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Brigitte Sandt: »Die Alpträume bleiben«
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Brigitte Sandt
arbeitet als
Journalistin in
Hamburg.
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Reportage
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Brigitte Sandt: »Die Alpträume bleiben«
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Zur Situation von Roma in Rumänien, die als Zwangsarbeiter für die Nazis arbeiten mussten
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Der alte Mann mit dem grauen Bart
deutet auf den leeren Stuhl neben
sich: »Komm setz Dich, und hör mir
zu.« Der Klappstuhl steht auf einer
staubigen Kopfsteinpflasterstraße
mitten im Dorf. Neben Filipache Costica
sitzen drei Enkelkinder, der älteste
Sohn und die Schwiegertochter. Das
Eingangstor zum Garten und dem Haus
der Familie ist sorgfältig geschlossen.
Kein Zutritt für Fremde aus Deutschland.
Die Straße ist ein neutraler Ort.
Autos fahren hier nicht vorbei; nur
Pferdefuhrwerke ziehen durch den
Staub. Vorsichtig lenken die Kutscher
die Tiere und die klapprigen Holzwagen,
auf denen sich frischgemähtes
Heu stapelt, um die Menschenansammlung
herum. Der alte Mann
beachtet die Vorbeifahrenden kaum.
Misstrauische braune Augen, Stirnrunzeln,
und der nüchterne Satz: »Das
letzte Mal habe ich vor 60 Jahren mit
Deutschen geredet. Oder besser
gesagt, von ihnen Befehle bekommen.
«Filipache Costica ist Roma. Als
der faschistische Diktator und Hitler-
Verbündete Ion Antonescu in Rumänien
die Macht übernahm, war er 18.
Seine Familie gehörte zu einer sesshaften
Roma-Gemeinschaft in einem Dorf
südlich von Bukarest. Ihren Lebensunterhalt
verdienten sie - wie fast alle
Roma in der Gegend - als Tagelöhner
in der Landwirtschaft. Eine Schule hat
Filipache Costica nie besucht; als
Kleinkind nahm ihn die Mutter mit zur
Feldarbeit. Mit 12 Jahren war er eine
vollwertige Arbeitskraft. »Alles hatte
seine Ordnung, und wir hatten genug
zu essen,« sagt er rückblickend.
»Warum soll ich über das Arbeiten klagen?« Das Leben der Roma im Dorf
änderte sich schlagartig, nachdem die
deutsche Wehrmacht ab Oktober 1940
in Rumänien stationiert wurde und die
Regierung unter Antonescu damit
begann, Juden und Roma zuerst systematisch
zu diskriminieren und wenig
später in Arbeits- und Todeslager zu
deportieren. Zusammen mit seiner
Mutter und seinem Vater wurde Filipache
Costica nach Transnistrien verschleppt:
»Wir sind zum Sterben dorthin
gebracht worden, aber erst mussten
wir arbeiten«
»Wir wurden nachts abgeholt, meine
Eltern und ich. Irgendwann im Winter
1942. Die Gendarmen zwangen uns
unter Schlägen dazu, in Armeetransporter
zu steigen. Dann wurde wir
zusammen mit den anderen Familien
fortgebracht.« Zusammen mit den
anderen Deportierten wurde Filipache
Costica nach Bukarest gebracht. Die
nächste Station waren Viehwaggons,
für eine Fahrt, die mehrere Wochen
dauerte. Eiskalte Nächte, kaum
Decken und Nahrungsmittel: Viele
Roma starben schon auf dem Weg in
die Lager am Bug. Im August 1941 war
die Besetzung der Ukraine bis zum Bug
durch die rumänische Armee von Hitler
bestätigt worden. Die rumänischen
Truppen gaben der Region einen
neuen Namen: Transnistrien. Nach
dem Schema der deutschen Deportationspraktiken
diente dieses Gebiet zur
Internierung für Juden und Roma.
Zwischen 1941 und 1942 wurden etwa
25.000 Roma, vor allem aus Bukarest
und den umliegenden Dörfern und
Städten, zwangsweise nach Transnistrien
verschleppt.
Filipache Costica überlebte den Transport
dorthin gemeinsam mit seinen
Eltern. Für die Lebensbedingungen im
Arbeitslager sucht er lange nach einer
passenden Beschreibung: »Wir sind
zum Sterben dorthin gebracht worden,
aber zuerst mussten wir arbeiten.« Die
Deportierten schliefen in Baracken
und Erdlöchern; tagsüber wurden sie
zum Bau von Schützengräben eingesetzt.
Entdeckten die Bewacher bei
einem Roma Goldzähne, riss man sie
den Menschen aus dem Mund. Fluchtversuche
endeten im Kugelhagel.
Romafrauen wurden von den Soldaten
und den Gendarmen systematisch vergewaltigt
und in Offiziersbordellen zur
Prostitution gezwungen. Massaker
gehörten zum Alltag.
Reglos hören die Enkelkinder zu,
während der alte Mann erzählt. Jetzt,
da er einmal mit dem Reden begonnen
hat, blockt er Zwischenfragen mit
abrupten Handbewegungen ab. Zu selten
wird ihm - und den anderen überlebenden
Roma - zugehört, erklärt
sein Sohn die Ungeduld des Vaters. Der
beschreibt, wie es ihm gelungen ist, in
Transnistrien zu überleben. Er wurde
zur Kartoffelernte eingesetzt, und die
rohen Kartoffeln, die er unter seiner
zerfetzten Jacke verstecken konnte,
ernährten ihn und seine Eltern. Es sind
einzelne Momente, die ihm noch
immer vor Augen stehen. Einmal
kamen deutsche Offiziere zur Inspektion
des Lagers. »Sie haben etwas
gebrüllt und wir sind geschlagen worden.
Dann verschwanden sie wieder.
Kurze Zeit später wurden die Juden,
mit denen wir Seite an Seite gearbeitet
hatten, fort gebracht. Einfach so, über
Nacht.«
Als die Rote Armee Ende 1943 bis kurz
vor den Bug vorgerückt war und deutlich
wurde, dass die deutsche Wehrmacht
und ihre rumänischen Alliierten
den sowjetischen Vormarsch nicht
mehr stoppen konnten, wurden die
Lager aufgelöst. Für die Eltern von Filipache
Costica kam die Rote Armee zu
spät. Sie waren im Sommer 1943 an
Typhus gestorben. Zwischen 26.000
und 36.000 Roma - genauere Zahlen
gibt es auch heute noch nicht - und
120.000 rumänische Juden fielen der
mörderischen Politik Antonescus zum
Opfer, verhungert, Epidemien ohne
medizinische Versorgung ausgeliefert,
erschlagen, erschossen. Nach der
Befreiung aus dem Lager machte sich
Filipache Kostica auf den Weg »nach
Hause«. Doch im Haus seiner Eltern
lebten mittlerweile Rumänen, seine
jüngeren Geschwister hatten sich bei
Verwandten in einem anderen Dorf
versteckt. Der inzwischen 22jährige
meldete sich freiwillig zur rumänischen
Armee, als Antonescu im August
1944 gestürzt wurde und Rumänien
einen Waffenstillstand mit den Alliierten
schloß. »Ich wollte noch gegen die
Deutschen kämpfen.« Im Nachhinein
ist er froh über diese Entscheidung,
auch »wenn ich den Krieg gehasst
habe.« Denn aufgrund seines Aufstiegs
zum Offizier erhält er heute eine
bescheidene Pension - »genug zum
Überleben.
Ein Haus aus Steinen
Eine Entschädigung für die fast zweijährige
Internierung in Transnistrien
und den Mord an seinen Eltern hat Filipache
Costica nie erhalten. »Wer hätte
uns denn entschädigen sollen? Unter
den Kommunisten wurden wir weiter
diskriminiert. Und heute? Das interessiert
niemanden mehr. Die Alpträume
bleiben, aber das Leben geht weiter.«1
Filipache Costica ist stolz auf die
Errungenschaften seines Lebens. Drei
Söhne, sechs Enkelkinder, und das
Haus, das sein ältester Sohn gebaut
hat. Ein Haus aus Steinen, mit Betonfundament,
handgeschnitzten Fensterläden,
genügend Zimmern für die
Großfamilie, und einem großen Garten.
Dort arbeitet Filipache Costica
noch heute täglich. Von 1947 bis zum
Ende der Ceauscescu-Ära hatte er
ohnehin weiter in der Landwirtschaft
gearbeitet. »Wenn ich nicht gearbeitet
hätte, wäre ich in den Knast gekommen.«
Mit dem Dekret Nummer 153 aus dem
Jahr 1970 konnten Menschen wegen
»parasitären Lebenswandels« - gemeint
waren Roma ohne staatlich anerkannten
Arbeitsplatz, beispielsweise traditionell
reisende Kleinhändler und
Handwerker -, ohne Prozess bis zu
sechs Monate lang inhaftiert werden.
Ziel war die Unterwerfung der Landbevölkerung
ins System der agroindustriellen
Zentren und die totale Kontrolle
über sämtliche Bevölkerungsgruppen.
In den 80er Jahren geriet auch der
Besitz von Goldmünzen, der für Roma
eine große Rolle bei der ökonomischen
Absicherung ihrer Familien hat, ins
Visier der Securitate. Bei Razzien wurden
den Romafamilien ihre Ersparnisse
geraubt. Filipace Costica ist stolz darauf,
dass er nie Ärger mit der Polizei
hatte - weder vor 1989 noch danach.
Und darauf, dass es - »außer den üblichen
Kleinigkeiten« - keine Spannungen
zwischen Roma und Rumänen in
dem Dorf rund 100 Kilometer südlich
von Bukarest gibt. Die Straßen sind
aufgeteilt: Da, wo die Großfamilie
Costica ihr Haus hat, stehen noch weitere
Romahäuser. Dann gibt es den
Dorfkern, der von Rumänen bewohnt
wird. Und, etwas außerhalb, eine wilde
Ansiedlung von Hütten und Baracken,
ohne fließendes Wasser, ohne Elektrizität.
Ein Cousin von Filipache Costica
wohnt hier mit seiner zehnköpfigen
Familie in einer Holzhütte mit einem
einzigen Raum.
Mitte der 90er Jahre hat eine Roma-
NGO hier in einer Baracke eine Schule
für Romakinder eingerichtet. Doch
selbst wenn sie lesen und schreiben
können, haben Romajugendliche in
dieser Gegend wenig Chancen, einen
Arbeitsplatz zu finden. Am Rand des
Viertels, auf verwilderten Feldern,
ragen die zerfallenen Dächer von
Scheunen und Silos des ehemaligen
Landwirtschaftskombinats in den Himmel.
Fördergelder aus Bukarest kommen
in dieser Region jedenfalls nicht
an. Für Straßenbauarbeiten in der
Kreisstadt wurden einmal 30 Roma eingestellt,
fasst Filipache Costicas Sohn
die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
zusammen. Der Weg durch das Elendsviertel
sieht nicht so aus, als wenn
demnächst eine Straßenbaukolonne
die tiefen Löcher flicken würde. Der
Sohn sagt: »Ich wollte, dass Ihr seht,
wie die Mehrheit der Leute hier lebt.«
Daran gemessen, gehören Filipache
Costica und seine Familie sicherlich zu
denjenigen, die es aus der tiefsten
Armut zu etwas gebracht haben. Die
Frage nach Assimilierung stellt sich für
den alten Mann nicht. Er wechselt zwischen
Rumänisch und Romanes, je
nach Thema, zwischen der Selbstbezeichnung
»Rom« und »Tsigani« und
hält es für selbstverständlich, »sich als
Roma nicht zu verstecken.« Nach dem
Sturz Ceauscescu hatte der damals
67jährige eigentlich davon geträumt,
für seine Söhne »ein paar Stücke gutes
Ackerland« zu kaufen. Doch von der
im Februar 1991 eingeleiteten Privatisierung
der ehemaligen Agrargroßbetriebe
sind die 2,3 Millionen rumänischen
Roma ausgeschlossen worden.
So blieb der Großfamilie Costica nur
der Erwerb eines Grundstücks zum
Hausbau, denn in seinem Dorf waren -
wie überall - alle fruchtbaren Ackerstücke
längst unter der rumänischen
Dorfbevölkerung aufgeteilt worden.
Damit verschwanden für die meisten
Roma in den ländlichen Regionen aber
auch die wichtigste Einnahmequellen,
denn die neuen rumänischen Kleinbauern
können und wollen längst
nicht alle unter Ceauscescu in der
Landwirtschaft beschäftigten Roma
wieder einstellen. Viele haben sich in
die Schattenwirtschaft und den Kleinhandel
geflüchtet, andere verlassen
Rumänien. »Mein jüngster Sohn lebt in
Deutschland und schickt regelmäßig
Geld. Damit konnten wir auch den
Hausbau finanzieren.« Der alte Mann
richtet sich kerzengerade auf seinem
Stuhl auf, mehr will er dazu nicht
sagen. Einen Nachsatz lässt er sich
noch abringen: Legitim sei es alle Mal,
dass das Land, das den Roma in Ostund
Westeuropa soviel Leid zugefügt
hat, heute zumindest auf Umwegen
dafür zahlen müsse.1 Filipache Costica
lächelt zum ersten Mal während des
Gesprächs. Bei der Frage nach der
Zukunft seiner Enkelkinder wird er
wieder ernst: »Immerhin gehen sie zur
Schule. Was danach kommt, weiß niemand.
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Demonstration von 250 Roma gegen die geplante Abschiebung nach Ex-Jugoslawien
Gedenkstätte für die in den Konzentrationslagern getöteten Sinti und Roma im ehemaligen KZ Buchenwald bei Weimar
1| Zum Jahresende 2002
teilte die International
Organization for Migration
(IOM) mit, von rund 1.400
aus Rumänien eingangenen
Entschädigungsanträgen für
NS-Opfer seien bislang 14
bewilligt worden.
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