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Die Zukunft der Vergangenheit
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Sonderheft Erinnerungskultur in Deutschland
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Die Zukunft der Vergangenheit
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Rückblicke und Ausblicke auf deutsche Erinnerungspolitik
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»Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.« Mit diesen Worten bilanzierte der italienische
Schriftsteller Primo Levi seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Auschwitz und Buchenwald.
Am Ende war die Verzweiflung und die Scham darüber, das »präzedenzlose Verbrechen Auschwitz«
(Yehuda Bauer) überlebt zu haben, stärker. Im Frühjahr 1987 nahm sich Primo Levi das Leben. Über Jahrzehnte
setzte sich Levi für eine Kultur der Anerkennung gegenüber den Opfern ein. Doch letztlich überwog
sein Pessimismus. War es nach der Befreiung die Angst gewesen, niemand würde ihm seine Erlebnisse in
Auschwitz glauben, so fürchtete Levi, das Verdrängen des Grauens in Form der Instrumentalisierung und
Trivialisierung der Shoah könnten am Ende obsiegen. Die heutigen Erinnerungskulturen müssen sich befragen
lassen, ob sie dem Anspruch gerecht werden, ein Bewusstsein von der Dimension des Grauens zu schaffen,
das gegen einen erneuten Aufbruch in die Barbarei zu immunisieren vermag.
In absehbarer Zeit wird es keine lebenden
Zeugen der Shoah mehr geben.
Umso so dringlicher stellt sich die
Frage nach der Zukunft der Vergangenheit
und wer sie zu bestimmen vermag.
Was in Deutschland als »Bewältigung
der Vergangenheit« galt und gilt, sagt
mehr über das Land der Täter und seine
Mentalität als alle Gedenktagsreden
zusammengenommen. So unterschiedlich
die Voraussetzungen für die Auseinandersetzung
in beiden deutschen
Staaten auch waren, so gab es doch augenfällige
blinde Flecken.
Postfaschistische Geschichtsteleologie
– Erinnerungspolitik in der DDR
In der DDR erklärten die den Staat
repräsentierenden kommunistischen
Emigranten und ehemaligen KZ-Häftlinge
ihr antifaschistisches Selbstverständnis
zur Staatsräson. Die Meistererzählung
der DDR-Vergangenheitspolitik
bestand darin, dass die Deutschen
als verführtes Kollektiv erschienen. Die
Frage nach der Verantwortung der unversehens
auf die Siegerseite der Geschichte
geratenen Bevölkerung stellte
sich kaum. Sie wurde auf Westdeutschland
und die dortigen Kontinuitäten
mit dem NS-Staat projiziert. Schon im
Exil hatte die Moskauer KPD-Führung
um Walter Ulbricht sich gegen die Auffassung
einiger KPD-Westemigranten
gewandt, die von der Unterstützung
des NS-Systems durch die Mehrheit der
Deutschen, auch der Arbeiterklasse,
ausgingen. Das noch im Exil skizzierte
Ansinnen Paul Merkers, jüdische Überlebende
des nationalsozialistischen
Verfolgung zu entschädigen und ihr
arisiertes Eigentum zurückzugeben,
bezahlte dieser mit seiner Entmachtung
und einem antisemitischen Motiven
folgenden Schauprozess.
Heroischer Antifaschismus
Seit Ende der 1940er Jahre schlug
die Partei wieder nationale Töne an. In
der Kulturpolitik verfolgten die SED-Dogmatiker
um Wilhelm Girnus alles,
was ihnen »westlich-dekadent«, »kosmopolitisch
« und »formalistisch« erschien.
Stattdessen gedachte man die
deutsche Klassik und Teile der politischen
Romantik ideologisch für den
Aufbau des Sozialismus in Dienst zu
nehmen. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit
speiste sich in der DDR
ohne Zweifel aus einer grundsätzlichen
antifaschistischen Motivation ihrer
handelnden Akteure. Doch pragmatisch-
politische Erwägungen spielten
im Kontext des Kalten Krieges eine erhebliche
Rolle. Die Propagandakampagnen
des SED-Chefideologen Albert
Norden gegen westdeutsche Ex-Nazis
in führenden Positionen entsprachen
den Fakten, waren jedoch Teil des ideologischen
Kampfes und klammerten
ehemalige Nazis in der DDR aus.
Während hohe NS-Funktionsträger und
Kriegsverbrecher verurteilt wurden
oder in den Westen gingen, suchte man
die Mitläufer in der NDPD zu integrieren.
Zentraler Bezugspunkt der DDR-Gedenkstättenpolitik
war und blieb der kommunistische, eingeschränkt auch
der sozialdemokratische Widerstand.
Im Mittelpunkt antifaschistischer Gesellschaftspolitik
stand, von Straßen- und
Schulnamen, bis zur wissenschaftlichen
Literatur, der aktive Kämpfer gegen
den Faschismus. In diesem Konzept
eines heroischen Antifaschismus
hatten unpolitische Opfer der NS-Diktatur
wenig Platz. Der Antisemitismus
und die Vernichtung der Juden waren
keine zentralen Themen vergangenheitspolitischer
Diskurse. Diese Sichtweise
wurde erst spät relativiert, als
Ende der 1980er Jahre in der DDR Dokumentationen
zur Geschichte des
Shoah erschienen.
Als zu Beginn der 1980er Jahre in
der DDR rechtsextreme Gruppen auftraten,
war die Authentizität des Antifaschismus
der Gründergeneration aufgebraucht
und erstarrt. Die autoritäre
Formierung und Militarisierung der
DDR-Gesellschaft begünstigte die Ausbreitung
rechtsextremer Einstellungen
bei Jugendlichen, die sich Ende der
1980er Jahre in damals unveröffentlichten
Studien spiegelte. Die Abwesenheit
einer unabhängigen, kritischen
Öffentlichkeit machte es unmöglich,
den Widerspruch zwischen rechtsextremen
Tendenzen und der Proklamation,
in der DDR sei der »Faschismus mit
Stumpf und Stiel ausgerottet«, zu problematisieren.
Wer es, wie einige junge
unabhängige Antifaschist/innen dennoch
versuchte, machte recht bald Bekanntschaft
mit den Sicherheitsorganen
des antifaschistischen Arbeiter- und
Bauernstaates.
»Vergangenheit die nicht vergeht« –
Erinnerungspolitik in der »alten«
Bundesrepublik
Im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik
spielten die beispiellosen nationalsozialistischen
Verbrechen weder im
öffentlichen Bewusstsein, noch in der
Publizistik oder der Geschichtswissenschaft
eine nennenswerte Rolle. Konstatiert
wurde ein deutscher Irrweg in
die Moderne, der die deutsche Bevölkerung
anfällig für die »Dämonie« Hitlers
lers
gemacht habe. Diese Sichtweise
stützte die in der deutschen Gesellschaft
verbreitete Auffassung, die Verbrechen
des Nationalsozialismus seien
im Wesentlichen das Werk Hitlers und
einer kleinen Clique fanatischer Überzeugungstäter
gewesen.
Derartige exkulpierende Geschichtsdeutungen
fanden ihre Entsprechung
auf administrieller und juristischer
Ebene in einer »Vergangenheitspolitik«1, die darauf zielte, möglichst bald
einen Schlussstrich unter die Bewältigung
der NS-Zeit ziehen zu können. So
kamen die von den alliierten Besatzungsmächten
in Angriff genommenen
Entnazifizierungsmaßnahmen bereits
am Ende der 1940er Jahre praktisch
zum Erliegen, nachdem die Verantwortung
hierfür weitgehend in deutsche
Hände gelangt war. Ähnlich verhielt es
sich mit der juristischen Ahndung der
nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.
Tausende von nationalsozialistischen
Funktionsträgern aus den mittleren
und gehobenen Verwaltungsebenen
gelangten wieder in Beamten- und
Angestelltenpositionen des Öffentlichen
Dienstes der Bundesrepublik.
Wesentlich schleppender hingegen
verlief die Politik der »Wiedergutmachung« gegenüber den Opfern des
Nationalsozialismus. Die Prozeduren,
denen sich zahlreiche NS-Opfer unterziehen
mussten, um ihre Ansprüche
tatsächlich geltend machen zu können,
wurden von den Betroffenen – zu
Recht – als demütigend empfunden. Zudem
schloss das Bundesentschädigungsgesetz
(BEG) zahlreiche Opfergruppen,
wie etwa ZwangsarbeiterInnen, sogenannte
»Asoziale« und Euthanasieopfer
von Entschädigungszahlungen über
Jahrzehnte hinweg aus. Das Luxemburger
Abkommen, das u.a. Israel eine
Globalentschädigung von drei Milliarden
DM zusicherte, konnte am 18. März
1953 im Bundestag nur mit den Stimmen
der oppositionellen SPD-Fraktion
verabschiedet werden.
Im öffentlichen Bewusstsein der
Bundesrepublik dominierte die Erinnerung
an die deutschen Opfer des Krieges. Mahnmale wurden errichtet oder
Kirchenruinen in Gedenkorte umgewandelt,
die bis heute an die deutschen
Opfer des Bombenkriegs erinnern.
Auch in Familien und Schulen
war dieses Thema ständig präsent. Mit
ähnlich großer Aufmerksamkeit konnten
die Vertriebenen und deren Verbände
rechnen. Der Formel vom »kommunikativen
Beschweigen der Vergangenheit«2, das für die 1950er Jahre
charakteristisch gewesen sei, ist demnach
nur bedingt zu zustimmen. Über
den Zweiten Weltkrieg und seine
schmerzlichen Folgen für die Deutschen
wurde allenthalben gesprochen,
das Beschweigen betraf das Schicksal
der Opfer des Nationalsozialismus.
Von der »Rückkehr der NS-Vergangenheit
« zur »zweiten Verdrängung«
Angesichts dieser Entwicklungen im
ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik
erscheint es im Rückblick umso erstaunlicher,
dass der vielfach herbeigesehnte
Schlussstrich unter die NS-Zeit
ausblieb. Die 1960er Jahre waren vielmehr
von einer »Rückkehr der NS-Vergangenheit
« gekennzeichnet. Bereits
der »Ulmer Einsatzgruppenprozess«
1957/58, in dem sich ehemalige Angehörige
der Einsatzgruppe A für ihre
tausendfachen Mordaktionen im Baltikum
verantworten mussten, stieß auf
ein vergleichsweise großes mediales
Interesse. Der Prozess gegen Adolf
Eichmann vor dem Jerusalemer Bezirksgericht
(1961) sowie der Frankfurter
»Auschwitzprozess« (1963-1965),
in dem gegen 22 ehemalige Angehörige
des Lagerpersonals verhandelt wurde,
verdeutlichten den organisatorischen
Aufwand und die Präzision, mit der der
Massenmord an den europäischen Juden
betrieben worden war. Die Metapher
»Auschwitz« avancierte zum Synonym
für das Menschheitsverbrechen
schlechthin.
In diesem Kontext rief die Tatsache
Proteste hervor, dass unzählige vormalige
NS-Funktionäre in der Politik, in
der Verwaltung und in den Medien der
Bundesrepublik wieder über einflussreiche Positionen verfügten. Die prominentesten
Altnazis auf politischer
Ebene waren Hans Globke, Ministerialdirektor
im Bundeskanzleramt unter
Konrad Adenauer, der an der Ausarbeitung
der »Nürnberger Rassegesetze«
beteiligt gewesen war; Vertriebenenminister
Theodor Oberländer und Bundeskanzler
Kurt-Georg Kiesinger (CDU).
Neben Intellektuellen wie Karl Jaspers,
Hannah Arendt oder Theodor W. Adorno,
die schon während der 1950er
Jahre eine konsequente Auseinandersetzung
mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit gefordert hatten, waren
es nun vor allem jüngere Journalisten
und Schriftsteller, wie etwa Erich Kuby
oder Peter Weiss, die »Auschwitz« thematisierten.
Darüber hinaus war es
nicht zuletzt die seit Mitte der 1960er
Jahre entstehende Studentenbewegung,
die die personellen Kontinuitäten
zwischen »Drittem Reich« und
Bundesrepublik skandalisierte.
Dennoch erwuchsen aus dieser Kritik
an den Formen der Geschichts- und
Vergangenheitspolitik in der Folgezeit
nur in bedingtem Maße Erinnerungskulturen,
die das Erleben und die Erfahrungen
der Opfer der Shoah in den
Mittelpunkt rückten. Vielmehr lassen
sich die 1970er Jahre in mehrfacher
Hinsicht als Phase einer »zweiten Verdrängung«3 der NS-Vergangenheit beschreiben.
Zwar setzte besonders in
den verschiedenen linken und linksradikalen
Strömungen eine intensive Beschäftigung
mit Faschismustheorien
ein. Kennzeichnend für diese Theorien
war jedoch ein ökonomistischer Reduktionismus,
der Faschismus lediglich
als radikale Ausprägung des Kapitalismus
definierte und die Bedeutung des
Antisemitismus v.a. für den deutschen
Nationalsozialismus fast vollständig
ausklammerte.
Zu bemerken war in diesem Zusammenhang
eine regelrechte Inflationierung
des Faschismusbegriffs, der nun
vollkommen unreflektiert in der Analyse
aller möglichen Erscheinungen des
politischen Zeitgeschehens angewendet
wurde und etwa in der beliebten Demoparole »USA – SA – SS« zum Ausdruck
kam. Als Hort des Faschismus
galt vielen Linken nicht zuletzt Israel,
dessen Politik unverhohlen mit der des
NS-Regimes gleichgesetzt wurde. Die
Tatsache, dass in Israel zahlreiche
Überlebende der Shoah Zuflucht und
eine neue Existenz gefunden hatten,
interessierte die deutsche Linke kaum.
Bei bürgerlichen Historikern, die
sich schwerpunktmäßig mit der Zeit
des Nationalsozialismus beschäftigten,
war eine bemerkenswerte Ignoranz gegenüber
den Opfern des Holocaust zu
beobachten. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses
standen vor allem
die organisatorischen Strukturen des
Nationalsozialismus. Die konkreten
Handlungsweisen der »Täter, Opfer und
Zuschauer« (Raul Hilberg) gerieten dabei
nicht ins Blickfeld.
Seit dem Ende der 1970er Jahre
rückte die Shoah allmählich stärker in
das öffentliche Bewusstsein. Einer der
Gründe hierfür war die Fernsehserie
»Holocaust«, die in vier Folgen das
Schicksal der (fiktiven) deutsch-jüdischen
Familie Weiss erzählt. Die Serie
erzielte im Januar 1979 beachtliche
Einschaltquoten und löste knapp 35
Jahre nach dem Zusammenbruch des
NS-Staates die bis dahin wohl umfangreichsten
Debatten über die Beteiligung
der »ganz normalen« Deutschen
an den nationalsozialistischen Verbrechen
aus.
Weitere Impulse, sich der Opfer des
Nationalsozialismus zu erinnern, zugleich
aber auch mehr über die Handlungsmuster
und die Motive der Täter
zu erfahren, gingen von den an zahlreichen
Orten entstehenden basisorientierten
Geschichtswerkstätten aus.
Der neue Ansatz der Alltagsgeschichte
fragte vor allem nach den Bedingungen
für das »Hinnehmen und Mitmachen
der Vielen«4, das den reibungslosen
Vollzug der Shoah erst ermöglicht
hatte. Gleichzeitig begannen lokale Initiativen
zur Geschichte der vergessenen
bzw. verdrängten Opfer und Opfergruppen
zu forschen. Die Ausplünderung,
Verfolgung, Deportation und
Ermordung der jüdischen Bevölkerung
wurde in den jeweils lokalen Kontexten
rekonstruiert. Erstmals fanden die
Schicksale der Sinti und Roma, der
ZwangsarbeiterInnen, der Deserteure,
der »Asozialen« und der Zwangssterilisierten
öffentliche Aufmerksamkeit.
Auf dem Weg zur »Normalisierung«?
Die von Bundeskanzler Kohl nach
dem Regierungsantritt der schwarzgelben
Koalition (1982) angekündigte
»geistig-moralische Wende« sollte
ihren Ausdruck auch in einem »normalisierten
« Umgang mit der NS-Vergangenheit
finden. Die Geschichtspolitik
der Regierung Kohl während der
1980er Jahre bezweckte, so resümiert
der Freiburger Historiker Ulrich Herbert,
»die durch Nationalsozialismus,
Krieg und Niederlage verschuldete
Sondersituation Deutschlands nunmehr
auszugleichen und damit zur inneren
Integration der westdeutschen
Gesellschaft beizutragen.«5 So reklamierte
Helmut Kohl ganz in diesem
Sinne anlässlich seines Israel-Besuchs
im Jahr 1984 für sich und den überwiegenden
Teil der Deutschen die »Gnade
der späten Geburt«. Im Mai 1985 löste
Kohls Drängen auf »Normalisierung«
einen handfesten geschichtspolitischen
Skandal aus. Zum 40. Jahrestag
des Kriegsendes und anlässlich eine
Staatsbesuchs von US-Präsident Ronald
Reagan verlangte die Bundesregierung
von den USA eine ȟber die
Gräber hinweg eine Geste für Frieden
und Versöhnung zu finden«. Mit einem
Besuch auf dem deutsch-amerikanischen
Soldatenfriedhof im rheinlandpfälzischen
Bitburg sollten Reagan und
Kohl einen in die Zukunft weisenden
Schulterschluss demonstrieren. Als bekannt
wurde, dass auf dem Friedhof
auch Angehörige der Waffen-SS begraben
seien, wuchs vor allem in den USA
der Druck auf Reagan, seine Teilnahme
an der Zeremonie abzusagen. Doch
Kohl beharrte auf der Veranstaltung
und machte gegenüber den US-Medien
deutlich, dass eine Absage des Bitburg-
Besuchs »die Gefühle unseres Volkes
tief verletzen würde«.6 In den geschichtspolitischen
Debatten im Kontext
des 8. Mai 1985 im Allgemeinen
sowie der Bitburg-Affäre im Besonderen
waren geschichtsrevisionistische
und tendenziell antisemitische Töne
kaum zu überhören. Während Politiker
mit Blick auf die in Bitburg begrabenen
Soldaten der Waffen-SS forderten,
keine »Selektion von Toten« vorzunehmen,
schwadronierten auflagenstarke
Boulevardmedien, wie etwa die Zeitschrift
Quick, über die »sagenhafte jüdische
Lobby«, die 40 Jahre nach dem
Ende des Nationalsozialismus immer
noch »deutsche Wunden« aufreiße7.
Die Tendenz, die NS-Vergangenheit
zu »entkonkretisieren« (Sabine Moller)
und letztendlich zu historisieren, kam
auch im »Historikerstreit« 1986/1987
zum Ausdruck. Auslöser der über die
Medien ausgetragenen Kontroverse war
der Historiker Ernst Nolte, der die (rhetorische)
Frage aufwarf, ob nicht »der
‚Klassenmord’ der Bolschewiki das logische
und faktische Prius des ‚Rassenmordes’
der Nationalsozialisten« gewesen
sei. Nolte bezeichnete die Shoah
als »asiatische Tat« und knüpfte daran
die (wiederum in eine rhetorische
Frage gekleidete) Behauptung, der Archipel
Gulag sei »ursprünglicher« als
Auschwitz gewesen.8 Demnach stellte
die nationalsozialistische Vernichtungspolitik
eine Reaktion auf die Verbrechen
des Bolschewismus während
der Epoche des »europäischen Bürgerkrieges« dar. Die Thesen Noltes wurden
von einer Reihe konservativer Historiker
und Publizisten aufgegriffen, riefen
aber auch massiven Widerspruch
hervor, so dass sich Nolte mit seinen
Auffassungen im öffentlichen Diskurs
zunächst nicht durchsetzen konnte.
In der Rückschau erwiesen sich die
von unterschiedlichen Akteuren vorangetriebenen
Bemühungen, einen
»Schlussstrich« unter die NS-Vergangenheit
zu ziehen und somit eine »normalisierte
« deutsche Identität zu fundieren,
als nur bedingt erfolgreich. Die
Wiedervereinigung löste eine bis dahin
beispiellose nationalistische Welle in
Deutschland aus, das allseits herbeigesehnte
»Vergehen der Vergangenheit«
blieb jedoch aus. Im Gegenteil: Die NSVergangenheit
schien in den 1990er
Jahren präsenter denn je zu sein: So
rückte mit dem Abschluss des »Zweiplus-
vier«-Vertrages, der die völkerrechtliche
Grundlage der deutschen
Wiedervereinigung darstellte, auch die
über vier Jahrzehnte ausgeklammerte
Frage nach der Entschädigung der
ZwangsarbeiterInnen ins Zentrum geschichts-
und außenpolitischer Diskussionen.
Die erste »Wehrmachtsausstellung« des Hamburger Instituts für Sozialforschung
löste ebenso wie Daniel
Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker« seit Mitte der 1990er Jahre
umfangreiche Kontroversen über die
Partizipation »ganz normaler Deutscher« an den Massenverbrechen aus.
In der radikalen Linken gewann die
Auseinandersetzung mit der Shoah an
Bedeutung. Die blinden Flecken der eigenen
Geschichte wurden entdeckt
und zum Gegenstand innerlinker Kontroversen.
Während die traditionellen
ökonomistisch geprägten Faschismustheorien
zunehmend auf Kritik
stießen, wurde der Antisemitismus nun
als zentrales Axiom des Nationalsozialismus
erkannt. Zudem entbrannten
seit dem Beginn der 1990er Jahre in
Folge des Golfkrieges (1991) und im
Kontext der Goldhagen-Debatte (1996)
heftige Diskussionen um die Erscheinungsformen
eines linken Antisemitismus.
Erinnerungspolitischer Gezeitenwechsel
– Versuch eines Ausblicks
60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus
zeichnet sich, nicht nur
in der Bundesrepublik, ein einschneidender
»erinnerungspolitischer Gezeitenwechsel
« (Norbert Frei) ab. Ganz
allgemein sind in diesem Zusammenhang
drei Entwicklungslinien festzustellen.
Erstens beginnt sich die Erinnerung
an die Shoah und die Zeit des
Nationalsozialismus von ihren eigentlichen
Trägern zu lösen. Mit dem allmählichen
Verschwinden der Zeitzeugen
vollzieht sich ein Wechsel vom »kommunikativen« zum »kulturellen« Gedächtnis,
mit der Konsequenz, dass die
»Erinnerung an den Holocaust […]
fortan vermittelt werden« muss und
dabei »ausschließlich auf Repräsentation
angewiesen« ist.9
Zweitens sind seit einigen Jahren
Tendenzen zu eine »Europäisierung«
der Shoah zu bemerken. Im Zuge des
europäischen Einigungsprozess fungiert
die Metapher »Auschwitz« als
(negativer) Gründungsmythos eines
sich gleichermaßen demokratisch wie
wehrhaft begreifenden Europa. In der
Abschlusserklärung des »Stockholm
International Forum on the Holocaust«
im Januar 2000 bezeichneten die Vertreter
der teilnehmenden EU-Staaten
die Erfahrung der Shoah als eine der
zentralen Legitimationsgrundlagen einer
gemeinsamen künftigen Interventionspolitik
in Krisen- und Konfliktregionen.
Drittens lässt sich nicht nur von einer
»Europäisierung«, sondern auch
von einer »Globalisierung« der Shoah-
Erinnerung sprechen. Vermittelt durch
die grenzüberschreitende Medialisierung
der Welt, ist der Begriff »Holocaust
« im globalen Rahmen zum Synonym
für das Menschheitsverbrechen
schlechthin avanciert. Die jüdischen
Opfer der Shoah fungieren nunmehr
oftmals als Bezugspunkte und Kronzeugen
für soziale oder ethnische
Gruppen, die sich in der Gegenwart mit
Verfolgung und Diskriminierung konfrontiert
sehen.
Die Feststellung, dass die Shoah
Eingang in ein entstehendes »globales
Gedächtnis« gefunden hat, ist zunächst
positiv zu bewerten. Auch gegen
eine vor allem von den USA ausgehende
Menschenrechtserziehung, die
sich die Shoah zum Bezugspunkt ihrer
Pädagogik wählt, dürfte wenig einzuwenden
sein. Im Hinblick auf die Intentionen
rot-grüner Geschichtspolitik
sowie die aktuellen erinnerungspolitischen
Diskurse in Deutschland, erweisen
sich die geschilderten Entwicklungen
jedoch als hoch problematisch.
Bereits in seiner Regierungserklärung im
November 1998 machte Bundeskanzler
Schröder deutlich, dass sich mit dem
Machtwechsel auch »ein Generationswechsel
im Leben unserer Nation vollzogen
« habe. Er reklamierte für die
Bundesrepublik »das Bewusstsein einer
erwachsenen Nation, die sich niemandem
über- , aber auch niemandem
unterlegen fühlen muss, die sich der
Geschichte und ihrer Verantwortung
stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich
damit auseinanderzusetzen, doch nach
vorne blickt.«10
Die Ziele rot-grüner Geschichtspolitik
unterscheiden sich demnach kaum
von der Geschichtspolitik der Kohl-Ära,
geht es doch darum, das Projekt einer
»demokratisch geläuterten«, aber nach
Weltgeltung strebenden Nation historisch
zu fundieren und ideologisch zu
legitimieren. Auf dem Weg hin zur
»Normalisierung« lassen sich jedoch
spätestens seit 1998 Paradigmenwechsel
feststellen, die tatsächlich aus dem
von Schröder konstatierten generationellen
Umbruch resultieren. Anders als
die von Kohl repräsentierte »Flakhelfergeneration
« verstehen sich die Protagonisten
rot-grüner Geschichtspolitik
als Repräsentanten einer vor allem
durch die Chiffre »1968« geprägten Generation,
die zum einen vorbehaltlos
die Auseinandersetzung mit der Shoah
ins Zentrum ihrer geschichtspolitischen
Positionen rückt, zum anderen
jedoch wie selbstverständlich einen
»unverkrampften« (Roman Herzog)
Umgang mit der Vergangenheit praktiziert.
Als ein Beispiel für diese Haltung
mag die Kontroverse um die Flick-
Collection dienen, deren öffentliche
Präsentation in Berlin die Bundesregierung
im September 2004 gegen alle
Proteste entschieden befürwortete.
Geschichts- und Außenpolitik unter
rot-grüner Hegemonie sind eng miteinander
verkoppelt. Eine Verbindung, die
sich in besonders deutlich zeigte, als
es im Frühjahr 1999 darum ging den
von deutscher Seite maßgeblich forcierten
Kosovokrieg der NATO mit dem
Hinweis zu legitimieren, im Kosovo
drohe ein zweites »Auschwitz«. Die bereits
erwähnten Tendenzen zu einer
»Europäisierung« der Shoah-Erinnerung
kommen dem kühl berechnenden
Pragmatismus der gegenwärtigen deutschen
Geschichtspolitik entgegen.
»Auschwitz« ließe sich einfügen in die
von deutscher Seite vorangetriebenen
Versuche, einen europäischen Machtblock
nicht nur diplomatisch, militärisch
und ökonomisch, sondern auch
erinnerungspolitisch zu fundieren. Die
Shoah würde somit eine Facette innerhalb
eines negativen europäischen
Gründungsmythos darstellen, der die
unterschiedlichen Gewalterfahrungen
des 20. Jahrhunderts bündelt und
letztendlich als eine Geschichte kollektiv
erfahrenen Leids interpretiert.
Den großen Schlussstrich unter die
NS-Vergangenheit wird es auch nach 60
Jahren nicht geben. Wohl aber dürfte
das Gedenkjahr 2005 eine Zäsur darstellen.
In ihren Bemühungen, den
Umgang mit der NS-Vergangenheit zu
»normalisieren«, haben sich die geschichts-
und erinnerungspolitischen
Vorstöße der rot-grünen Regierung
schon jetzt als wesentlich erfolgreicher
erwiesen als die vergleichsweise plumpen
Initiativen der Kohl-Ära.
Allerdings könnte ein Regierungswechsel
2006 auch zu einer Neupositionierung
der Geschichtspolitik führen.
Die im Namen der CDU/CSU-Fraktion
im Bundestag eingebrachten Anträge
zur »Förderung von Gedenkstätten zur
Diktaturgeschichte in Deutschland«
lassen erkennen, wohin die Entwicklung
gehen soll. Künftige Erinnerungskulturen
dürften demnach gekennzeichnet
sein durch eine »Entdifferenzierung
des Gedenkens«11 unter totalitarismustheoretischem
Vorzeichen. Die Erkenntnisse
über die Ursachen, die Kausalitäten,
die vollkommen unterschiedlichen
Dimensionen der Verbrechen,
letztendlich auch über die Präzedenzlosigkeit
der Shoah, werden, so steht
zu befürchten, im Gerede von der »doppelten
Diktatur« verloren gehen.
Dieser »Rhetorik der Plattitüden«
(Norbert Frei) entgegenzutreten, sollte
eines der zentralen Anliegen einer sich
antifaschistisch begreifenden Linken
sein. 60 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus
sind die Tendenzen,
die Erinnerung an die Opfer der Shoah
für vordergründige machtpolitische
Ziele entweder zu vereinnahmen oder
zu nivellieren, stärker denn je. Der
»abstrakte Radikalismus« (Klaus Theweleit)
einer Linken, die zwar vorgibt,
das Wissen um die Präzedenzlosigkeit
der Shoah zum Grundaxiom ihrer politischen
Praxis gemacht zu haben, in
Wirklichkeit mit diesem »Wissen« aber
lediglich szeneimmanente Identitätspolitik
betreibt, wird den geschilderten
Entwicklungen kaum Einhalt gebieten
können. Angesichts der Tatsache, dass
uns die letzten überlebenden Opfer des
Nationalsozialismus verlassen, ist es
umso dringlicher deren Erinnerungen,
Erlebnisse und Erfahrungen zu bewahren
und weiter zu erzählen. Eine Aufgabe,
die Empathie und Beharrlichkeit
erfordert, die sich verbalradikaler
Phrasendrescherei ebenso verschließen
muss, wie geschichtsblindem Aktionismus.
Diese Aufgabe mag mühselig sein
und alles andere als revolutionär. Für
eine Linke, die ihren Antifaschismus
nicht nur als Attitüde begreift, ist sie
jedoch unverzichtbar.
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?>
1| Vgl. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik.
Die
Anfänge der Bundesrepublik
und die NS-Vergangenheit,
München
1996.
2| Vgl. Hermann Lübbe,
Der Nationalsozialismus
im deutschen Nachkriegsbewusstsein,
in:
Historische Zeitschrift
236 (1983), S. 579-599.
3| Vgl. Ulrich Herbert,
Vernichtungspolitik.
Neue Antworten und
Fragen zur Geschichte
des »Holocaust«, in:
Ders. (Hg.), Nationalsozialistische
Vernichtungspolitik
1939-1945.
Neue Forschungen und
Kontroversen, Frankfurt/
M. 1998, S. 9-66,
hier S. 19.
4| Vgl. Alf Lüdtke, Die
Praxis von Herrschaft:
Zur Analyse von Hinnehmen
und Mitmachen im
deutschen Faschismus,
in: Brigitte Berlekamp/
Werner Röhr (Hg.): Terror,
Herrschaft und Alltag
im Nationalsozialismus.
Probleme einer Sozialgeschichte
des
deutschen Faschismus,
Münster 1995, S. 226-
245.
5| Vgl. Ulrich Herbert,
Der Historikerstreit. Politische,
wissenschaftliche,
biographische
Aspekte, in: Martin
Sabrow/Ralph
Jessen/Klaus Große
Kracht (Hg.), Zeitgeschichte
als Streitgeschichte.
Große Kontroversen
nach 1945, München
2003, S. 94-113,
hier S. 95.
6| Zitiert nach: Peter
Reichel, Politik mit der
Erinnerung. Gedächtnisorte
im Streit um die
nationalsozialistische
Vergangenheit, Frankfurt/
M. 1999, S. 240.
7| Zitiert nach: Ebenda.
8| Vgl. Ernst Nolte, Vergangenheit,
die nicht
vergehen will. Eine Rede
die geschrieben, aber
nicht gehalten werden
konnte, in: »Historikerstreit
«. Die Dokumentation
der Kontroverse um
die Einzigartigkeit der
nationalsozialistischen
Judenvernichtung, München
1987, S. 39-47,
hier S. 45.
9|Vgl. Viola Georgi, Entliehene
Erinnerung. Geschichtsbilder
junger Migranten
in Deutschland,
Hamburg 2003, S. 13.
10| Zitiert nach: Cornelia
Siebeck, Inszenierung
von Geschichte in der
»Berliner Republik«. Der
Umgang mit dem historisch-
symbolischen
Raum zwischen Reichstagsgebäude
und
Schlossplatz nach 1989,
in:WerkstattGeschichte
33 (2002), S. 45-58,
hier S. 50.
11| Vgl. Norbert Frei,
1945 und wir. Das Dritte
Reich im Bewusstsein
der Deutschen,
München 2005, S. 18.
include("../../includes/8.php");
?>