende Algerier den Sieg über den Nationalsozialismus, der für sie gleichbedeutend war mit der nationalen Unabhängigkeit. Viele Algerier hatten in der Fremdenlegion gegen die Nazis in Europa und Nordafrika gekämpft, die französische Exilregierung hatte ihnen dafür die Unabhängigkeit versprochen. Französische Flugzeuge bombardierten die Demonstrationen, insgesamt 45.000 AlgerierInnen starben im Bombenhagel und Maschinengewehrfeuer. Der 8.Mai 1945 war das Datum, dass den Beginn des bewaffneten nationalen Befreiungskampf in Algerien einleitete. Der 8.Mai 1945 war beides: Tag der Befreiung von der nationalsozialistischen Bestie, und der Fortsetzung von Krieg, Unterdrückung und Imperialismus. Viele SenegalesInnen, die in der Fremdenlegion gegen die Nazis gekämpft hatten, und die nach dem Ende des Krieges endlich nach Hause wollten, fanden sich in Lagern wieder, oder wurden zwangsweise weiter zum Kampf gegen die vietnamesische Unabhängigkeits-bewegung verschifft. Ihre Befreiung aus Buchenwald unterbrach ihr leidvolles Dasein nicht, sie waren weiter Menschenmaterial auf dem Schachbrett des Imperialismus. Soll damit die Befreiung vom Nationalsozialismus relativiert werden ? Auf keinen Fall. Nur : die Geschichte endete nicht am 8.Mai 1945, sondern setzte sich fort. Und sie wird in Afrika wahrscheinlich anders geschrieben als in Europa. Diese Ereignisse, genauso wie der Krieg gegen die kommunistischen PartisanInnen auch durch die Royal Air Force Großbritanniens in Griechenland, die rasche Entnazifizierung durch die Alliierten für den Kalten Krieg und zur Unterdrückung antikolonialer Kämpfe, passen nicht in ein Weltbild, daß die Kritik am US-Krieg gegen Vietnam, weil es nicht vermeidbar ist, für berechtigt erklärt, um im zweiten Satz zu betonen, dass sie nur das eigentliche antiamerikanische Ressentiment verdeckt habe ( Antideutscher Aufruf gegen die Anti ? Bush -Demonstrationen 2002 ). Dieses antideutsche Weltbild fragt nicht mehr: was passierte eigentlich in Vietnam, in Griechenland, Algerien, Chile, im Kongo ? Diese Fragen interessieren sie nicht, sie erklären alles zum Diskurs, zum hohen Lied der Demokratie als Voraussetzung der Freiheit, die es zu verteidigen gälte. Der Plantagenarbeiter auf den Bananenplantagen der United Fruit Company kann das niedere Lied dieser Freiheit singen. "Moral" sagt Woizek bei Büchner, ja Moral ist was für die feinen Leut ". Warum ist es so schwer, die Geschichte von Unterdrückung, Enteignung, Krieg, Rassismus zu schreiben und zu beschreiben, ohne im Reflex des eigentlich und aber zu enden, der letztlich alle Geschichte der Herrschenden sanktioniert und als Mittel für ein höheres Ziel adelt, das Ziel Zivilisation und Demokratie gegen Barbarei und Diktatur. So ist es nicht mehr möglich das sozialistische Reformprojekt Allendes in Chile lebendig und solidarisch zu beschreiben, die Kompromißpolitik und die Bodenreform gegen den Großgrundbesitz, die Nichtkäuflichkeit für die multinationalen Konzerne, und die lebhafte, internationale linke Debatte um die sozialistische Politik des Übergangs. Dies alles wurde mit dem Militärputsch Pinochets, des CIA, getragen von einer antikommunistischen Koalition von Großgrundbesitz, Opus Dei und US - Banken und Konzernen ausgelöscht. Der Militärputsch war nicht nur beklagenswert wegen zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, sondern in erster Linie die Liquidierung einer kommunistischen Intelligenz und von aktivistischen Land ? und IndustriearbeiterInnenklassenorganisationen, zu der aus Deutschland als einer der Ersten Franz -Josef Strauß gratulierte, das ehemalige NSDAP-Mitglied, tief verstrickt in antikommunistische Geheimorganisationen von Rechtskonservativen weltweit. ""Die Demokratie muss abundzu in Blut gebadet werden" Pinochet zum Putsch; auch ein Verteidiger der Zivilisation im Feldzug gegen die Barbarei ?
Was hat dies alles mit Israel und Palästina zu tun ? Viele Antideutsche können die Staatsgründung und Geschichte Israels nur als reiner Selbstverteidigungsakt beschreiben, und vermuten hinter jeder Realanalyse, die den kolonialen Charakter der zionistischen Landnahme oder die besondere Gewaltform als Besatzungs- und Grenzregime darstellt, einen versteckten Angriff auf die Lebensrechte der jüdisch ? israelischen Bevölkerung. Die Vereindeutigung der antideutschen Geschichtsschreibung kann immer nur verblüfft zur Kenntnis nehmen, wenn irritierende Ereignisse der Geschichte das Weltbild erschüttern, was sich immer mehr nur durch Glaubensbekenntnisse stabilisieren läßt. Kommen wir daher noch einmal auf den Anfang zurück: die israelische Außenpolitik unterstützte die französische Algerienpolitik, und rechtfertigte die Kolonialideologie zum Beispiel vor der UN ? Vollversammlung, in welcher der israelische Delegierte davon sprach, daß 150 Jahre Anwesenheit in Algerien das Land französisch gemacht habe (1955). Israelische Regierungen verstanden sich zum Teil durchaus als Vorposten westlicher Interessen
In Nordafrika und im Nahen Osten "an dem sich die Wellen des nasseristischen arabischen Nationalismus brechen werden" ( Dayan 1958). Ben Gurion soll de Gaulle 1958 bei einem Staatsbesuch vorgeschlagen haben, die französische Bevölkerung an der Küste und in der Sahara zu konzentrieren, und eine französische Einwanderung zu organisieren. Israelische Politiker identifizierten sich also über ein rein an sicherheitspolitischen Interessen geleiteten Politik der Bündnisse mit westlichen Schutzmächten mit kolonialer Ideologie, die immer wieder die eigene Praxis mit der dieser Kolonialmächte verglich. Der Algerienkrieg kostete zahllosen Menschen in Minenfeldern, Lagern und Folterkellern das Leben, in denen übrigens auch Le Pen aktiv war, die aus den Gebieten der verbrannten Erde geflohenen 300.000 Flüchtlinge werden von französischen Truppen bombardiert und beschossen: dieser Krieg wird von israelischen Politikern und Regierungen ideologisch legitimiert und materiell unterstützt.
Warum dieser Umweg ? Einmal um außereuropäische Geschichte sichtbar zu machen, die zwar viele zitieren, aber über die zu wenige etwas wissen; und zweitens weil im Verhalten der israelischen politischen Führung zum Algerienkrieg ("Wir machen nur das, was Sie in Algerien gemacht haben" Sharon aktuell in einer französischen Zeitung) ihr Verhältnis zu den Kolonisierten sichtbar wird. Militärische Straf ?und Vergeltungsaktionen zum Beispiel der Einheit 101 von Oberleutnant Ariel Sharon setzten entgegen dem linkszionistischen Prinzip der "Reinheit der Waffen" auf unterschiedslose, nichtdiskriminierende Gewalt (exemplarische Waffe: die Uzi) und setzten sich schließlich im israelischen Militär durch, nachdem Moshe Dayan Generalstabschef geworden ist. Das Massaker in Kibia 1953, einem jordanischen Dorf, bei dem 45 Häuser gesprengt wurden, und 69 Bewohner in den Haustrümmern starben, nahmen nicht nur zivile Opfer in Kauf, es ging überhaupt nicht darum, "Terroristen" zu finden, davon ging das Militär nicht aus, sondern die Aktion war gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, sie war militärisches Angriffsziel geworden. Eine solche militärische Politik zog eine ethnisch-kollektive Bestimmung des Feindes nach sich: die Araber.
Was heißt das heute für uns? Wenn wir den Nahostkonflikt nicht nur als medial aufbereitete Tragödie, als emotionales Wechselbad der Gefühle zwischen Solidarisierung und Verabscheuung, oder als dramatisches Showdown linker Bekenntniswut wahrnehmen wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als seine Konfliktstruktur, Gewaltform und Kontextualität zu begreifen.
Dieser angedeutete und angerissene Versuch, die israelische Geschichte nicht nur als Selbstverteidungsakt der Überlebenden des Holocaust zu beschreiben, dieser Versuch die Offenheit für eine nicht moralisch verurteilende, sondern solidarische Kritik und Opposition an israelischer Politik zu schaffen, wird wahrscheinlich der Einseitigkeit geziehen; der Versuch ist so einseitig, wie er eine Konsequenz aus der Einseitigkeit antideutscher Positionen ist. Ich habe mit keinem Wort die palästinensische Politik und Gewaltform legitimiert oder analysiert. Sie war nicht Gegenstand der Kritik.
Warum Frieden ?
Der Frieden, über den seit Jahrzehnten so viel geredet wird, und der wahrscheinlich einfach nur die Abwesenheit von Krieg meint, kann nur in einer politischen und sozialen Kompromissstruktur gefunden werden, die für beide Parteien sinnvoll ist, und eine Zukunftsperspektive eröffnet. Die Anerkennung und Sicherheitsgarantien für Israel, , das Ende antisemitischer Propaganda und die ökonomische regionale Kooperation sind die Forderungen an die arabischen Staaten, Rückzug aus den besetzten Gebieten, die gemeinsam verwaltete Hauptstadt Jerusalem, Anerkennung der Flüchtlingsfrage und ebenso Sicherheitsgarantien sind die besonderen Friedensbedingungen zwischen zwei Nationalstaaten. Warum sollten deutsche Linke diese Programmatik auch der israelischen Linken unterstützen ?
Die Gefahr dieser Realpolitk ist, sich im Geflecht außenpolitischer Interessen und Konkurrenzen zu verstricken, die Konsequenzen dieses Friedensvertrages nicht überschauen zu können. Der weitere Krieg jedoch, der ein von totaler Krieg werden kann, wenn außenpolitische Hemmnisse fallen, schafft jedoch einen Konflikt, von dem Hannah Arendt sagte, daß er nur mit dem Zerschlagen des gordischen Knotens gelöst werden könne, und scheint mir für die gesamte weltpolitsche Entwicklung als unheilvoll. Die Gewalteskalation in der deutschen Linken scheinen mir davon nur die düsteren Vorboten zu sein. Im Krieg selbst liegt keine Perspektive als die des Abschlachtens.
Heinz Xhantippa, Juli 2002