Dieser Text wurde verfasst für den LP-Sampler »Schill
Out«, der im Oktober 2002 erschienen ist. Er ist zumindest
in Bezug auf den letzten Teil überholt – kann man in
diesem Zusammenhang etwas schöneres resumieren?
Eine Geschichte, die auch noch jemand schreiben könnte
Mit unvorteilhaft zerzauster Frisur, benebeltem Blick und dem zu
diesem Bild auch äußerlich durchaus passenden Spruch
»Ich trinke Jägermeister, weil alle meine Urteile revidiert
werden«, grüßte vor drei Jahren eine bis dahin
eher als lokale Kuriosität gehandelte Person von Hamburger
Wänden. Das Plakat hätte ein gutes Schlusswort zu den
provinziellen Eskapaden des Amtsrichters Ronald B. Schill abgegeben.
Man hätte es sich – und viele haben das ja auch getan
– in die WG-Küche gehängt und von Zeit zu Zeit herzlich
gelacht über einen weiteren Kandidaten, der auszog, die Welt
zu erretten und leider doch nur bis zur nächsten Straßenecke
kam, wo er dann in das Konterfrei eines mittelmäßigen
Aushilfssheriffs blicken musste – sein eigenes. Derart einfache
Pointen allerdings bietet das Leben selten. Schill ist ein Missionar
und Missionare betreiben ihr Werk nicht als Hobby, sondern als Getriebene.
Sie sehen eine kranke, verdorbene Welt im Strudel von Auflösung
und Unordnung, sie gucken in den Spiegel und sehen sich –
die Medizin. Um das so zu sehen, muss man den Weg der Zwangsvorstellungen
schon ein bisschen gegangen sein und man wird ihn auch nicht mehr
so schnell verlassen. Er ist gepflastert mit Erweckungserlebnissen
und Verschwörungen – alles, was passiert, hat in den
Augen des Paranoikers eine eigentümliche Zwangsläufigkeit.
Schill hatte, so Schills Selbstbild, keine andere Wahl, als in die
Politik zu gehen. Die Verhältnisse haben ihn in seinem Gerechtigkeitssinn
dort reingeprügelt. In diesem Sinne hätte man alles bereits
ahnen können. Die einen lassen ihre tiefe Unzufriedenheit mit
der Welt nur an ihren Kindern aus, den anderen werden weitere Türen
aufgemacht. Jeder kämpft an der Front, an die man ihn ruft.
Die erste Front, an der Schill zu kämpfen begann war das Hamburger
Amtsgericht, an dem er 1993 zum Richter ernannt wurde und mit eigentümlichen
Rechtsauffassungen recht früh bereits zumindest Stirnrunzeln
hervor rief. Rund drei Jahre später erlangte er zum ersten
Mal das ungeteilte Interesse auch überregionaler Medien, als
er eine psychisch kranke Frau, die zehn Autos zerkratzt hatte, zu
zweieinhalb Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilte.
Die groteske Härte des Urteils wurde in der Presse mit einer
Mischung aus Kritik und versteckter Achtung quittiert. Beides steckt
in dem Titel »Richter Gnadenlos«, den ihm die Hamburger
Morgenpost in diesem Zusammenhang verlieh. »Richter Gnadenlos«
klingt gut und kommt gut, besser jedenfalls als »windelweiche
Erlebnispädagogik«, »verständnisvolle Jugendrichter«,
»sozialdemokratische Kumpeljustiz«. Wer möchte
nicht einmal »Richter Gnadenlos« sein? Verständnis
muss man schließlich schon genug aufbringen. An einer solchen
Öffentlichkeit, die sich an ihm quer durch die Leserbriefseiten
spaltete, fand Schill offensichtliches Gefallen. Der Verhandlungssaal
geriet mehr und mehr zur Bühne seiner Selbstinszenierungen,
seine Urteile wurden immer härter und immer absurder, seine
öffentlichen Beiträge zwischen den Urteilen immer deutlicher.
Schill wurde zum großen Zampano der unterschiedlichsten Interessen.
Die Medien sahen in ihm – dem Insider aus dem Apparat –
eine brauchbare Waffe gegen den ungeliebten rot-grünen Senat
oder auch nur eine automatische Textverarbeitungsanlage mit eingebauter
Schlagzeilengarantie. Oben gibt man eines der handelsüblichen
Stichworte aus dem Bereich Kriminalität, Gewalt und Drogen
ein, unten kommt ein Plädoyer für Recht und Ordnung heraus.
Recht und Ordnung – wer steht nicht drauf? Die üblichen
Leserbriefschreiber schließlich sahen in ihm eine Lichtgestalt,
die das öffentlich machte, was sie seit Jahren meist vollständig
ungehört predigten. Nicht zuletzt entsprach Schill seinen eigenen
eitlen Interessen nach öffentlicher Wahrnehmung. Viele gute
Gründe für die vielen Beteiligten, Schill einen möglichst
guten Platz in der öffentlichen Diskussion freizuhalten. Und
Schill bediente die Interessen zielsicher: 1997 erklärte er
öffentlich, Hamburgs Justiz habe ein Herz für Verbrecher.
Kurze Zeit später teilte er mit, er habe nichts gegen die Einführung
der Todesstrafe, wenn sich entsprechende parlamentarische Mehrheiten
fänden.
»Richter Gnadenlos« begann seine eigene Vermarktung
als Produkt. Sein Programm und seine Botschaft war er selbst –
in Stellvertretung für alle anderen, die sich ebenfalls in
einem einsamen Kampf gegen ein vielgestaltiges Böses wähnen,
in dessen Natur es liegt, dass es eigentlich nie besiegt werden
kann. Da hat man was zu tun.
Zum besonderen Feindbild in diesem ungleichen Kampf wurde für
Schill die autonome Szene. Anlässlich einer mit einem verlässlich
absurden Urteil abgeschlossenen Verhandlung gegen einen Mann aus
dem Umfeld der Roten Flora verhängte Schill gleich noch gegen
zwei Prozessbesucher Ordnungshaft wegen Missachtung des Gerichts
und löste damit innerhalb der Hamburger Justiz die ersten ernsthaften
Bemühungen aus, sein Treiben zu entschärfen und ihn loszuwerden.
Man nennt diesen Vorgang eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.
Schill inszenierte sich so lange als »bad guy«, bis
niemand mehr daran vorbei kam, an Konsequenzen zu denken. In diesem
Augenblick prophezeite er genau jene Konsequenzen, inszenierte sich
als das Opfer der großen Intrige gegen die, die »die
Wahrheit« sagen und deutete an, dass ihm wohl nichts anderes
übrig bleibe, als in die Politik zu gehen. Wie gesagt, solche
Leute haben keine Alternativen, sie haben einen Auftrag, von dem
sie erst im Laufe ihres Lebens erfahren.
Den Rest der Geschichte kennt man. In kürzester Zeit gelang
es Schill und einigen treuen Anhängern, eine »Partei«
aus dem Boden zu stampfen, die vorrangig mit Personal bestückt
wurde, das bei den Verteilungskämpfen in den üblichen
anderen Parteien leer ausgegangen war. Eine Partei voller beleidigter
Gestalten, die für sich mehr und besseres erwarten als das
Leben für sie bereit hält. Diese Partei, die praktischerweise
gleich den Namen ihres Anführers trägt, erhielt mit einem
lausigen Wahlprogramm, dem einzigen Programmpunkt »Sicherheit«
und dem »personifizierten Protestpotential« (Schill
über Schill) an der Spitze aus dem Stand an die 20% der Stimmen
und ist seitdem ein irrer und doch zuverlässiger Teil der Hamburger
Regierungskoalition.
Eine Geschichte, wie man sie auch noch schreiben könnte.
Das ist eine gängige Version der Geschichte des Rechtspopulisten
Ronald Schill. Viele halten sie bereits für eine verallgemeinerbare
Geschichte des Rechtspopulismus. Man nehme einen Egomanen mit paranoiden
Zügen, der tödlich beleidigt wurde, man gebe ihm einen
Platz in der Medienlandschaft und er wird auf die drängenden
Probleme verlässlich die falschen Antworten ausspucken, sich
in Rage reden, andere um sich scharen und losziehen, um überall
mal drauf zu hauen. Das Problem ist: Die Geschichte ist aus genau
dem Grunde lückenhaft, weil sie nur von ihm handelt, von Ronald
Schill im einsamen Kampf gegen das Verbrechen. Sie ist Teil des
Märchens, das ein Schill von sich erzählt und damit nicht
entlarvend, sondern Zutat der Werbebotschaft, für die Schill
steht. Das, was die einen Paranoia nennen, nennen die anderen nicht
ganz zu Unrecht Realität. Schill sagt eben nichts anderes,
er bewertet nur anders. Das gilt auch für die 20%, die dieser
Karikatur einer politischen Partei bei der letzten Bürgerschaftswahl
ihre Stimme gegeben haben. Mögen sie einen noch so sonderbaren
Eindruck von der Welt haben, sie sind echt. Und selbst außerhalb
dieses unappetitlichen Kreises: Wer hat bestritten, dass die Themen,
die Schill aufgegriffen hat, Themen sind, die es aufzugreifen lohnt?
Wer hat darauf hingewiesen, dass die gesamte Diskussion um Sicherheit
und Ordnung bereits Ausdruck des Denkens ist, in dem ein Schill
die radikalste Version darstellt? Das hat niemand getan und aus
diesem Grunde geht das meiste zum Thema Schill auch am Thema vorbei.
Konsens ist: Schill gibt falsche Antworten auf richtige Fragen,
aber fragen wird man jawohl noch mal dürfen. Weil das alle
so sehen, ist nicht Schill das Problem, sondern alle, die das so
sehen.
Schill selbst ist kein Prototyp des Rechtspopulismus, weil es einen
solchen Prototypen gar nicht gibt. Der so genannte Rechtspopulismus,
dem ja immerhin ganz unterschiedliche Gestalten wie Haider in Österreich
oder Berlusconi in Italien zugeordnet werden, hat so viele Gesichter,
dass man besser sagt, er hat gar keins. Rechtspopulismus ist damit
die »normale Meinung«, die früher einmal in den
großen Volksparteien aufbewahrt wurde. Dadurch war sie nicht
besser, sondern einfach nur kontrolliert. Heute allerdings hat die
Bindungskraft dieser großen Volksparteien erheblich abgenommen
und in dem Maße die »normale« Meinung durchschnittlicher
Durchschnittstypen heimatlos gemacht. Paart man eine eher reaktionäre
Grundhaltung aber mit den politischen Ton, der durch das Land fegt
und auch und gerade von den großen Parteien angeschlagen wird,
weil sie genau jene gewinnen wollen, die von ihnen abgefallen sind,
paart man die herrschende Philosophie von einer Welt, in der jeder
sich selbst am nächsten ist mit der Realität, die haufenweise
Verlierer produziert und Leute, die nicht verlieren wollen, dann
hat man eine ungefähre Vorstellung davon, warum sich der immer
schon vorhandene Bodensatz bedenklicher Meinungen heute um die so
genannten Rechtspopulisten schart, erschreckend normale Typen, die
Ordnung wollen.
Dieser Rechtspopulismus lebt weniger von den charismatischen Führern,
als von der Angst und dem Hass der Leute, die sich ihm anschließen.
Das ist ein Unterschied zu den klassischen politischen Parteien
und zum Faschismus, denn der Rechtspopulist ist Heilsbringer und
»einer von uns« gleichzeitig. Deshalb geht seine Gleichung
so gut auf, in der die »einfachen Leute« – und
er mit ihnen – gegen das Establishment ins Felde ziehen.
In gewissem Sinne sind Rechtspopulisten, das, was Nazis immer sein
wollen: Die »Stimme des Volkes«. Ihre Botschaft ist:
Wir sind das Sprachrohr der Unzufriedenen, die nicht genau sagen
können, womit sie unzufrieden sind, die aber wissen, dass sie
unzufrieden sind. Rechtspopulisten sagen, wir denken wie ihr, weil
wir so sind wie ihr. Deshalb können Rechtspopulisten auch derart
viele Interessen gleichzeitig bedienen, ohne sich überführen
zu lassen. Die Rechtspopulisten sind die Kleinbürger und die
Großbürger, sie sind die Autofahrer, die nicht schnell
genug voran kommen, sie sind die Einkäufer in der City, die
sich den Anblick von Armut und Randgruppen nicht mehr zumuten wollen,
sie sind die ohnmächtigen Bürger, die sich vom Staat schlecht
behandelt fühlen, die die keinen Parkplatz finden und Angst
vor »Fremden« haben. Sie sind alles, nur nicht Randgruppe.
Damit sind sie das genaue Abbild eines alltäglichen Wahnsinns,
hinter dem der Hass auf alles lauert, was man nicht versteht und
vor allem nicht verstehen will.
Dazu gehört auch der Hass auf die Politik als solche. Dementsprechend
ist der Rechtspopulist in der Regel der Praktiker, der jeder gerne
wäre. Er ist der Gewinner, der Macher, der Seiteneinsteiger,
der nun gezwungen wird, in die Niederungen herab zu steigen, um
seine Fähigkeiten in den Dienst einer höheren Sache zu
stellen. Weil er genau wie seine Anhänger Politik nicht ausstehen
kann, kommt ihm alles vor wie ein Ordnungsproblem, das gelöst
werden könnte, wenn man nur wollte. So ist die Welt von ihm
und seinen Anhängern und so sehen auch die entsprechenden Parteien
aus: eine Mischung aus Kegelclubs und mittelständischen Unternehmen.
Damit sind die rechtspopulistischen »Parteien« nicht
so weit entfernt von dem, was ohnehin gesellschaftlich in seiner
Durchsetzung ist: Politik fühlt sich an wie Ökonomie,
jeder ist sein eigener Standort, Abweichung nur, wenn’s bunt
ist und Spaß macht.
Eine Geschichte, die man auch noch mal umschreiben könnte
Bei Rechtspopulismus geht es letzten Endes weniger um Angst, sondern
um Hass, einen Hass, der sich an Minderheiten austobt und das Leben
insgesamt meint, ein Leben, das sich vor allem dadurch auszeichnet,
dass es Konflikte gibt. Im Hass aber ruht die Sehnsucht nach der
Stilllegung des Konfliktes, nach Ordnung, nach Ruhe, nach dem Tod.
In diese Richtung hat sich die Stimmung in der Stadt mit dem Regierungswechsel
verschoben. Die immer schon vorhandenen Vertreibungsfantasien werden
immer unverblümter formuliert, der Tod vermeintlicher Dealer
wird höhnisch und befriedigt beklatscht, Drogenkonsumenten
sollen vor allem weg, jugendliche Straftäter sollen vor allem
eingesperrt werden, Minderheiten sollen vor allem die Schnauze halten.
Der Druck auf die ungewollten Gruppen hat spürbar zugenommen:
Punks müssen sich in der Innenstadt schikanieren lassen, Obdachlose
werden verjagt, Bauwagenplätze sehen ihrer nach und nach erfolgenden
Räumung entgegen. Es geht denjenigen an den Kragen, die sich
nicht anpassen wollen oder können. An diesen und einer Vielzahl
anderer Punkte zeigt sich, wie groß das Maß der Unterschätzung
gewesen ist. Man hat Schill und seine Laienspielschar nicht Ernst
genommen, man hat aber gleichzeitig seinen Blick auf genau jene
trübe Truppe begrenzt. Tatsächlich gehören zum Senat
auch noch zwei klassische bürgerliche Parteien, die diese Politik
mittragen und sich vortrefflich ergänzen. Die einen praktizieren
das Ende der Politik, indem sie alles auf die Herstellung von Sicherheit
und Ordnung zusammen kürzen und damit die öffentlichen
Debatten beeinflussen. Die anderen setzen pragmatisch um, was sie
sich unter ideologiefreier Sachpolitik so vorstellen. Es ist, als
wäre die ganze Stadt von der schleimigen Ideologie, die diese
Koalition zusammen hält, eingesponnen.
Widerstand? Fehlanzeige! Auch das zeigt, wie sehr sich selbst diejenigen,
die es besser wissen müssten, auf der vermeintlichen Liberalität
ausgeruht haben. Man hat es einfach versäumt, zur Kenntnis
zu nehmen, dass Verhältnisse sich ändern – bis hin
zu einer Ungemütlichkeit, die an das Eingemachte geht. An diesem
Punkt steht man heute und es gibt immerhin Anzeichen dafür,
dass immer mehr Leute das begreifen. Bis man etwas optimistischer
dreinschauen könnte, müsste es allerdings eine Reihe weiterer
Zeichen in diese Richtung geben. Dazu gehört auch, eine Reihe
nicht immer ganz schlecht begründeter Haltungen und Abgrenzungen
aufzugeben. Dagegen etwas zu tun bedeutet, erst einmal wieder etwas
zu tun haben zu wollen. So hoffnungslos einfach ist die Antwort
auf die diesmal richtige Frage nach dem Richter und seinen Henkern.
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