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Neofaschismus
in Italien

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Jens Renner:

Der neue Marsch auf Rom - Berlusconi und seine Vorläufer

Zürich (Rotpunkt) 2002

208 S, € 19,80
ISBN 3-85869-240-9


Seit seinem Wahlsieg im Mai 2001 arbeitet der von Silvio Berlusconi angeführte Rechtsblock daran, im Mutterland des Faschismus erneut ein autoritäres Regime zu etablieren. Maßnahmen gegen die Unabhängigkeit der Justiz, Sondergesetze zur Sicherung von Berlusconis wirtschaftlichen Interessen und eine weitgehende Ausschaltung regierungskritischer Stimmen auch in den öffentlich-rechtlichen Fernsehprogrammen sollen die Herrschaft der italienischen Rechten dauerhaft absichern.

Es wäre falsch, bereits von einem neuen Faschismus zu reden. Aber Berlusconis rhetorische Anleihen bei Mussolini, der offene Rassismus der Lega Nord und der Duce-Kult der neofaschistischen Alleanza Nazionale haben das politische Klima in Italien radikal verändert.
Begünstigt wurde der Sieg der italienischen Rechten auch durch die konservative Mitte. Seit den 1970er-Jahren bemühen sich Historiker und Publizisten, Mussolinis »edle Absichten« und die »guten Seiten« des historischen Faschismus herauszustellen. Dadurch wurde auch die Rehabilitierung der neofaschistischen Partei möglich, die bis 1994 als nicht koalitionsfähig galt.

Jens Renner untersucht in seinem Buch die Praktiken der italienischen Rechtsregierung, die Wendungen der Neofaschisten und die Rehabilitierung des historischen Faschismus. Das Gerede von dessen angeblich »guten Seiten« widerlegt er, indem er Ideologie und Politik des Faschismus analysiert und auf das Italien von Berlusconi, Bossi und Fini überträgt.

Rezension des Buches in der Schweizer WOZ (Wochenzeitung) Ausgabe Nr. 06 / 2003

Der neue Marsch auf Rom - Die Herausforderung namens Berlusconi
Paul L. Walser

Ist Silvio B. ein neuer Benito M.? - Von der Schwierigkeit und der Notwendigkeit historischer Vergleiche.
Sein Lachen ist ein unerhört statisches Grinsen. Es mag irritieren, aber offensichtlich verfehlt es seine Wirkung nicht. Silvio Berlusconi, Jahrgang 1936, sieht wie ein listiges Schneiderlein aus, das sich aus Italien einen Massanzug fertigt.
Es gehört zum guten Ton, den italienischen Regierungschef zu kritisieren - und ihn zugleich machen, schalten und walten zu lassen. Ausserhalb Italiens wird kaum je offenes Lob für ihn laut, viel eher Tadel, doch der verhallt, und der klein gewachsene «Cavaliere» grinst hemmungslos weiter. Nach dem ersten misslungenen Regierungsversuch von 1994 sitzt er seit dem Frühsommer 2001 bedrohlich fest im Sattel. Silvio Berlusconi ist nach den Regeln der Demokratie an die Macht gekommen. Wie der Staat aussehen wird, wenn er sich spätestens 2006 Neuwahlen stellen muss, ist eine andere Frage. Schon bisher hat er - vorab in den Bereichen der Justiz, der Polizei, der Medien und der Wirtschaft - ungeheuer viel umgekrempelt, in purem Eigeninteresse.
Was ist das für eine Herrschaft? Immer noch eine Demokratie - oder doch schon so etwas wie der Anfang eines «regime»? Mit «regime» bezeichnet man in Italien die Herrschaft des faschistischen Diktators Benito Mussolini. Wer sich mit S. B. befasst, stösst bald auf den Schatten des B. M. Aber Berlusconi einfach als einen Nachfolger des Duce zu bezeichnen, wäre falsch. So einfach liegen die Dinge nicht. Ist er überhaupt ein Politiker? Ist sein Wählerapparat, Forza Italia, eine richtige politische Partei? Und was ist die ideologische Ausrichtung? Es scheint, als komme man dem Phänomen nicht bei, und das ist der grosse Trumpf des Regierungschefs, der von einer Präsidentenherrschaft träumt. Es gelang ihm innert kürzester Zeit, Italien umzuwandeln - in seinem Sinne -, und da ist der Vergleich mit Mussolini vielleicht doch angebracht. Wobei stets darauf zu achten bleibt, dass nichts so heikel ist wie ein Vergleich verschiedener historischer Epochen.
Angesichts der vielen offenen Fragen ist es sehr verdienstvoll, dass der Journalist Jens Renner, der WoZ-LeserInnenschaft als Mitarbeiter vertraut (s. Heiliger Vater oder Silvio Berlusconi), einen Leitfaden zum Thema Berlusconi geschrieben hat: «Der neue Marsch auf Rom». Der Titel mag provokativ klingen, weil er sofort den Bezug zu Mussolini herstellt; er ist indes gut gewählt, denn er zeigt den Kernpunkt des Problems auf und hält zugleich einen genügend grossen Interpretationsspielraum offen. Der Autor bezeichnet sein Buch als eine «Bilanz des ersten Jahres der Regierung Berlusconi». Nach einer kurzen einleitenden «Bestandesaufnahme» befasst sich Renner mit Italiens neuer Rechter und damit natürlich insbesondere mit Gianfranco Fini, Berlusconis Hauptbündnispartner, ohne den der reichste Mann des Landes nicht Regierungschef geworden wäre. Fini ist der Führer der Alleanza Nazionale (AN), der Nachfolgepartei des neofaschistischen MSI (Movimento Sociale Italiano). Gerne würde man noch mehr über Person und Werdegang dieses Mannes vernehmen, der bei italienischen Müttern als «idealer Schwiegersohn» gilt. Auch den rasanten, jedoch nicht linearen Aufstieg des Silvio Berlusconi zeichnet Renner nur sehr knapp nach. Und Umberto Bossi, der Dritte im Bunde, ebenso grober wie undiplomatischer Chef der rassistischen Lega Nord, erscheint lediglich am Rande.
Kampf ums demokratische Erbe
Renner gibt einen Überblick über Mussolinis vielfältige Erben. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich die Neofaschisten unverzüglich als legale politische Partei etablieren, und seit Mitte der siebziger Jahre ist dank revisionistischen Geschichtsschreibern eine Art Rehabilitierung des Faschismus im Gange. Der «italienische Historikerstreit» wurde von Renzo De Felice eingeleitet, der ursprünglich der Linken nahe stand. Mit seiner 1975 erschienenen «intervista sul fascismo» suchte er einerseits auf die «guten Seiten» des Mussolini-Regimes aufmerksam zu machen und anderseits die kommunistische Widerstandsbewegung vom Denk- malsockel zu stossen.
Der grosse mittlere Teil des Buchs ist ein Abriss der Mussolini-Geschichte - vom «Marsch auf Rom» 1922 bis zum Tod des fliehenden Duce Ende April 1945 beim Comersee nahe der Schweizer Grenze. Dann kehrt Renner zur «gescheiterten Entfaschisierung» und zum italienischen Historikerstreit zurück, um anschliessend 28 «Thesen über den italienischen Faschismus» zu formulieren. Im Schlussteil seines Buchs stellt er fest, dass der italienische Faschismus Geschichte ist und «in der beschriebenen Form nicht wiederkehren» wird. Die Berlusconi-Herrschaft nährt sich indessen an Mussolinis Erbmasse, und «das heutige Italien erscheint als ein Sonderfall, der zum Modell werden könnte - wenn denn Berlusconis Programm, Regierungsstil und Gegen-Kulturrevolution Erfolg haben».
«Der neue Marsch auf Rom» ist ein nützliches Werkzeug, um das italienische Dilemma namens Berlusconi zu ergründen. Die Bildauswahl ist zu stark auf Mussolini ausgerichtet. Der Anhang dürfte freilich noch mehr biografische Daten enthalten. Renners eingehende Beschäftigung mit der Ideologie des Duce sowie mit den Faschismus-Verharmlosern und Nutzniessern ist eine geraffte, willkommene Geschichtslektion, die indessen eine Analyse des Versagens der italienischen Linken gegenüber der Herausforderung Berlusconi nicht ersetzen kann. Das wäre das Thema für ein dringend nötiges weiteres Buch. Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als Italiens demokratisches Erbe. Dazu Renner: «Der Kampf um die Erinnerung, die Verteidigung der antifaschistischen Tradition und die Konfrontation mit den Apologeten des Faschismus sind wichtige Bestandteile der Opposition gegen die Regierung Berlusconi und ihre Versuche, in Italien ein autoritäres Regime zu installieren.» Doch einstweilen bleibt diese Opposition fatal ohnmächtig und zerstritten. Wie lange noch?